Buch lesen: «Die Dschihad Generation»

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Petra Ramsauer

DIE DSCHIHAD GENERATION

WIE DER APOKALYPTISCHE KULT DES ISLAMISCHEN STAATS EUROPA BEDROHT


Anmerkung: Bei Namen und Begriffen aus dem Arabischen wurde die in den Medien geläufigste Transkription gewählt, auch wenn diese nicht immer als „richtig“ im Sinne sprachwissenschaftlicher Vorgaben gilt. Bei den Namen von Betroffenen wird bei Minderjährigen immer nur der Vorname genannt. Bei Volljährigen wird der Familienname abgekürzt, der volle Name wird bei jenen genannt, die ob ihrer Taten als Personen des öffentlichen Interesses gelten.

ISBN 78-3-990-40384-6


Wien – Graz – Klagenfurt

© 2015 by Styria premium in der

Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Alle Rechte vorbehalten.

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Lektorat: Elisabeth Wagner

Covergestaltung: Bruno Wegscheider

Layout: Alfred Hoffmann

Coverfoto: IMAGO/​Xinhua

1. digitale Auflage:

Zeilenwert GmbH 2015

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

VORWORT

1. DSCHIHADMANIA

Warum Tausende europäische Jugendliche von der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ fasziniert sind

2. „MAMA, ICH BIN IN SYRIEN!“

Die Psychotricks des IS-Kults, seine Ideologie und wie die Rekrutierung der Fangemeinde läuft

3. APOKALYPSE NOW!

Wie der Krieg in Syrien den IS zu dem machte, was er ist: Dschihadisten-Großmacht mit Endzeitfantasie

4. ALLTAG IM ALBTRAUM

Realverfassung des Kalifats: Die Bürokratie des Terrors und der Krieg der Kämpfer

5. FRAUEN DER TAT

Die IS-Dschihadistinnen: Welche Rolle sie im Kalifat spielen und warum Europäerinnen so fasziniert sind

6. DIE PROPAGANDAKRIEGER

Das Internet als Terror-PR-Hochburg: Ein Österreicher und ein Deutscher erfinden den Pop-Dschihad

7. UNSICHTBARES TERRORNETZ

Wie der IS-Terror in Österreich, Deutschland und dem übrigen Europa Fuß fassen konnte und Einzeltäter zur größten Bedrohung werden

8. ORTE DER BEGEGNUNG

Gefängnisse sind Risikozonen weiterer Radikalisierung: Ein dänisches Modell zeigt Alternativen im Umgang mit Syrien-Rückkehrern auf

ANMERKUNGEN

Vorwort

Kurz bevor ich begonnen habe, diesen Text zu schreiben, hörte ich im Radio, dass die Miliz des Islamischen Staates in der syrischen Stadt Palmyra den hiesigen 82-jährigen Chefarchäologen exekutiert hat. Er wollte sie davon überzeugen, dass es ein Verbrechen wäre, die Kunstschätze dieser antiken Stadt zu zerstören. Der alte Mann wurde enthauptet und sein Torso ist jetzt an einen Pfahl im Zentrum der Stadt gebunden. Oft hatte ich in den vergangenen Monaten, während ich an diesem Buch gearbeitet habe und über den unfassbaren Horror las, ein Gefühl wie jetzt: Mein Herz rast und mein Atem stockt, weil ich es nicht fassen kann, wozu diese jungen Menschen fähig sind. Ich hoffe, ich kann Ihnen trotz meiner Fassungslosigkeit kompetente Antworten darauf liefern: warum diese Terrorgruppe nicht bloß massiven Zulauf von Jugendlichen aus Europa erhält, warum sie schon über ein Jahr ein Gebiet in der Größe von Großbritannien halten kann, welche Rolle apokalyptische Visionen spielen und vor allem, wie man das neu entstandene Terrorrisiko in den Griff bekommt. Vor allem geht es um Jugendliche, die sich von der abstrusen Welt des „Pop-Dschihadismus“ angezogen fühlen und nicht abgeschreckt werden von den unfassbaren Gräueltaten.

Heute ist auch der Todestag von Jim Foley, der ebenfalls brutal ermordet wurde. Schon deshalb, weil wir Journalisten auch direkt bedroht sind, ist dies ein sehr persönliches Buch. Es ist vor allem von meiner Wahrnehmung dieser Terrorgruppen von meinen Reisen nach Syrien, in den Irak, nach Libyen und zu den Hochburgen von Europas Dschihadisten geprägt. Um zu betonen, dass ich nicht ansatzweise den Anspruch stelle, die Wahrheit beschreiben zu können, sondern eben meine Wahrheit zu Papier gebracht habe, werden Sie häufig das Wort „ich“ lesen. Ich bin in erster Linie Reporterin und der zentrale Teil meines Berufes ist es, mitunter sehr komplizierte Zusammenhänge in lesbare Geschichten zu übersetzen. Der Konflikt in und um Syrien, eigentlich im gesamten Nahen Osten, und seine Folgen für den globalen Terror sind so unübersichtlich und bedrohlich geworden, dass viele davor zurückschrecken, sich noch mit dem Thema zu befassen. Deshalb habe ich dieses Buch behutsam geschrieben und wann immer ich es für möglich hielt, vereinfachte ich die Darstellung von Entwicklungen im Sinne dieser Lesbarkeit und Verständlichkeit. Es gibt zahlreiche Quellenangaben, die die Möglichkeit bieten, vertiefende Texte zu finden. Fast alle sind online abrufbar, die Aktualität der Links wurde vor Drucklegung überprüft (Stand August 2015).

Unser Umgang mit dem Phänomen des „Islamischen Staates“ samt seiner internationalen Terrormiliz ist noch so neu, dass heute nicht einmal ein Rohentwurf einer späteren Geschichtsschreibung vorliegt. Mit jedem Tag kommt eine Flut neuer Informationen dazu, und immer wieder gilt es, den Wissensstand anzupassen. Seit 1999 arbeite ich als Reporterin im Ausland, seit 2011 fast ausschließlich im arabischen Raum. Vor fast einem Vierteljahrhundert, 1992, habe ich meine Diplomarbeit im Fach Politikwissenschaft „Osama bin Ladens Terrorkrieg“ gewidmet. Damals gab es noch keine al-Kaida, „nur“ eine erste Generation von Gotteskriegern, die in Afghanistan kämpfte.

Seither arbeite ich vor allem als Journalistin immer wieder zu dem Thema. 2001 habe ich vom Krieg aus Afghanistan gegen die al-Kaida-Stellungen und die Taliban berichtet und recherchiere immer wieder in diesem Land. 2003 war ich im Süden des Irak, als die Invasion der USA und ihrer Verbündeten begann und Saddam Hussein gestürzt wurde. In den darauffolgenden Jahren habe ich vor Ort für mehr als ein Dutzend Reportagen recherchiert.

All dies fließt in dieses Buch ein, das hoffentlich trotz der vielen unfassbar schlimmen Details, die ich erwähnen muss, „verdaubar“ bleibt. Diese Details habe ich bewusst nicht ausgespart, denn die Wahrheit über das Unrecht, das diese Gruppe begeht, muss zumutbar sein. Schon aus Respekt vor den Opfern.

Wien, im August 2015

1.
DSCHIHADMANIA
WARUM TAUSENDE EUROPÄISCHE JUGENDLICHE VON DER TERRORMILIZ DES „ISLAMISCHEN STAATES“ FASZINIERT SIND

Über Syrien, vor allem über den „Islamischen Staat“ (IS), dessen Sympathisanten und Fans zu schreiben, führt mich als Journalistin und Autorin an viele Grenzen. Zuerst einmal an die Grenze des Erträglichen: Seit sechzehn Jahren recherchiere ich in Krisen- und Konfliktgebieten. So gut es geht, musste ich mich daran gewöhnen, nach Bombenanschlägen die Toten und Verwundeten zu sehen, mit Folteropfern zu reden, mit Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden. Mittlerweile kann ich dabei ruhig und empathisch bleiben und professionell als Reporterin agieren. In Syrien allerdings gab und gibt es Momente, in denen ich fast scheitere. Mit Ausbruch der Revolution 2011 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg setzte sich eine Spirale fürchterlicher Gewalt in Gang, die ich bei meinen Reisen in das Kriegsgebiet mit jeder neuen, horrenden Drehung erlebe. Menschen, die ich interviewte, sprachen nicht nur mit mir, manchmal brüllten sie mich an, etwa nach ziellosen Bombenangriffen auf die Stadt Aleppo durch die Armee von Baschar al-Assad. „Wie könnt ihr das zulassen? Wieso?“ Es waren Väter, die neben ihren eben getöteten Kindern standen, deren Blut in den Staub sickerte. Und ich stand daneben und zitterte. Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Weil ich eben noch die Kinder beim Spielen gesehen hatte, in Fußballdressen, lachend. Weil ich Angst hatte: vor der nächsten Bombe, vor den Insassen des nächsten Autos, die es vielleicht darauf angelegt hatten, mich zu entführen. Stück für Stück rückte ich selbst ins Visier. Journalisten gelten als „wertvolle Beute“ für die Terrormilizen. Lösegeld in zweistelligen Euromillionen sind sie wert. Oder sie werden brutal ermordet, dabei auf „IS“-Propagandavideos global vorgeführt.

Dieser Konflikt schien und scheint aussichtslos. Mit geradezu entfesselter Gewalt agieren in Syrien alle Konfliktparteien, besonders aber die Miliz des IS. Mit dem Elend als Nährboden wurde sie von einer von vielen Rebellenfraktionen zur globalen Terrorgroßmacht. Im Juni 2014 rief der Führer des IS das „Kalifat“ aus, das sich mit Stand Sommer 2015 – dem Redaktionsschluss dieses Buches – auf die Hälfte Syriens und weite Teile des Irak erstreckt. In der Region, die etwa die Größe Großbritanniens hat, leben etwa acht Millionen Menschen. Dazu schlossen sich in über zwanzig Ländern Terrorgruppen der Organisation an, gliederten sich dem „Kalifat“ ein. In Libyen hielt im Sommer 2015 eine „Filiale“ des IS mehrere Städte und regierte hier mit derselben Grausamkeit wie ihre Verbündeten in Syrien und im Irak. Wie brutal sie agieren, kann jeder und jede via Internet täglich mitverfolgen. Mit modernstem Equipment und Medien-Know-how werden Propagandafilme und Fotos produziert, die steinzeitliche Barbarei als Errungenschaft im Namen einer Religion vermarkten, Massenexekutionen zeigen und lächelnde „Gotteskrieger“, die stolz darauf sind, zu morden.

Dieses Material zu sichten bedeutet für mich, einen Blick in menschliche Abgründe zu tun. Die rituelle Tötung von Journalistenkollegen bekomme ich da vorgeführt. Oder Kreuzigungen. Kinder, wie sie die Leichen der Exekutierten auf den öffentlichen Plätzen anstarren. Den blutenden Stumpf einer amputierten Hand eines Diebes, der Rest des Armes noch in einen azurblau lackierten Schraubstock gezwängt. Ein Maschinengewehr, das eine Frau stolz neben ihr Baby in den Kinderwagen legt, die ersten Betonklötze, die während einer Steinigung auf eine Frau geschleudert werden. Ihre Schreie.

„Das Fürchterlichste, was bisher geschehen ist, war diese Steinigung“, erzählte mir ein junger Mann, der in der Hauptstadt des Kalifats, der syrischen Stadt Raqqa, lebt und mir unter Lebensgefahr half, die Hintergründe solcher Videos zu verstehen: „Eine Frau namens Fadda soll ihrem Mann untreu gewesen sein. Sie haben sie auf einen Platz in der Nähe des Sportstadions gezerrt. Ein Mann las das Urteil vor: Nach den Gesetzen Gottes müsse diese Ehebrecherin gesteinigt werden. Mit einem Lastwagen brachten sie schwere Steine. Viele waren da. Hundert oder so. Aber von den Menschen aus Raqqa nahm niemand einen Stein. Da brüllten die Milizen herum. Aber die Leute rührten sich nicht. Nur die ausländischen Kämpfer griffen zu. Sie lachten, als sie die Steine warfen. Mein Freund Mohammed war dort. Wie Tiere, sagte er, hätten sie sich benommen. Und er sei starr geworden. Er habe sich gefühlt, wie wenn seine Organe zu Eisklumpen geworden wären. An diesem Abend war es heiß, 40 Grad. Aber Mohammed glaubte zu erfrieren.“1

Wie der Mann betonte, zählen zu den besonders brutalen Mitgliedern der Miliz Jugendliche, die aus Europa nach Syrien und den Irak ziehen, um sich als folternde und kaltblütige Gotteskrieger zu profilieren. Seine Beobachtung deckt sich mit vielen anderen Augenzeugenberichten. Und so stoße ich hier an meine nächste Grenze: Es ist schlicht unfassbar, warum sie das tun: Wieso stürzen sich junge Europäer in Kampfmontur auf wehrlose Menschen, werden zu Selbstmordbombern in irakischen Städten und verschlimmern damit das Leid in der Krisenregion, treiben noch mehr Menschen in die Flucht? „Hier in Europa geboren zu sein kommt einem Lottosechser gleich“, betont Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary, der in einem Buch Schicksale von Flüchtlingen aufzeichnete, die versuchen, in klapprigen Booten übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen.2 Viele stammen aus Syrien, von wo laut Angaben der Vereinten Nationen im Sommer 2015 bereits die Hälfte der Bevölkerung im In- und Ausland auf der Flucht war. So wie Husam, ein Teenager aus Raqqa. Er würde Karim El-Gawharys Aussage, wie Millionen andere Menschen, sofort unterschreiben. Drei seiner Finger wurden von Schergen des IS amputiert, weil er eine Zigarette geraucht hatte. Husam gelang die Flucht nach Österreich und dann in Wien in einer Wohngemeinschaft unterzukommen. Hier zu sein nennt Husam „Glück“. Andere Jugendliche, die in demselben Wien leben – oder leben könnten –, werfen dieses „Glück“ weg, verbrennen ihren EU-Pass und machen daraus ein weiteres der unzähligen IS-Propagandavideos.

Dies tat im März 2013 auch der damals 28-jährige Mohammed Mahmoud. Er zündete seinen Pass an und quasselte dazu wilde Terrordrohungen in die Kamera. Er ist in Österreich geboren und aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Ägypten. Seit dem Sommer 2014 dürfte er in der Hauptstadt des Terrorstaates für Propaganda in Europa zuständig sein. Bereits 2007 war er in Österreich als Drahtzieher der „Globalen Islamischen Medienfront“ verurteilt worden. Schon damals hatte er sich als PR-Mann in Sachen Terror positioniert und dürfte seine Zeit im Gefängnis dazu genutzt haben, am Konzept globaler PR-Offensiven zu arbeiten. Im vierten Kapitel dieses Buches analysiere ich, warum er so „erfolgreich“ sein konnte und wie er zu einer der führenden Figuren des IS wurde.

DAS PHÄNOMEN DES POP-DSCHIHADISMUS

Möglicherweise ist es ein grundlegender Fehler, „nur“ wegen der Terrorbedrohung durch den IS vor Figuren wie diesem Mohammed in Panik zu geraten. Tausende Europäer und Europäerinnen haben sich der Gruppe angeschlossen. Hunderte kehren und kehrten bereits zurück: Das macht Angst. Aber ebenso gefährlich scheint es zu sein, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Zehntausende mehr oder weniger heimlich mit der Gruppe solidarisieren und mitten in Europa Pläne schmieden, den „Heiligen Krieg“ – den Dschihad – hier auszutragen.

Dieser Begriff kursiert mittlerweile geradezu inflationär in der Alltagssprache, wobei ihn viele Muslime ganz anders verwenden würden. Vereinfacht lässt sich Dschihad folgendermaßen definieren: Im islamischen Religionsverständnis gibt es den „großen“ und den „kleinen Dschihad“. Dabei bezeichnet der „große Dschihad“ den inneren Kampf eines Menschen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, sich gegen Verlockungen zu wehren, die einen von einem tugendhaften Weg abbringen. Mit dem „kleinen Dschihad“ ist der bewaffnete Kampf gemeint, der unter bestimmten, in islamischen Rechtsquellen sehr klar definierten Voraussetzungen zur Verteidigung von Muslimen geführt werden darf. Den Krieg, den der IS führt, würde deshalb kaum ein Muslim als „legitimen Dschihad“ bezeichnen.

Der Begriff hat sich aber verselbstständigt und beschreibt als „Dschihadismus“ eine Strömung des ultrakonservativen Islam, die jegliche Abweichungen von ihrer strengen dogmatischen Lehre als Blasphemie verurteilt, die Welt in Schwarz und Weiß einteilt und sich mit ihr im Kriegszustand befindet. Das Feindbild sind die „Kuffar“ – die „Ungläubigen“. Es ist ein Wort, das in vielen Statements von IS-Anhängern vorkommt und zentral deren Ideologie beschreibt. Es ist ein Weltbild, das von so viel Gewaltbereitschaft, Hass und Fanatismus geprägt ist, dass selbst die berüchtigte Terrororganisation „al-Kaida“, aus deren Reihen die Gruppe hervorging, sich von ihr lossagte.

Doch der IS ist schon lange mehr als nur eine weitere Terrorgruppe. Es ist ein Staat, eine Ideologie und zu einem beträchtlichen Teil eine Protestbewegung von Jugendlichen. Er hat ein Paralleluniversum aufgebaut – vor allem online. Die Gruppe verfügt über ein eigenes Branding und Merchandising. Ihre Insignien werden zum Logo, das auf T-Shirts, Kaffeetassen und Baseballmützen prangt. Wichtige Werbeträger der Bewegung, quasi ihre Ikonen, sind die ausgereisten europäischen Dschihadisten, besonders Frauen, die sich dem IS anschließen. Nur warum scheint es für viele Jugendliche, die in Europa aufgewachsen sind, trendig, sich mit den Codes einer Terrorgruppe zu schmücken, die Menschen quält, ermordet und brutal erniedrigt?

Als ich begonnen habe, an diesem Buch zu schreiben, hat sich vermutlich fast jeder irgendwann einmal diese Frage gestellt. In Österreich sorgten damals, im Frühling 2014, die Abschiedsbriefe der beiden sogenannten „Dschihad-Bräute“ für Aufregung: „Sucht nicht nach uns. Wir dienen Allah und werden für ihn sterben.“ Diese Worte hinterließen die 16-jährige Samra und die 15-jährige Sabina3 ihren Eltern und machten sich aus Wien gen Syrien auf. Die Fotos der Schülerinnen kursierten weltweit: in westlicher Kleidung mit langen offenen Haaren. Lebensfroh, modern, fröhlich. Sie waren vielleicht nur zwei Mädchen, die sich in eine Idee verrannt hatten, sich dabei selbst überholten und nicht mehr den Weg zurück fanden. Anhaltspunkte wie das Geschmiere von „I love al-Kaida“-Slogans auf die Wände der Klassenzimmer hatten wenige Monate zuvor den Schuldirektor ihrer Schule auf den Plan gerufen. Gespräche mit Eltern, Versuche, sie zu disziplinieren, halfen nicht. Vielleicht war es nur eine hochgradige pubertäre Verirrung. Nur ändern solche Motive nichts daran, dass sie zur Avantgarde einer gefährlichen Bewegung hochstilisiert wurden.

Viel hatte die PR-Abteilung des IS nicht zu tun, um aus ihnen Ikonen zu machen. Da halfen viele westliche Medien unfreiwillig, aber tatkräftig mit. In großen Lettern und mit ganzseitigen Fotos wurde die äußere Metamorphose der Teenager – aus den Slim-fit-Jeans in den schwarzen Umhang, der Niqab – illustriert. Es wurde und wird übersehen, dass solche Geschichten nicht nur empört rezipiert werden, sondern von manchen Lesern – und vor allem Leserinnen – als Bestätigung einer Ideologie verstanden werden. Jede unreflektierte Schlagzeile, jedes Titelbild aus den Archiven des IS verstärkt deren Botschaft. Es sei so vor allem eine Form der Jugend-Protestbewegung geworden: „Der Punk des 21. Jahrhunderts trägt eine Niqab“, sagt Olivier Roy, Professor an der Universität Florenz und Autor zahlreicher Bücher zu islamistischem Extremismus. Er will das Phänomen IS nicht vorrangig als religiösen Wahn, sondern als neuen Kult definieren: „Die Fans haben ihre eigene Ausdrucksweise, einen eigenen Dresscode.“ Maßgeblich sei dabei das Image: „Sie wollen Helden sein, darum ist die Darstellung ihrer Vertreter in den Medien besonders brisant.“4

Jene, die nach Syrien ausreisen, werden so zum doppelten Problemfall: Die Verrohung durch den Alltag im IS, die Ausbildung zu Terrorkämpfern kann selbst aus harmlosen, sozialromantischen Verirrten indoktrinierte Extremisten machen, die nach ihrer Rückkehr ein gewaltiges Risiko darstellen. Die pausenlose Selbstdarstellung in Heldenpose nährt dazu einen Mythos und wird zur Werbesendung für die Gruppe. Anders als die „al-Kaida“, die sich als elitäre Vorhut empfand, will der IS eine Massenbewegung sein. Die Faszination der Gegenkultur des Dschihad sei ein viel größeres Problem, als man vermuten würde, betont Nazir Afzal. Der ehemalige britische Staatsanwalt ortet eine regelrechte „Dschihadmania“: „Buben wollen so sein wie die IS-Kämpfer, genauso wie die Mädchen. Sie bauen ein Image auf, das sie wie ein Magnet anzieht, glamourös erscheint.“ Dabei sei die Realität eine gänzlich andere: „Es sind narzisstische mordlüsterne Cowboys. Dieses Bild sollten wir in der Öffentlichkeit vermitteln, nicht jenes von Popidolen.“5

Diese Forderung zeigt mir wieder eine Grenze auf: Ein Buch über die Fans des IS zu schreiben darf der Gruppe kein Forum bieten. Deshalb wird man hier vergebens nach unreflektiert übernommenen Schilderungen von „Gotteskriegern“ und „Dschihadisten-Bräuten“ suchen und ich werde auch das Material von ausführlichen journalistischen Berichten, die in Kooperation mit dem IS entstanden, nicht als Quelle verwenden. Vielmehr soll dieses Buch helfen, die Bewegung zu „entzaubern“, und den Horror, für den sie steht, offenlegen. Ihre Anhänger sollen als das gezeigt werden, was sie sind: gestrandete Existenzen. Jugendliche in Europa, die meinen, dort ihr Glück zu finden, müssen daran erinnert werden, mit wem sie gemeinsame Sache machen. Nicht mit glorifizierten Märtyrern, sondern mit Menschen, die ihre Widersacher kreuzigen; mit Männern wie Seifeddine Rezgui, der im tunesischen Badeort Sousse am 26. Juni 2015 mit einem Maschinengewehr 38 europäische Touristen eiskalt erschoss. Am Strand. Beim Baden. In der Sonnenliege.

Dem IS geht es längst nicht mehr darum, im Bürgerkriegsland Syrien und im chronisch instabilen Irak als neue Ordnungsmacht zu reüssieren oder die Utopie eines „Kalifats“, eines transnationalen Staates aller Muslime, zu realisieren. Es geht um die Errichtung einer Ordnung, die auf roher Gewalt basiert und den Rest der Welt terrorisiert. So rief Abu Mohammed al-Adnani, der Sprecher des IS, im Herbst 2015 „alle Muslime im Westen dazu auf, einen Ungläubigen zu finden und seinen Schädel mit einem Stein zu zertrümmern, ihn mit dem Auto zu überfahren, seine Ernte zu vernichten“.6 Jugendliche wie die jungen Wienerinnen Sabina und Samra glaubten in einer Gedankenwelt, wie sie Adnani vertritt, eine neue Heimat zu finden. Warum das möglich war, darum geht es vorrangig in diesem Buch. Oder wie aus einem jungen Mann, wie dem 26-jährigen Mohammed Emwazi, ein graduierter IT-Experte, der in geordneten Verhältnissen am Stadtrand Londons groß wurde, ein sadistischer Mörder wurde, das als „Jihadi John“ bekannt ist. Er sorgte dafür, dass dieses Thema mich auch an eine Grenze meines Berufes führt: Kann ich angesichts der Bedrohung durch den IS in den Regionen, wo meine Berichterstattung vor Ort am wichtigsten wäre, etwa in Syrien, noch weiterarbeiten?

Der amerikanische Journalist Jim Foley wurde von Mohammed Emwazi am 19. August 2014 enthauptet. Ich kannte ihn, ebenso die anderen Journalisten – Kenji Goto und Steven Sotloff –, die ebenso brutal getötet wurden. Steven wurde im Sommer 2014 direkt an der türkisch-syrischen Grenze entführt. Ich hatte damals nur wenige Tage vor ihm die gleiche Route genommen. Er war mit jenen Übersetzern unterwegs, mit denen ich kurz vor seiner Entführung zusammengearbeitet hatte. Um illegal nach Syrien zu gelangen, in die von Rebellen gehaltenen Territorien, ist man auf die Hilfe solcher „Übersetzer“ angewiesen. Geht etwas schief, stehen die Chancen auf Rettung gleich null. Es war Zufall, dass er und nicht ich in die Hände der IS-Miliz geraten war.

Fast dreißig Reporter waren Mitte 2014 in der Gewalt des IS. Aus Beobachtern des Konfliktes wurden Akteure. „Eine Nachricht an Amerika“ nannte der IS das Video über die Hinrichtung Jim Foleys. Er trug eine orange Uniform wie die Häftlinge aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo. Sein Tod wurde als Racheakt auf den damals eben begonnenen Luftkrieg durch die USA und seine Alliierten gegen Stellungen des IS inszeniert. „Ich starb an dem Tag, als deine Kollegen begannen, Bomben abzuwerfen“, wurde er gezwungen zu sagen, adressiert an seinen Bruder, der US-Soldat ist. „Ihr bekämpft nicht länger einen Aufstand. Ihr bekämpft eine islamische Armee“, verkündete sein schwarz gekleideter Henker Mohammed Emwazi, bevor er begann, Jims Kopf abzutrennen.

Es waren stumpfe Klingen, die – wie immer im IS – bei den Enthauptungen verwendet werden: „Um den Schmerz zu erhöhen“, gab ein von einer kurdischen Miliz gefangen genommener IS-Kämpfer zu Protokoll. Zuvor würde die Hinrichtung in zahlreichen Scheinexekutionen mit den Gefangenen „geprobt“, wie ein Mann namens „Saleh“, der sich in die Türkei abgesetzt hatte, erzählt.7 Er behauptet, bei mehreren Videos von Enthauptungen im Hintergrund mitgewirkt zu haben. „Die Geiseln wirken auf den Videos alle so ruhig, weil sie glauben, es würde sich nur um die Drohung einer Exekution handeln“, so „Saleh“. Ein anderer Augenzeuge, der sich „Adnan“ nennt und vor seiner Flucht beim IS Gefängniswärter war, erlebte dies bei einem Häftling: „Die Kämpfer haben wieder und wieder Kinder kommen lassen, die eine Pistole an seinen Kopf richteten und abdrückten. Es wiederholte sich jeden Tag. Immer filmten sie mit. Die Pistole war nie geladen. Bis auf den letzten Tag seines Lebens.“8

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