Buch lesen: «Peregrinatio Compostellana anno 1654»
Peter Lindenthal
PEREGRINATIO
COMPOSTELLANA
anno 1654
Die abenteuerliche Pilgerreise
des Christoph Guntzinger
von Wiener Neustadt nach Santiago,
wiederentdeckt von
Peter Lindenthal
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Fotos: Peter Lindenthal
Lektorat: Mag. Silvia Greber
Karten: KGS Kartographie und Grafik Schlaich, Geislingen
Lithografie: AS-Design, Imst
Druck und Bindung: Gorenjski-Tisk, Kranj (Slowenien)
ISBN 978-3-7022-3303-7 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3313-6 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALTSVERZEICHNIS
Über das Pilgern
Pilgern, Reisen und Wallfahren im 17. Jahrhundert
Das Projekt Guntzinger
Christoph Guntzingers Pilgerreise nach Santiago de Compostela im Jahre 1654/55
Verzeichnis der Hinreise von Wiener Neustadt in Österreich nach St. Jakob im spanischen Land Galicien
Erster Abschnitt: Österreich
Zweiter Abschnitt: Italien
Dritter Abschnitt: Spanien
Verzeichnis der Rückreise von St. Jakob
Erster Abschnitt: Spanien
Zweiter Abschnitt: Frankreich
Dritter Abschnitt: Schweiz
Vierter Abschnitt: Deutschland
Fünfter Abschnitt: Österreich
Schlusswort
Und er sandte sie aus mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen. Er sagte zu ihnen: Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd. Bleibt in dem Haus, in dem ihr einkehrt, bis ihr den Ort wieder verlasst. Wenn euch aber die Leute in einer Stadt nicht aufnehmen wollen, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen, zum Zeugnis gegen sie.
Lukasevangelium 9,2–5
ÜBER DAS PILGERN
GEDANKEN ZU EINER MODEERSCHEINUNG
Pilgern ist mit großer Wahrscheinlichkeit das zur Zeit am inflationärsten verwendete Wort. Ganz abgesehen davon, dass die Menschen ins Fußballstadion, ins Einkaufszentrum, ins Konzert eines Superstars etc. „pilgern“, pilgert man jetzt sogar „wirklich“, und zwar hauptsächlich nach Santiago de Compostela. (Heute ist man fast schon out, wenn man NICHT den Jakobsweg „gemacht“ hat.)
Aber was ist eigentlich das Pilgern? Sind alle, die jetzt in Massen den Jakobsweg bevölkern, wirklich Pilger? Die meisten sagen ja. Denn sobald sich jemand selbst als Pilger bezeichnet, ist er oder sie es auch. Niemand hat das Recht oder die Macht, den Begriff „pilgern“ für alle allgemeingültig und verbindlich zu definieren, das macht jeder selbst. Für mich ist die Eigendefinition als einziges Kriterium zu einfach, zu oberflächlich, zu beliebig. Alleine wenn man das Wort „peregrinus“ – davon leitet sich der Begriff Pilger ab – näher betrachtet, sieht man, dass „pilgern“ doch viel, viel mehr ist.
Im Wort, lateinisch für „der Fremde“, sind die Worte „per“ und „ager“ verborgen. „Ager“ wird mit Acker bzw. Scholle übersetzt, bis vor kurzem auch im Deutschen ein Synonym für „Heimat“. Es stammt aus einer Zeit, als unsere Gesellschaft noch vorwiegend bäuerlich war. Der Fremde, der „peregrinus“, ist also jener, der die Sicherheit und Geborgenheit seiner Heimat aus welchen Gründen immer hinter sich lässt.
Zu Zeiten des Römischen Imperiums bedeutete dies, das Gebiet zu verlassen, in dem man alle Rechte eines römischen Bürgers genoss. Man wurde zum Fremden, dessen Überleben vom guten Willen, von der Gnade, von der Gastfreundschaft derjenigen abhing, denen der „peregrinus“ auf seiner Reise begegnete. Richtet man nun den Blick auf den Begriff im christlich-religiösen Zusammenhang, auf die ersten Pilger des Christentums – das waren Jesus selbst, seine Jünger (siehe Lukas 9,2–5) und, für uns Europäer besonders interessant, die irischen Wandermönche des frühen Mittelalters –, stoßen wir wieder auf den „Fremden“, diesmal in einem spirituellen, religiösen Kontext.
Die Iren kannten drei Arten des Martyriums, das rote, das weiße und das grüne. Das rote bedeutet, man gibt sein Leben für seinen Glauben. Das weiße Martyrium bedeutet, dass man zum Einsiedler wird, um in der Einsamkeit und Askese Gott näher zu kommen. Das grüne Martyrium bedeutet, dass man, mit dem gleichen Ziel, seine geliebte Heimat, die grüne Insel, verlässt, zum „peregrinus“ wird. Der „peregrinus“ im christlichen Sinne ist also jemand, der aus Gründen des Glaubens freiwillig DIE MÜHSAL DES FREMDSEINS auf sich nimmt.
Die Übersetzung dieses Fremdseins ins 21. Jahrhundert ergibt eine zeitgemäße Definition für das Pilgern. Für mich sind es folgende Aspekte, wo ich „fremd“ werden kann:
Fremd in einer Welt der Beschleunigung und der Geschwindigkeit
Ich gehe konsequent zu Fuß, auch wenn es mir manchmal schwerfällt. In bestimmten Situationen ist ein Bus/Taxi/Autostopp natürlich gut, hilfreich und sicherlich nicht weniger „unpilgerlich“. Aber ich steige nicht bei der ersten Schwierigkeit, Müdigkeit in den nächsten Bus, ich plane vor allem die Benützung von motorischen Untersätzen nicht von vornherein in meine Pilgerreise ein. Jakobsweg per Fahrrad? Ist sicher eine schöne Tour, interessant und gesund, aber für einen Pilger bin ich zu schnell unterwegs. Bei vielen Naturvölkern gilt die Regel: Die Seele des Menschen kann sich maximal in Gehgeschwindigkeit (= 4 km/h) fortbewegen. Sind wir schneller unterwegs, bleibt unsere Seele verloren zurück …
Fremd in einer vom Überfluss geprägten Welt
Ich trage alles, was ich brauche, selbst auf meinem Rücken. Das zwingt mich zur – materiellen – Reduktion und hilft mir beim Erlernen des Unterschiedes zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Mit einem – immer beliebteren – Begleitfahrzeug, das das Gepäck transportiert und mich aufklaubt, wenn ich nicht mehr kann oder will, mache ich eine schöne Reise, aber bin kein Pilger.
Fremd in einer Welt des Luxus, der Übersättigung, der Bequemlichkeit
Ich akzeptiere auch karge, primitive, manchmal auch nicht besonders saubere Schlaflager, ich muss nicht jede Nacht im Hotel verbringen. Hin und wieder, als Belohnung, zu besonderen Anlässen, warum nicht? Und es ist nicht nur für die körperliche Hygiene gut.
Fremd in einer Welt des Sicherheitsdenkens, der Vollkaskomentalität
Ich lasse mich ein auf Neues, Unbekanntes, erwarte mir keine perfekte Wegmarkierung, bin bereit, immer wieder vorkommendes „In-die-Irre-Gehen“ als Teil des Pilgerns (wie auch des Lebens) zu akzeptieren, den Weg zu suchen, Fremde (!) zu fragen, um etwas zu bitten. Um ein Glas Wasser, um eine Wegauskunft, vielleicht sogar um einen Schlafplatz …
Und noch ein Fremdsein fällt mir ein:
Fremd in einer Zeit, in der die Unverbindlichkeit und die Beliebigkeit immer mehr zur Norm werden
Ich stecke mir ein Ziel, dessen Erreichung mir so wichtig ist, dass es mich die mit absoluter Sicherheit über mich hereinbrechenden Krisensituationen überwinden lässt und ich nicht gleich bei den ersten Hindernissen aufgebe. Und das weit genug entfernt ist, dass ich zu Fuß mindestens zwei Wochen unterwegs bin.
„Der Tourist fordert, der Pilger nimmt dankbar an.“
Je mehr es mir gelingt, diese Aspekte auf meiner Pilgerreise zu berücksichtigen, desto mehr habe ich auch von ihr und desto höher sind die Chancen, dass diese im Laufe der Zeit nicht zu einer schönen Erinnerung an einen exotischen Urlaub verblasst, mit schönen Photos und neuen Freunden. Und umso mehr gelingt es mir, frei zu werden, zum Wesentlichen vorzudringen, zu mir selbst und auch zu Gott. Und nur darum geht es beim Pilgern.
Auf dem Jakobsweg mit dem Auto unterwegs zu sein, mit einem Begleitfahrzeug, mit dem Mountainbike, mit dem Smartphone oder iPod am Ohr, mit der Hotelreservierung (incl. Halbpension) in der Tasche, im Laufschritt, nur mit Trinkflasche und Kreditkarte etc. ist sicher gesund, eine schöne Tour, eine tolle Reise. Und es soll um Himmels willen niemandem verboten werden. Aber man sollte es nicht mit „pilgern“ verwechseln!
All jenen, für die aus den verschiedensten Gründen eine Pilgerreise in diesem Sinne nicht möglich ist – Gesundheit, Alter usw. –, bleibt immer noch das „weiße“ Martyrium, das – ins 21. Jahrhundert übersetzt – für mich z. B. mehrwöchige Exerzitien sind. Ein vollwertiger „Ersatz“ für eine Pilgerreise, von gleichem spirituellem Wert und mit Sicherheit über das „Pilgern light“ zu stellen (Begleitfahrzeug, Hotel …).
Abschließend noch ein Gedanke zum Unterschied zwischen „Pilgern“ und „Wallfahren“.
Im Mittelalter bedeuteten beide dasselbe, heute würde ich sagen, dass Wallfahren meistens in einer größeren Gruppe stattfindet und die Anwesenheit und das Gebet am Wallfahrtsort wichtiger sind als die Art und Weise, wie ich hingelange. Während das Pilgern alleine mir die intensivsten Erfahrungen ermöglicht und der Weg zum Zielort – zu Fuß! – fast wichtiger ist als die Anwesenheit dort, ebenso wie auch die Dauer meiner Reise (unter zwei Wochen lieber nicht) zu Fuß eine wichtige Rolle spielt. Mindestens zwei Wochen deshalb, weil die Seele nach meiner Erfahrung diese Zeit braucht, um mich einzuholen, und so Körper und Seele in Einklang kommen kann.
Ich widme dieses Buch dem Projekt Europa und allen, die daran mitwirken. Mein Dank geht an Ursula, sie weiß schon wofür, und an meine Lektorin Silvia, die ihren vollen Terminkalender für dieses Projekt freischaufelte.
Peter Lindenthal
PILGERN, REISEN UND WALLFAHREN IM 17. JAHRHUNDERT
1654, fünfeinhalb Jahre nach dem Westfälischen Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) beendet hat, bereist Christoph Guntzinger ein Europa, in dem zwar wieder eine neue Ordnung (und so etwas wie Frieden) herrscht, wo aber die durch den blutigen Krieg zwischen Protestanten und Katholiken aufgerissenen Wunden noch lange nicht verheilt sind.
– Die katholische Kirche und der Habsburgerkaiser haben Macht eingebüßt, die deutschen Fürsten hingegen dazugewonnen (so bestimmen diese weiterhin die Religion ihrer Untertanen).
– Die Schweiz und die Republik der Vereinigten Niederlande scheiden aus dem deutschen Reichsverband aus. Die Niederlande werden zur führenden Handelsmacht, sie beherrschen zwei Drittel des Welthandels.
– Frankreich verzeichnet einen deutlichen Territorialgewinn (für Österreich schmerzlich vor allem die habsburgischen Gebiete des Elsass) und wird zur dominierenden Macht in Mitteleuropa (Stärkung des Absolutismus und damit der Stellung von Ludwig XIV.).
Guntzinger kommt auf seiner Rückreise durch vom Krieg schwer betroffene Regionen (Schweiz, Allgäu, Bayern …) und mehr als deutlich lässt er uns wissen, auf welcher Seite er als katholischer Priester steht. Dies uns vor Augen zu halten hilft uns vielleicht, nicht allzu streng über seine Weltsicht zu urteilen, sondern seine Wahrnehmungen als wertvollen, weil unmittelbaren, subjektiven und ehrlichen Kommentar zur Realität Europas im 17. Jahrhundert zu sehen.
Interessant, ja faszinierend ist sein aus heutiger Sicht enger Blick, den er auf Spanien wirft. Die historische Tatsache der Reconquista, des Kampfes gegen die arabische Besetzung der Iberischen Halbinsel, der ja doch fast acht Jahrhunderte dauerte und Spanien eigentlich bis heute prägt, wird praktisch verschwiegen. Zu seiner Zeit, 162 Jahre nach dem Fall Granadas (1492), war ja die arabisch-muslimische Kultur in Spanien mit Sicherheit noch sehr präsent, wenn wir bedenken, dass gerade 45 Jahre vor seiner Reise, also 1609, vor allem im Süden und Südosten Spaniens die gewaltsame Deportation von einigen Hundertausend Muslimen nach Nordafrika stattfand (übrigens ein gewaltiger Aderlass für die spanische Wirtschaft).
Titelblatt des 1655 erschienenen Pilgerbuches von Christoph Guntzinger
Was die Situation der Juden in Spanien betrifft, so werden sie nicht einmal erwähnt. Interessant, dass gerade im Jahr seiner Reise, 1654, die ersten spanischen jüdischen Flüchtlinge (Sepharden) in Neu-Amsterdam (dem heutigen New York) eintrafen.
Aber urteilen wir nicht zu hart über den österreichischen Prälaten, ein von seiner Zeit tief geprägtes Kind. Vielleicht lässt der Kommentar eines spanischen Zeitgenossen von Guntzinger über das Reisen im 17. Jahrhundert Verständnis oder gar (Hoch-)Achtung für ihn aufkommen …
Der spanische Klosterbruder Fray Martin Sarmiento schrieb im Jahr 1689 über das Reisen:
„… Montes, cuestas, precipicios, barrancas, pantanos, torrentes falsos vados falaces, puentes peligrosos, barras rotaso mal seguras, despoblados de todo viviente y vegetable, sin poderse guarecer, ni del sol, ni de las tempestades, ni de la lluvia, incertitumbre de los caminos en las encrucijadas, de las distancias de los lugares, y de sus nombres, del rumbo, de la hore, etc …
Aún falta más: fieras, salteadores, gitanos, ladrones, rateros avencinados, conocidos y tolerados, mesoneros, venteros, que son de la misma clase, escasez o falta de alimentos para las caballerias y personas, y la tirania de los precios, cuando los hay, y esos muy malos, falta de camas, y cuando las hay, ó siempre muy indignas, ó tal vez apestadas, y que siempre se han de pagar por buenas; falta de establo, … falta de oportunidad para oir Misa, falta de alimentos para hacer prevención, falta de herrador y albeitar.“
„… Gebirge, steile Hänge, Abgründe, Schluchten, Sümpfe, verräterische Wildbäche, trügerische Furten, gefährliche Brücken, kaputte oder unsichere Boote, menschenleere Landschaften ohne Vegetation, wo es keinen Schutz gibt, weder vor der Sonne, noch vor dem Unwetter, noch vor dem Regen, Ungewissheit des Weges an den Weggabelungen, der Entfernungen der Orte und ihrer Namen, der Richtung, der Zeit, etc. …
Aber das ist noch nicht alles: wilde Tiere, Straßenräuber, Zigeuner, Gauner und Diebe aus der Gegend, bekannt und toleriert, Wirte und Herbergsleute von der gleichen Sorte, Knappheit oder gänzliches Fehlen von Nahrungsmitteln für Reittiere und Personen, und die Tyrannei der Preise, wenn es doch welche gibt, und dann von schlechter Qualität; keine Betten, und wenn es doch welche gibt, entweder immer unwürdig, oder vielleicht stinkend, für die man aber immer bezahlen muss, als wären sie von guter Qualität; keine Ställe, keine Möglichkeit, zur Messe zu gehen, keine Lebensmittel zum Mitnehmen als Vorsorge, kein Hufschmied und kein Tierarzt.“
DAS PROJEKT GUNTZINGER
Auf die Pilgerreise von Christoph Guntzinger bin ich durch den Verlagsleiter der Tyrolia gestoßen, der mich auf einen Artikel aufmerksam machte, in dem von seinem Pilgerbericht, erschienen 1655, die Rede ist. Von den drei noch in Österreich existierenden Exemplaren befindet sich eines in der Nationalbibliothek, von dem ich mir bei der nächsten Gelegenheit eine komplette Photokopie machte. Zwei Dinge waren mir nach der ersten oberflächlichen Durchsicht sofort klar: Vor mir lag ein Bericht von unschätzbarem historischen Wert – und ich musste Guntzingers Reise unbedingt nachmachen! Bei der Rekonstruktion seiner Reiseroute wurde aber auch gleich klar, dass er zu über 80 Prozent das zu seiner Zeit vorhandene Straßennetz und nicht die klassischen Pilgerwege benützt hatte und großteils zu Pferd oder mit anderen Transportmitteln unterwegs war, nicht zu Fuß. (Sonst hätte er die Strecke von über 6000 Kilometern niemals in elf Monaten schaffen können.)
Er „hantelte“ sich sozusagen von Ortschaft zu Ortschaft vorwärts, indem er sich in den größeren Ortschaften nach Möglichkeiten erkundigte, sich einer Gruppe anzuschließen, mit der er dann die nächste Stadt erreichte. Reittier und Führer wurden bezahlt, oft waren auch Unterkunft und Verpflegung sowie etwaige Wegzölle schon im Preis inbegriffen. Offensichtlich war dies die damals übliche Art zu reisen. Er erwähnt übrigens äußerst selten explizit, wie er unterwegs war. Was er sehr wohl durchblicken lässt, ist die Tatsache, dass er einen Reiseführer benützt, zumindest für den spanischen Teil seiner Reise. Es ist der Führer „Itinerarium Hispaniae: oder Raiss-Beschreibung durch die Königreiche Hispanien und Portugal“ von Martin Zeiller (geb. am 17. April 1589 in der Steiermark, gest. am 6. Oktober 1661 in Ulm). Der Autor zahlreicher Werke war Historiker, Jurist – und Protestant (!!!). Die Gegenreform vertrieb ihn von Linz nach Ulm, wo er hochangesehen starb. Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, dass der glühende Katholik Guntzinger den Reiseführer eines „Ketzers“ benützte ...
Nachdem das Straßennetz seiner Zeit praktisch zur Gänze heute noch besteht, natürlich mit den Veränderungen, die der technische Fortschritt v. a. des 20. Jahrhunderts mit sich brachte (Verbreiterung, Begradigung, Asphaltierung), ist meine Wahl des Fortbewegungsmittels für mein Vorhaben doppelt begründet: Meine Reise ist keine Pilger-, sondern eine Forschungsreise, ich benütze also das heute auf Straßen übliche Fortbewegungsmittel, den PKW, und gehe nur dort zu Fuß, wo es immer noch möglich ist. Dafür nehme ich mir die Zeit, alle Orte, die in seinem Bericht erwähnt werden, genauer anzusehen und alles, was mir wissens- und berichtenswert erscheint, aufzuzeichnen, ergänzend zu Guntzingers Text.
2005 habe ich begonnen, 2010 war die letzte Etappe im „Kasten“. Ich legte etwa 20.000 Kilometer im Auto zurück und machte 1000 Photos. Zu Fuß war ich in Galicien, Asturien, Kantabrien und Gipuzkoa (die baskische Provinz mit der Hauptstadt San Sebastián) unterwegs, in Frankreich in den Landes und von Auch nach Toulouse (beides Südwestfrankreich) sowie kleinere Abschnitte zwischen Lyon und Genf.
In Österreich ging ich natürlich auf dem Winterweg von Mariazell nach Wiener Neustadt, immer noch als „Mariazeller Weg“ ausgeschildert, unverändert schön seit Guntzingers Zeit. Der Rest der gigantischen Reiseroute sind Straßen, manchmal sogar hochfrequentierte Fernverkehrsstraßen. Den Spuren des Prälaten zu folgen hat mich tief in Europa und seine Geschichte eintauchen und wunderbare Menschen, Landschaften, Dörfer und Städte entdecken lassen. Auch ein Blick auf die damaligen Lebens- und Reisebedingungen war mir vergönnt. Dieser Blick hat mir gezeigt, wie weit und wie tief unsere europäischen Wurzeln zurückreichen und wie glücklich wir uns schätzen können, heute am „Projekt Europa“ teilhaben zu dürfen.
Über den Menschen Guntzinger erfahren wir wenig, über seine Biographie weiß man nicht viel: Er wurde 1614 im Innviertel, nördlich von Salzburg, geboren und besuchte ab 1629 das Gymnasium in Graz, wo er auch Philosophie studierte. 1634 schloss er sein Studium mit dem Magistertitel ab. Sowohl Gymnasium als auch Universität wurden von Jesuiten geleitet, deshalb ist zu vermuten, dass er noch während des Studiums eine Priesterausbildung begann, weil er diese schon 1637 erfolgreich beendete. 1651, also mit 37 Jahren, wurde er Domherr (deshalb der Titel Prälat) in der Domkirche Wiener Neustadt – eine Stelle, die er, nur unterbrochen durch seine Pilgerreise, bis zu seinem Tod im Jahr 1673 innehaben sollte. Seine Pilgerreise begann Anfang März 1654 (er war also 40 Jahre alt) und endete am 24. Jänner 1655, nach 330 Tagen.
Da Guntzinger als Kind der Gegenreformation ein großer Marienverehrer war, war seine Reise gleichzeitig eine willkommene Gelegenheit, die wichtigsten Marienwallfahrtsorte Mitteleuropas zu besuchen. Dafür nahm er auch große Umwege auf sich.
Die Daten über Christoph Guntzinger entnahm ich dem Artikel „Zur Spiritualität im 17. Jahrhundert: Christoph Guntzingers Pilgerbericht nach Santiago de Compostela aus dem Jahr 1655“ von Gottfried Wendling.
Ich habe Guntzingers Text aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts nur so weit ins Deutsch des 21. Jahrhunderts übersetzt, als es für dessen Verständnis nötig war. Sein Stil und seine Ausdrucksweise wurden aber zum Zweck einer möglichst großen Authentizität nicht verändert, ebenso bestimmte Ausdrücke belassen, auch wenn sie heute nicht mehr gebräuchlich sind. Meine Erklärungen zu diesen Begriffen sind als Anmerkung in Klammer gesetzt.