Buch lesen: «Im grünen Raum von Saint-Leu»

Schriftart:

Peter Lenzyn

Im grünen Raum von Saint-Leu

Roman

mitteldeutscher verlag

Inhalt

Cover

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Dank

Impressum

1

Hélène ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Du hast ja Blut an den Händen.“

„Es ist meins.“

„Wieso sagst du das? Von wem soll es sonst sein?“

„Hélène, ich muss für einige Zeit verschwinden.“

„Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht alles, ich bin ziemlich schnell abgehauen.“

Ich machte das Radio an und hoffte auf Nachrichten. Aber es kam bloß Musik. Ich nahm den großen Rucksack und begann zu packen.

„Wo willst du hin?“, fragte Hélène.

„Zurück nach La Réunion.“

„Das ist weit weg.“

„Deshalb ja.“

„Ich werde dich nicht sehen.“

Ich zögerte mit der Antwort. „Vielleicht ist das gut so.“

„Für dich vielleicht.“

„Auch für dich.“

Im Radio kamen die Nachrichten. Ich setzte mich zu Hélène aufs Bett und hörte zu.

Verschiedene Augenzeugen kamen zu Wort und rekonstruierten den Hergang. Sie sagten, der Unfall wäre im Alma-Tunnel geschehen, der Mercedes hätte einen Pfeiler gerammt, wäre außer Kontrolle geraten; er hätte die Mauer am rechten Tunnelrand berührt und sich dann mehrfach überschlagen. Der Liebhaber und der Fahrer sollten sofort tot gewesen sein, der Leibwächter in einem Krankenhaus um sein Leben ringen … und die Prinzessin: sie wurde leblos im Heck gefunden, konnte aber wiederbelebt werden – das jedenfalls behauptete jemand.

Hélène schaute mich mit geweiteten Augen an.

„Ich konnte sie im Wrack sehen“, sagte ich, „sie lebte noch, sie schaute einen von uns an, sie nahm seine Hand und fragte ‚Was ist geschehen?‘“

„Hast du ihr geholfen?“

„Jemand anderes war bei ihr. Er sagte ‚Bleiben Sie ruhig, es war ein Unfall. Alles wird gut.‘ Ein Lichtstrahl wanderte über ihr Gesicht: Es war wirklich die Prinzessin.“

„Was hast du gemacht?“

„Ich stand einfach da.“

„Hast du Fotos gemacht?“

„Ich bin abgehauen.“

„Du hättest ihr helfen müssen.“

„Es gab andere. Ein Arzt war sofort da.“

„Haben die anderen Fotos gemacht?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und vorher? Hast du vorher Fotos gemacht?“

„Ja, natürlich, aber das ist meine Arbeit.“

„Weiß James davon?“

„Bestimmt wird er es längst erfahren haben. Alle wissen es.“

Es kamen erneut Nachrichten. Die Prinzessin war in einer Klinik auf dem linken Seine-Ufer. Nach Angaben der Ärzte litt sie unter einem schweren Schock, einer ernsthaften Verletzung der linken Herzkammer, inneren Blutungen und mehreren Knochenbrüchen.

Ich hatte das Notwendigste in den Rucksack gestopft und zog meine Lederjacke an. „Ich melde mich, wenn ich angekommen bin. Ich gebe dir meine neue Adresse durch, meine neue Telefonnummer.“

„Jetzt stiehlst du dich wirklich davon. Einfach so. Das ist doch aus einem anderen Grund. Das ist doch wegen Rambouillet.“

„Aber ich … du …“

„Wegen Rambouillet!“

„Wovon redest du?“

Hélène schüttelte den Kopf. „Du musst nicht gehen. Du hast nichts gemacht.“

„Das wird nicht jeder so sehen.“

„Das ist doch wirklich dein Blut, oder?“

„Ja.“

„Versprichst du mir das?“

„Ja.“

„Dann bleib hier!“

„Ich melde mich, wenn ich angekommen bin.“

Am Flughafen Charles de Gaulle erfuhr ich, dass die Prinzessin tot sei. Die Kriminalpolizei war eingeschaltet worden, die ersten Ermittlungen wurden aufgenommen, sieben Fotografen wurden in Gewahrsam genommen, nach zwei weiteren wurde gefahndet. Es ging um die Frage, ob der Fahrer des Mercedes von den Fotografen bedrängt wurde; auch hätten die Fotografen an der Unfallstelle fotografiert, statt Erste Hilfe zu leisten oder Hilfe zu rufen.

Ich überlegte, mich der Polizei zu stellen.

2

Ich habe im Alter von zehn bis vierzehn – also fast fünf Jahre – auf La Réunion gelebt. Wir hatten dort einen Nachbarn, über den ich sagen konnte, dass er – wann immer ich ihn sah – rauchte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, er blies und pustete Wolken in alle Richtungen, ich habe ihn nur einmal ohne Zigarette gesehen, das war, als er mich in seinem Helikopter mitnahm und mir La Réunion aus der Luft zeigte.

Er zeigte mir La Réunion, als ich vierzehn war und die Insel wieder verlassen wollte. Er tat das, weil er mich dazu bringen wollte, zu bleiben. Denn mit mir würde auch meine Mutter bleiben.

Ich hatte meiner Mutter gesagt, was ich von unserem Nachbarn und seinen vielen Zigaretten hielt. Der Gedanke, dass so einer den Platz meines Vaters einnähme, machte den Tod meines Vaters noch viel schlimmer.

Unser Nachbar war ein kleiner Mann, dessen dicker Bauch über der Gürtelschnalle hing; sein Gesicht leuchtete puterrot unter blondweißen Haaren; er trug eine Brille mit Gläsern, die sich abhängig von der Sonneneinstrahlung verdunkelten. Hinter diesen Gläsern wirkten seine Augen, als wären sie voller zu versteckender Geheimnisse. Er sprach recht offen über seine nicht funktionierende Ehe und seine beiden missratenen Kinder. „Sie haben mich sehr enttäuscht“, sagte er immer.

„Du kriegst meine Mutter nicht.“

Ich brachte meine Abneigung gegen unseren Nachbarn ziemlich unverhohlen zum Ausdruck. Er ließ aber trotzdem nicht davon ab, mich für sich gewinnen zu wollen.

Mit seinem Helikopter landete er in unserem Garten und wehte dabei zwei Plastikstühle in den Pool. „Willst du den Piton de la Fournaise sehen?“, fragte er mich, als ich eingestiegen war. Einige Minuten später flogen wir einen Kreis durch den dampfenden Krater des Piton de la Fournaise. „Willst du das Trou de Fer sehen?“ – und gleich darauf flogen wir eine Acht durch das Trou de Fer mit den drei Wasserfällen und den im Wassernebel leuchtenden Regenbögen. Wir flogen vom Cirque de Salazie in den Cirque de Cilaos und weiter in den Cirque de Mafate – über Dörfer, die auf hohen, von der Sonne angestrahlten Bergplateaus angesiedelt waren und von denen sich silbrig glänzende Serpentinenwege in alle Richtungen wegschlängelten; durch tiefe, dicht bewaldete, von Fledermausschwärmen bevölkerte Schluchten – und über hohe, kahle Bergspitzen oberhalb der Wolkendecke. Wir flogen die springend herabkommenden Bergflüsse hinauf; über sattgrüne Zuckerrohrfelder hinweg und entlang der Strände der Hermitage; das türkise Wasser der Lagune und – weit draußen – die weiße Schaumlinie der auf das Riff schlagenden Wellen.

Unser Nachbar flog mich wieder zurück, landete bei uns im Garten, sagte: „Du musst eine sehr wichtige Entscheidung treffen, ich hoffe, du triffst sie richtig“, hob mit seinem Helikopter ab und flog zum Golfplatz du Bassin Bleu, wo er sich für den Nachmittag für achtzehn Löcher verabredet hatte.

Meine Mutter redete auf mich ein. „Er bietet uns Garantien, finanzielle Sicherheit.“

„Das ist mir egal.“

„Wir können hierbleiben.“

„Das geht auch ohne den.“

„Das geht nicht, das musst du verstehen.“

Ich schüttelte angewidert den Kopf.

„Gut“, sagte sie, „ich hoffe, du wirst es nicht bereuen.“

Ich wusste nicht, wie schwer es nach den Jahren in La Réunion sein würde, sich an eine Welt zu gewöhnen, die kein Meer hat und in der es nicht das ganze Jahr hindurch warm ist. Und weil ich es nicht wusste, sagte ich: „Dann gehen wir wieder nach Paris.“

„Ich will nur, dass du glücklich bist“, sagte meine Mutter.

„Das will ich auch für dich.“ Ich war von meiner ausgedrückten Liebe zu meiner Mutter so überrascht, dass ich sie gleich zu überspielen versuchte. „Mit dem hätte ich dir das nämlich verdorben.“

Ich stellte mir vor, wie sich unser zigarettenrauchender Nachbar mit meiner Mutter in den Freiluftjacuzzi gesetzt und mit einer Flasche Champagner auf den Sonnenuntergang angestoßen hätte; auch hätte er die in unseren Pool gefallenen Kokosnüsse herausgefischt, ein Loch reingehackt, einen Strohhalm hineingesteckt und sie mir mit einem Augenzwinkern hinter den dunklen Gläsern gegeben. Und wenn wieder ein Zyklon durch unseren Garten gefegt und eine Palme umgelegt hätte, wäre er wieder mit einer Machete gekommen, hätte die Palme zerhackt, das Palmenherz herausgenommen und daraus einen Salat gemacht. Wir würden den Palmenherzsalat gemeinsam und in großer Trauer um den vom Zyklon umgewehten Baum essen – und bald würde der Mann erneut von seiner nicht funktionierenden Ehe sprechen und von seinen Kindern, die ihn wirklich schwer enttäuscht hätten.

Der Mann hatte sich in den ersten Wochen, die mein Vater tot war, von seiner besten Seite gezeigt, und da er mit seiner die Inseln von La Réunion, Mauritius und Mayotte beliefernden Offsetdruckerei sehr gut im Geschäft und also sehr vermögend war, stand er bei meiner Mutter hoch im Kurs. Es wäre nicht die schlechteste Wahl gewesen. Meine Mutter wäre mit mir auf La Réunion geblieben. Ich wäre mit Pierre-Yves, Guy und den anderen – vielleicht auch mit Abasse – weiter auf den Wellen von Roches Noires, Boucan Canot und Trois Bassins gesurft, ich hätte die Angst vor der Welle in Saint-Leu verloren und wäre sie mit größerer Regelmäßigkeit gesurft; ich hätte mein Abitur am Lycée Plateau Caillou gemacht, diesen Nachmittag mit Joëlle am Strand von Petit Boucan vergessen – und ich wäre mit einer hübschen, weißen Festlandfranzösin zusammengekommen. La Réunion hätte ich vielleicht noch einmal für den Militärdienst verlassen. Aber ich wollte unseren zigarettenrauchenden Nachbarn nicht bei uns im Haus haben.

Zwei Monate nach dem Tod meines Vaters ging es nach Paris. Wir nahmen ein großes Flugzeug von Air France. Es startete in Gillot, hob ab und drehte eine Kurve über dem Meer. Wie es also schräg in der Luft lag, konnte ich ein letztes Mal auf La Réunion schauen, die hohen, grünen Berge, die Steilküste mit den schwarzen Felsen, Saint-Denis mit seinen weißen Häusern, welche um den Barachois herum dicht an dicht standen, höher in den Bergen vereinzelt weiß leuchteten und sich bald in einer Schlucht verloren, entlang eines trockenen Flussbetts – ein letztes Haus dort irgendwo hingeworfen wie ein Würfel, mit dem man seinen Einsatz verwettet hat.

In Paris zogen wir in eine große Wohnung mit Dachterrasse in der Rue de l’Amiral de Joinville in Neuilly. Es war eine Wohnung, die der Familie meines Vaters gehörte. Sie wurde meiner Mutter unter der Bedingung gegeben, dass ich auf das Lycée Général „Louis Pasteur“ ging. „Eines der besten Vorbereitungsschulen“, sagte mein langhaariger Onkel, „Fundament meines eigenen Erfolgs.“

Von seinem Erfolg erzählte mir mein langhaariger Onkel öfter. „Den größten Coup habe ich in Courchevel gelandet – es war bitterkalt, beim Unterschreiben der Verträge mussten wir Handschuhe tragen.“

Mein Onkel war ein Mensch, der in Paris – und über Paris hinaus – etwas hergab; man konnte sagen, er war bekannt, denn er trat im Fernsehen auf. Immer wenn er das tat und sich zu einer anstehenden Firmenfusion äußerte, fanden wir uns vor dem Fernseher ein und schauten zu, wie er darüber sprach, ob durch diese Firmenfusion Werte geschaffen würden, ob Arbeitsplätze verloren gingen, es kartellrechtliche Bedenken gäbe, nationale Interessen berührt wären und so weiter. Da saß er im Fernsehen, seine tiefdunklen Augenringe mit einem Batzen brauner Farbe überspachtelt, seine hellgrauen Haare aus der Stirn gegelt und im Nacken zu Schwanenfedern aufgeplustert, und brummte präzise, scharfe Sätze ohne „Ähs“ und „Öhs“ hervor, Sätze, die in der Tagespresse intensiv diskutiert wurden und ihm anonyme Morddrohungen einheimsten, mit denen er dann herumprahlte. Mein Onkel wurde von der liberalen Gesellschaft Frankreichs gefeiert wie ein Seher, einer, der die Verhältnisse der französischen Wirtschaft vor allen anderen begriff – und wenn man von keinen Verhältnissen sprechen konnte, legte er sie mit ein paar im Fernsehen gebrummten Sätzen fest. Er hatte so eine besondere, überzeugende Präzisionsstimme, die tief und kraftvoll war und den Nippes auf den Kaffeetischen zum Hüpfen brachte. Und wie er es schaffte, für die gesamte Wirtschaft des Landes die Verhältnisse festzulegen, meinte er, es auch für meine Mutter und mich tun zu können.

Ich ging also auf das Lycée Général, kam in die Première und sah mich umgeben von Schülern, die sich messingpolierte Brieföffner zum Geburtstag wünschten, ihren Eltern eine Freude damit bereiteten, lange Abschnitte aus den Iliaden auswendig aufzusagen – und klare Ideen darüber hatten, was sie später mal werden wollten.

Als sie erfuhren, dass ich viele Jahre auf La Réunion gelebt hatte, wussten sie erst nicht, wo das war, und als sie von ihren Eltern hörten, dass das eine der französischen Inseln im Indischen Ozean wäre, schoben sie ganz hauptstädtisch hinterher, dass ich demnach aus dem Konfetti des Imperiums stammte.

Ich hatte ziemliche Anlaufschwierigkeiten. Meine Schulnoten waren schlecht, ich ließ mich hängen. Meine Mutter wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte, sie bestellte einen Nachhilfelehrer. Der Nachhilfelehrer roch so stark, dass ich es ihm sagte: „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich vor ihrem nächsten Besuch gründlich waschen würden, bitte auch unter den Achseln und an den Genitalien.“

Statt sich vor dem nächsten Besuch ordentlich zu waschen, warf der Nachhilfelehrer meiner Mutter vor, sie hätte mich überhaupt nicht erzogen und würde ihrer Verantwortung als elterliche Instanz nicht nachkommen. Er beendete sein Erscheinen bei uns mit dem Zuschlagen der Wohnungstür, welches, da es sich um eine schwere Altbautür handelte, einen ziemlichen Eindruck hinterließ.

Meine Mutter glaubte wirklich, sie würde sich hinsichtlich meiner Erziehung nicht verantwortungsvoll verhalten und machte sich allerhand Gedanken, wie sie mich für die Schule begeistern könnte.

Ich war wieder einmal mit einer schlechten Note nach Hause gekommen. „Sieben!“, sagte ich und warf mein Physikheft auf den Küchentisch. Meine Mutter schaute mich an, begann zu weinen und sagte: „Ach, tu mir das doch jetzt nicht an.“ Für einen Moment bekam ich Schuldgefühle, welche mich vielleicht dazu gebracht hätten, etwas für die Schule zu tun. Aber ich bemerkte, dass meine Mutter Zwiebeln schnitt, und auch sie bemerkte, dass ich es bemerkt hatte – es waren also die Zwiebeln, die sie zum Weinen brachten –, und dann fiel uns nichts Besseres ein als zu lachen; das Lachen krampfte sich in uns fest, meine Mutter konnte sich kaum noch halten, und dann rutschte ihr auch noch das Messer aus der Hand, es fiel herunter und rammte seine Spitze ins teure Teakparkett. Wir schauten auf das dort zitternd stehende Messer und verstanden es als Symbol der so strengen Familie meines Vaters – und dann lachten wir erst recht; wir lachten und lachten, uns rollten die Tränen die Wangen herunter, ach, das tat uns gut – es war ein kurzer Moment, für den wir befreit waren von diesem wahnsinnig ernsten Paris, diesen ganzen Menschen, die sich hinter Fehlerlosigkeit und Hochpräzision verschanzten und es willig hinnahmen, für ihre gute Stellung im Leben schlecht auszusehen.

Irgendwann hörten wir mit dem Lachen auf, das Physikheft mit der Sieben lag immer noch auf dem Küchentisch.

Ich brauchte wirklich sehr lange, um in mein Pariser Leben hineinzufinden. Dass es mir am Ende doch ein wenig gelang, verdanke ich meiner Kunstlehrerin, einer sehr jungen, aber auch sehr ernsten Frau, die mich zu fördern begann. Aber sie tat es auf eine sehr ungewöhnliche Art. Zum Beispiel bat sie mich, Jacopo Tintorettos Bild „Frau mit entblößtem Busen“ vor der ganzen Klasse zu interpretieren.

„Was siehst du?“, fragte sie.

„Ich … äh“, sagte ich.

„Ja?“

„Ich sehe eine Frau, die nach rechts guckt, also von mir aus nach rechts.“

„Nach rechts?“

„Ja … äh … nach rechts.“

„Und was siehst du noch?“

„Äh … sie trägt ein blaues Kleid … äh, ja … und sie hat … mmh … ziemlich dicke … äh ziemlich dicke … dicke … Hände.“

„Das ist richtig, manche sagen, es seien Männerhände. Wenn man die Zeit berücksichtigt, in der das Bild gemalt wurde, kann das durchaus stimmen. Was schließt du daraus?“

„Äh, woraus?“

„Daraus, dass es Männerhände sein könnten.“

„Äh, weiß nich.“

„Vielleicht könnte die Person, die Modell gestanden hat, ein Mann sein.“

„Äh … klar, ein Mann.“

„Ja.“

„Aber wenn das ein Mann ist, warum … äh … warum …?“

„Warum was?“

„Naja, also … äh … die Brüste.“

„Du meinst den entblößten Busen?“

„Äh … ja … die Brüste.“

Die ganze Klasse lachte.

Wer am lautesten lachte, musste mit der Interpretation des Bildes fortfahren. Wir stotterten uns durch die anzüglichen Bilder des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und die Kunstlehrerin tat so, als würde sie überhaupt nicht verstehen, warum wir einen roten Kopf bekamen.

Die Kunstlehrerin war fünf, höchstens sechs Jahre älter als ich. Sie hatte rotes, gewelltes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und eine weiße, glasige Haut, unter der blaue Äderchen schimmerten, dazu ein schmales Gesicht mit grünen Augen, festem Blick und einer spitzen, etwas schiefen Nase. Manchmal überkam sie ein Zittern oder Schaudern, als kämpfte sie um ein inneres Gleichgewicht oder als fröre sie, fühlte sich unbehaglich. Manchmal dachte ich, sie sei nervös; aber sie war nie nervös, im Gegenteil, von ihr ging immer etwas sehr Festes aus. Sie war klein, sehr schlank – ich überlegte, sie zu fragen, ob ich sie einmal hochheben dürfte, ich wollte wissen, wie leicht sie war, sie musste überaus leicht sein.

In der zweiten Jahreshälfte wechselten wir zur Kunst der Fotografie. Die Kunstlehrerin sprach vom Blick, den ein Fotograf hat. Sie wollte wissen, was für einen Blick wir hätten. Sie bat uns, zu bestimmten Themen Fotos zu machen – es waren Themen wie „Défense“, „Parks und Gärten“, „Champs Elysées“, „Warten“ und „Geschwindigkeit“. Ich bekam das Thema „Métro“. Ich sollte Fotos machen, die irgendetwas mit dem Thema „Métro“ zu tun hatten.

Da ich die Métro genauso wenig wie Paris als Stadt mochte, machte ich Fotos, die meine angewiderte Haltung zum Ausdruck brachten. Die Fotos zeigten schwarze Tunnelöffnungen, aus denen die Métro kam oder in denen sie verschwand. Einen Jongleur, der seine fallengelassenen Bälle wieder aufsammelte. Schilder mit aufgestellten Metallnadeln gegen die Tauben. Müll, der durch die Gänge an der Porte de la Chapelle flog. Eine im Schienenbett herumirrende Ratte. Eine Frau im verrutschten Minirock, die ihren zu Boden geschlagenen Freund umarmte und dabei weinte.

Die Kunstlehrerin beschäftigte sich mit meinen Fotos und erläuterte sie vor der Klasse. Sie sprach von der Abwendung von der Welt und der Suche nach einer neuen, sie sprach von Grenzen – verbotenen Zonen, gefährlichen Zonen – wer in sie hineintritt, erhofft sich etwas von ihnen … die Erfüllung von Sehnsüchten, eine Idee, erlösenden Tod oder belebenden Schmerz.

Ich wusste nicht genau, wovon sie sprach, das Meiste davon klang ziemlich albern. Immer wieder sagte sie: „Du hast einen besonderen Blick“, oder: „Dein Blick – so etwas ist sehr selten.“

Sie gab mir eine Neunzehn. Das war die beste Note, die sie in dem Jahr vergab. Diese Neunzehn machte meine Mutter sehr glücklich, auch wenn sie meine Fotos etwas morbide und die Kunstlehrerin ziemlich durchgeknallt fand.

Der Kunstunterricht bekam mit der Farbenlehre einen neuen Schwerpunkt. Wir besprachen Farben aus naturwissenschaftlicher Sicht und kamen zur Farbmetrik. Wir wechselten zu künstlerisch-ästhetischen Sichtweisen von Leonardo da Vinci und George Seurat und erfuhren, welche Farbtöne als kalt oder warm zu verstehen waren. Die Kunstlehrerin forderte uns auf, unserem eigenen Empfinden nachzugehen, wir schauten uns Dias an, die Farbtöne zeigten, und dann ging es darum, zu jedem Farbton etwas zu sagen.

„Dieses Gelb ist der Triumph des Hellen über das Dunkle, es ist warm, von ihm geht Signalwirkung aus, es will aufmerksam machen und warnen.“

„Dieses Rot ist das Rot des Blutes, es ist mit Leben verknüpft, es bedeutet Energie und Wärme, Freude und Leidenschaft, Liebe und Erotik, aber auch Aggression und Zorn.“

„Dieses Blau ist kalt und tief, es ist weit und klar, es vermittelt Sehnsucht, Beständigkeit, Harmonie und Zufriedenheit. Es ist das Blau des Meers.“

„Das Meer ist schwarz.“

Alle schauten zu mir herüber, auch die Kunstlehrerin. Ich war von der ziemlichen Bestimmtheit, mit der ich das sagte, selbst ein wenig überrascht. Aber ich sagte es noch einmal. „Das Meer ist schwarz.“

Die Kunstlehrerin nannte den Blauton. Es war Ultramarinblau. Ultramarin. Sie fühlte sich bestätigt.

„Was wissen Sie denn vom Meer?“, fragte ich.

„Die Farbe des Meeres spiegelt die Farbe des Himmels wider“, sagte sie. „Ist der Himmel blau, ist das Meer blau. Ist der Himmel grau, ist das Meer grau. Das Meer kann also auch grau sein. Aber schwarz? Nun ja, manchmal ist auch der Himmel schwarz.“

Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Aber wir reden doch vom Meer, nicht vom Himmel.“

Und dann erklärte ich: „Sie haben ja recht, das Meer ist blau. Und es ist türkis, und es ist grün – für den, der am Strand sitzt und rausschaut, wer im Wasser plantscht, wer aus dem Flugzeug schaut, wer in Reisekatalogen blättert und in die Sonne will, auch für den. Aber wenn Sie weit draußen auf offener See schwimmen, dort, wo die Fische nicht bunt und klein sind und wie Spielzeug aussehen, sondern grau und groß. Wenn Sie dort in den hohen Wellen schwimmen, in denen Sie Wasser schlucken und um Hilfe schreien, dann ist das Meer schwarz, und es wird für Sie immer schwarz sein.“

Die Kunstlehrerin hörte mir zu. Die ganze Klasse hörte mir zu.

„Das Wesen des Meers ist schwarz“, sagte ich, „und wer das nicht weiß, der unterschätzt es.“

Es gongte zur Pause.

Die Kunstlehrerin war nicht so hilflos wie meine Mutter oder die neuen Freundinnen meiner Mutter, die einen kleinen Hund mit großen Augen in der Jackentasche hatten und gegenüber ihren Hausangestellten klein beigaben. Obwohl die Kunstlehrerin jung war, strahlte sie einen solitären Autoritätsanspruch aus und wusste sich gegenüber uns Schülern durchzusetzen. Ich erwartete, dass sie mich zur Rede stellte; wie ich denn dazu käme, ihr vor der gesamten Klasse zu widersprechen?

Wenn es um Autorität ging, hatte ich mir seit meiner Rückkehr nach Paris einiges anhören müssen. Insbesondere mein langhaariger Onkel hatte die Sorge, das tropische Klima von La Réunion hätte mich verdorben; es hätte mir die Fähigkeit genommen, mich in das in Paris herrschende Leben einzufinden. Sehr schnell redete er davon, dass es so etwas wie Autorität gab und dass sie nicht in Frage zu stellen sei. Er vermittelte mir das auf eine sehr freundliche Art, er wollte mir bloß helfen, es sei nur zu meinem Besten und so weiter. Und eigentlich redete er weniger von der Autorität als der Idee, die in Paris so ziemlich alles zusammenhielt, sondern er redete von einer sublimen, einer vorauseilenden Form. Er holte etwas aus, sprach über seine Arbeit, über die Leute, für die er arbeitete, oder die Leute, die für ihn arbeiteten, und feierte diese so sublime und vorauseilende Form als etwas, das er selbst erst hatte verstehen müssen. Wovon er sprach, das benannte er dann mit ausgebreiteten Armen und großer Hingabe als Loyalität. Loyalität, das war es, was er mir vermitteln wollte, und Loyalität sei etwas, was man zu leisten hatte.

„Kannst du kurz dableiben?“, sagte die Kunstlehrerin zu mir, als alle anderen den Klassenraum Richtung Pausenhof verließen.

Ich meinte, sehr genau zu wissen, was kommen würde.

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, sagte sie. „Ich möchte, dass du mir das Meer erklärst.“

Das überraschte mich ein wenig. „Wie soll ich das denn machen?“

„Vielleicht beschreibst du mir, wie du mit dem Meer aufgewachsen bist. Vielleicht schreibst du es auf.“

„Eine Strafarbeit also?“

Die Kunstlehrerin lachte. „Nein, es ist keine Strafarbeit.“

„Was ist es dann?“

„Es ist Neugier.“

„Neugier?“

„Ich möchte wissen, was genau du verloren hast.“

€11,99