Zivile Helden

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1.3 Die Konstitution des Zuschauers

Der Schauspieler Bruscambille wünscht sich ein Hôtel de Bourgogne, das ausschließlich »zum Hören und Sehen« da ist. Wer heute ins Thea­ter geht, ist selbstverständlich eine Zuschauerin oder ein Zuschauer – jemand, der das Zu-Schauen als die vorherr­schende Art und Weise der Beteiligung am Bühnengeschehen verinnerlicht hat. Doch ist dies das Resultat eines komplexen Prozesses. Für d’Aubignac stellt es sich u. a. als Problem der Anordnung und Verteilung der Menge im Zuschauerraum. Er weiß, dass von der räumlichen Anordnung bestimmte Ordnungseffekte ausgehen. Daher sein Vorschlag, den Raum durch Sitzplätze aufzuteilen und ihn der freien Verfügbarkeit durch die Zuschauer zu entziehen. Nicht nur den Taschendieben und Beutelschneidern wäre die notwendige Bewegungsfreiheit genommen, der Blick des Zuschauers würde zwangsläufig auf die Bühne gerichtet, die jetzt zum vorherrschenden Zentrum der Aufmerksamkeit werden könnte.

D’Aubignac sieht für das Theater die Anwendung von Techniken vor, die Foucault am Beispiel des Militärs, der Medizin, der Schule und der Indu­strie als einen »art des répartitions« analysiert hat (1975, 143). Er un­terscheidet zwei grundlegende Formen, in denen diese Kunst auftritt: 1) »la clôture«, d. h. »la spécification d’un lieu hétérogène à tous les autres« (ebd.): Man geht ins Theater; 2) »le quadrillage«, der jedem Individuum an dem so herausgeschnittenen, geschlossenen Ort seinen Platz zuweist (144). Es geht darum, die »circulation diffuse« (144f) mit Hilfe einer »tactique […] d’antiagglomération« zu unterbinden (145). Wie die Hafenstadt, die Foucault als Beispiel anführt, gehört das Theater zu den Orten, die »un carrefour de mélanges dangereux« bilden (145). Ehrbare Kaufleute finden sich Seite an Seite mit verarmten Studenten und lär­menden Soldaten, die noch keiner minutiösen Zeiteinteilung unterliegen und frei umherschweifen können. Und auch wenn das Parterre den Männern vorbehalten ist, kann es doch zu »gefährlichen Vermischungen« zwischen den Geschlechtern kommen (vgl. auch Teil II). Ordnung und Unordnung existieren gewissermaßen unterschiedslos neben- und ineinander. Zumindest bis zu dem spektakulären Prozess gegen Théophile de Viau 162336 und der öffentlichen Verbrennung seiner Bücher ist das Theater einer der Treffpunkte der »libertins«, deren Anhänger zu einem großen Teil aus dem Adel kommen. Kurz, das öffentliche Theater führt unterschiedliche Milieus zusammen, die sich wechselseitig Resonanz geben und in dieser Mischung vom Standpunkt der Obrigkeit als Unordnungskräfte erscheinen. Eine Bedingung für die Staatsfähigkeit des Theaters ist dagegen, dass seine räumliche Gliederung die ständische Ordnung nicht zum Verschwinden, sondern gerade zur Geltung bringt. Der Zuschauerraum muss, wie d’Aubignac fordert, eine Ordnung repräsentieren, »où les sièges des Spectateurs soient distingués, sans que les personnes de condition y soient mêlées avec le menu peuple« (Projet, 705f).37

Die Disziplinierung der Schauspieler hat ihr Gegenstück in der der Zuschauer. Auerbach meinte, dass der Ausdruck public, ursprünglich »das öffentliche Wohl, der Staat« bedeutend, mit Beginn der 30er Jahre des 17. Jahrhunderts zusätzlich den Sinn einer »bereits geformten und empfangsbereiten Theateröffentlichkeit« annimmt (1933a, 5) – einer Empfangsbereitschaft freilich, die sprunghaft und selektiv ist und sich von einem Moment auf den andern von der Bühne abwenden und dem – interessanteren – Schauspiel, das die Zuschauer selbst veranstalten38, zuwenden kann. Dieser diskontinuierliche Typus von Aufmerksamkeit wird im 18. Jahrhundert an Verhaltensweisen greifbar, auf die u. a. Sennett hingewiesen hat und die allerdings nur einem »bereits geformten« Publikum möglich sind (vgl. 1983, 93–102). Längst existiert ein Kanon erprobter und erfolgreicher Stücke, auf die die Schauspieler, besonders die der Comédie-Française, gerne zurückgreifen, um ein Publikum zufrieden zu stellen, das den vertrauten Stoffen stets neue Genüsse abgewinnt. Insbesondere die Pointen werden mit Spannung erwartet. Die Schauspieler, die solchen Erwartungen zu entsprechen suchen, stellen sich nahe an den Bühnenrand und wenden sich direkt ans Publikum, das seiner Begeisterung wie seiner Kritik ebenso entschieden Ausdruck gibt. Lautstark wird oft die Wiederholung solcher Stellen gefordert.39 Eine zweite Form, in der das Publikum seine Anwesenheit bekundet und den Fortgang der Handlung unterbricht, ist das ›Zum-Schweigen-Bringen‹, das den Schauspieler trifft, der nicht weiter weiß und dessen Missgeschick vom Publikum durch einen ohrenbetäubenden Lärm sanktioniert wird, der noch die Bemühungen des besten Souffleurs zunichte macht. Sennett sieht in diesen Reaktionen spontane Äußerungen, die auf eine »Vermischung von Schauspieler und Publikum« hindeuten (1983, 95). Als »spontan« erscheinen diese Eingriffe jedoch nur vom Standpunkt des heutigen Zuschauers, dessen Ausdrucksmöglichkeiten weitgehend auf die ritualisierte Form des Beifalls beschränkt sind. Die Wiederholung der Pointen und das Zum-Schweigen-Bringen sind Formen einer Beteiligung, die ein gebildetes Publikum voraussetzen: Es hakt an den Stellen ein, an denen der Schauspieler des literarischen Theaters sein besonderes Können unter Beweis stellen muss – das Rezitieren und die Kunst, einen Text treu zu reproduzieren. Doch kann solches Wissen allein kein sinnverstehendes Zuschauen begründen. Das Interesse an Details des schauspielerischen Könnens fungiert als Desinteresse am Sinn der Handlung. Die ›Höhepunkte‹ existieren losgelöst vom Zusammenhang des Ganzen.

Die Forderung d’Aubignacs, das Parterre mit festen Sitzplätzen auszu­statten, wird erst durch die Übersiedelung der Comédie-Française in ein neues Gebäude 1781 eingelöst. Das Théâtre-Italien folgt 1788. Erst 1759 waren im Théâtre-Français die Plätze auf der Bühne abgeschafft und ein Parkett angelegt worden, das zwischen Stehparterre und Orchester 180 Personen Sitzplätze bot. Der Comte de Lauraguais40 zahlte 60 000 Francs, um die Schauspieler für den Ausfall der Einnahmen zu entschädigen, die die Verbannung der Plätze von der Bühne zur Folge hatte (vgl. Marmontel, 139). Schon Marmontel diskutiert in seinem Encyclopédie-Artikel »parterre« – lange vor 1781 – die Vor- und Nachteile von Sitzplätzen und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei um »un autre monde« handeln wird: »le public des loges & celui du parterre ne feront qu’un; & dans le sentiment du parterre il n’y aura plus, ni la même liberté, ni la même ingénuité; osons le dire, ni les mêmes lumieres: car dans le parterre […] les ignorans ont la modestie d’être à l’école, & d’écouter les gens instruits; au lieu que dans les loges, & par conséquent dans un parterre assis, l’ignorance est présomptueuse: tout est caprice, vanité, fantaisie ou prévention.« (242) Aus ganz anderen Gründen als d’Aubignac plädiert Marmontel für die Trennung des Logen- und Parterrepublikums: Während in den Logen die höfische Gesellschaft als eine Ansammlung eingebildeter Ignoranten das Sagen hat, ist das Parterre – trotz der hier herrschenden Unruhe – eine »Schule«, die Geschmacks- und Urteilsbildung befördert, weil »gens instruits« und »ignorans« auf produktive Weise sich begegnen. Marmontel spricht vom Standpunkt dessen, der die kulturellen Kompetenzen des Dritten Standes entwickeln will und daher verhindern muss »que cette espece de république qui compose nos spectacles changeroit de nature, & que la démocratie du parterre dégénéreroit en aristocratie« (ebd.).

Auch Sennett erwähnt die Auffassung, mit der »Bequemlichkeit« sei zugleich eine »gewisse Leblosigkeit« ins Theater eingezogen (1983, 95). »Bequemlichkeit« und »Leblosigkeit« sind indes Kategorien, die das geschichtlich Neue – die Konstitution des Zuschauens als dominanter Form der Publikumsaktivität – einseitig, nur unterm Gesichtspunkt der Passivierung fassen. Im Blick auf die »Bequemlichkeit« bleiben die Ordnungseffekte einer materiellen Anlage ungesehen; die »Leblosigkeit« legt nahe, das Zuschauen als Nicht-Aktivität zu begreifen. Indes begründet die Stillstellung eine spezifische Aktivierung. ›Von außen‹ ist nichts zu sehen. Umso mehr spielt sich ›im Innern‹ ab. Es gilt, eine unmittelbare, durch nichts beeinträchtigte Beziehung zum Bühnengeschehen herzustellen. Auch in der Baustruktur, teilt Sennett mit, habe man nach 1720 mehr darauf geachtet, dass große Teile des Publikums eine »ungehinderte Sicht auf die Bühne hatten« (99). Das Husten des Nachbarn, ja ein einfaches Sich-Räuspern werden bereits als störend, vom Störenfried selbst als peinlich empfunden. Das Sitzen unterstützt die notwendige Abschottung gegen die andern. Die »Empfangsbereitschaft«, von der Auerbach spricht, kommt ohne die freiwillige Anstrengung des Einzelnen nicht zustande. Es sind verschiedene Praxen, die in der Herstellung der Empfangsbereitschaft sich wechselseitig stützen: das Sitzen, die ungehin­derte Ausrichtung des Blicks auf die Bühne, das Schweigen. Die Sinnlichkeit der »Außenwelt« – das Stimmengewirr, das Scharren der Füße, der Geruch der brennenden Öllampen usw. – wird möglichst weitgehend abgeschnitten. Übrig bleibt die unmittelbare und individuelle Beziehung zur Bühne.

Der Weg zum ›Publikum‹ des öffentlichen Theaters führt über die Anrufbarkeit des Einzelnen. Die Abschließung gegen »außen« erzeugt im Gegenzug die spezifische Offenheit für den Sinn des auf der Bühne Gezeigten. Erst jetzt kann es zur ›Botschaft‹ werden, das Zuschauen zur sinnverstehenden Aktivität. Wenn die »Privatisierung und Individua­lisierung des Zuschauers« (Orlich 1984, 444) erst im 19. Jahrhundert wirklich erreicht werden kann, so deshalb, weil erst jetzt die technischen Möglichkeiten gegeben sind, um die im Parterre auf ihre Plätze fixierten Zuschauer in ein ihre Vereinzelung akzentuierendes Dunkel zu tauchen.

 

Der »empfangsbereite« Zuschauer ist also weniger Resultat von Denkschriften oder polizeilichen Verordnungen als vielmehr Effekt ­einer architektonischen Anlage. Noch Goethe notierte den Widerspruch zwischen der Forderung Diderots nach »vollkommener Täuschung«, die erst die »natürlichste Natürlichkeit« bedingt, und den auf der Bühne noch immer üblichen Zuschauerplätzen, welche die »Illusion« zerstörten (DuW, 1. Teil, 3. Buch).41 Erst der Umbau des materiellen Dispositivs bewirkt die »Illusion des Realismus«, d. h. die ›Hermeneutisierung‹ des ganzen Vorgangs: Das Spiel der Schauspieler wird zur »Textinterpretation«, das Zuschauen zur sinnverstehenden Aktivität. Daher der Erfolg der romantischen Bewegung, die nicht etwa das Illusionstheater in Frage stellen, sondern dessen Produktionsweise revolutionieren wird. Die Momente »vollkommener Illusion« (Stendhal) sind durch keinerlei vorgängiges Regelwerk mehr zu erzeugen. Wenn die ›klassische‹ Darstellungsästhetik sich im sicheren Besitz einer Poetik wähnte, deren Wirkung auf die an ihre Plätze fixierten Subjekte gewissermaßen ›objektiv‹ verbürgt war, so stellt die romantische Erneuerung die Subjektivität der Zuschauer selbst in Rechnung. Die Illusion kann nur der Wechselwirkung von Darstellung und rezeptiver Gestimmtheit des Einzelnen entspringen. Das drame bourgeois, das die »Empfindsamkeit« der Zuschauer zugleich voraussetzt und entwickelt, ist nicht zufällig ein Meilenstein auf diesem Weg.

Die Einschließung des öffentlichen Theaters in einen festen Raum markiert – trotz der Klagen Bruscambilles – einen Wendepunkt. Herausgeschnitten aus dem Zusammenhang der öffentlichen Plätze, kann sich das Theater zu einem besonderen kulturellen Ereignis verfestigen, das von den honnêtes gens nach und nach in Besitz genommen wird. Das öffentliche Theatergebäude ist der sinnfällige Ausdruck der Abstrak­tion des Theaters aus den lokalen Bindungen und Traditionen: Seine Verbindung zur Festkultur des Volkes wird ebenso durchtrennt wie seine Einbindung in die ideolo­gische Macht Kirche.

1.4 Die Entwicklung des Spielortes zur Schaubühne

Der Ausdruck Schau-Bühne lässt noch erkennen, dass es sich beim Thea­ter um die Verbindung zweier Räume handelt: Zuschauerraum und Bühnenraum. Historisch geht die Herausbildung eines besonderen Bühnenraums dem Interesse an der Durchformung des Zuschauerraums voraus. Anhand der Entwicklung der Bühne lässt sich der Umbau des Theaters in einen eigenständigen institutionalisierten Handlungsraum mit seinen dafür besonders zuständigen Subjekten, den Schau-Spielern, nachvollziehen. Weder das geistliche Drama des Mittelalters noch die Fastnachtspiele kennen eine besondere Bühne; nur vereinzelt wird ein Podium verwendet (vgl. Michael 1974, 14). In der Regel fügt sich der Spielort in die örtlichen Gegebenheiten ein. Das Theater gewinnt hier gegenüber seinem kulturellen Kontext, dem Gottesdienst oder dem Karneval, keine Eigenständigkeit. Das erste Theater, das ein Podium mit Rückabschluss gehabt und sich »völlig von allen lokalen Bindungen« befreit habe, soll das humanistische Schultheater in Straßburg gewesen sein (ebd., 15). Zur Aufführung der Mysterienspiele im 15. und 16. Jahrhundert, die meist auf dem Platz vor der Kirche stattfanden, wurde dann regelmäßig ein Podium verwendet, das die verschiedenen Orte des Geschehens simultan sichtbar machte (Simultanbühne). Man vermied damit die technischen Schwierigkeiten des Umbauens; auch die Schauspieler blieben – ohne Rücksicht auf die ›Wahrscheinlichkeit‹ – die ganze Zeit über sichtbar. Alle Orte und Akteure waren von Anfang bis Ende präsent. Da die Zuschauer die in diesem Theater erzählten Geschichten kannten, waren auch das jede Erzählung kennzeichnende Sukzessionsprinzip und die simultane Präsenz der einzelnen Glieder, ja von Ausgangs- und Endpunkt – die in einem vom christlichen Weltbild durchstrahlten Alltag ohnehin identisch waren – problemlos miteinander vereinbar.

Mit dieser simultanen Anordnung bricht der neue Typ von Bühne, der sich seit Anfang des 16. Jahrhunderts, zunächst in Italien, dann sehr schnell auch in Frankreich und im übrigen Europa, durchzusetzen beginnt: die Perspektivbühne. An die Stelle mehrerer, gleichzeitig sichtbarer Orte, rückt die Gestaltung eines einzigen Raumes. Die Bühne erweitert sich zum Bühnenraum, zum »Bild, das genau nach den Regeln der Perspektive ausgemalt wurde« (Flemming 1974, 20). Diese Auffassung der Bühne als Bild wird fürs Illusionstheater konstitutiv. Noch im 19. Jahrhundert fungierte »der große, möglichst kunstvoll gemalte Prospekt« – der hintere Abschluss der Bühne – als »Blickfang« (­Krengel-Strudthoff 1974, 170). Donato Bramante und Baldassare Peruzzi, Wegbereiter der neuen Bühnenform (vgl. Frenzel 1984, 20), sind nicht zufällig Architekten, Maler und Bühnenbildner in einem. Die neue Bühnenform unterstreicht die Eigenständigkeit und Geschlossenheit des Spielortes gegenüber dem Zuschauerraum, wenn auch die Präsenz von Zuschauern auf der Bühne und die architektonische Gesamtanlage42 die trennscharfe Gliederung der beiden Räume, Voraussetzung perfektionierter Illusionsproduktion, noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein verhindern sollten. Die Akteure werden jetzt im eigentlichen Sinn zu Schau-Spielern, die sich »innerhalb dieses Schauraumes« bewegen und ihm »eingegliedert« sind (Flemming 1974, 20). Die räumliche Konzentra­tion schließt die simultane Präsenz aller Schauspieler aus, die sich nun den Blicken der Zuschauer entziehen müssen, sobald ihre Anwesenheit nicht mehr nötig ist. Die Bühne wird zum Guckkasten, zu einem »›huis clos‹ dont une paroi semble artificiellement et clandestinement ouverte, par hasard, aux yeux des assistants« (Duvignaud 1973, 279f). Gerade die Ausschließung der Theaterbesucher vom Ort des Geschehens, ihre Stillstellung als Zuschauer, hat den paradoxen Effekt eines besonders intensiven Dabeiseins – wenn auch in der verrückten Form der Illusion.43 Die Illusion, die imaginäre Teilhabe am Geschehen, entspringt einer Anlage, die den Blick der Zuschauer auf eine geschlossene Spielwelt ausrichtet. Indem das Spiel als solches sich entnennt, tritt der »Sinn des Ganzen« hervor. Daher Diderots Rat an die Schauspieler: »Imaginez, sur le bord du théâtre, un grand mur qui vous sépare du parterre; jouez comme si la toile ne se levait pas.« (Poésie, 231)44 Für ein Theater, das den Blick von der »Idealität« weg- und auf die wirklichen Verhältnisse hinlenken will, ist diese Anlage hinderlich. Brecht geht es deshalb zunächst darum, das Theater wieder als solches erfahrbar zu machen. Um die Illusion zu zerstören, verlangt er, »dass die Dekoration dem Zuschauer sagt, dass er im Theater ist […]. Am besten ist es, die Maschinerie zu zeigen, die Flaschenzüge und den Schnürboden.« (GW 15, 79)

Die veränderte räumliche Anlage des Theaters lässt die Aufführung selbst, was und wie etwas gezeigt wird, nicht unberührt. Sebastiano Serlio, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine zusammenfassende Darstellung der Bemühungen um die Perspektivbühne gibt, sieht die Verwendung von drei Grunddekorationen vor: die tragische, die komische und die Schäferspiel-Szene (vgl. Frenzel 1984, 21f). Natürlich hat er dabei nur das Theater an den italienischen Fürstenhöfen im Blick. Mit der Auffassung der Bühne als Bild rückt die ›reine‹ Theorie, die das Bühnengeschehen zwischen den Polen Tragödie und Komödie aufteilt, an die Aufführungspraxis heran. Die ästhetische Ordnung, die von den Theoretikern des 16. Jahrhunderts ausgearbeitet wird, bekommt mit der Perspektivbühne ihr materielles Substrat. Aber erst mit der Gründung der Comédie-Française gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als es darum geht, den Großen – Corneille, Racine, Molière – eine ›würdige‹ Heimstatt zu bieten, gewinnt die Entmischung des theatralen Ereignisses auf der Linie des Komischen und Tragischen die entsprechende Infrastruktur, deren Gesetz die »règle de l’alternance« ist, die idealiter den täglichen Wechsel der Gattungen verlangt (Lagrave 1972, 310).45 Dem Theater der öffentlichen Plätze war diese Trennung fremd. Und auch im Hôtel de Bourgogne wurde noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts diese Entmischungsregel nicht beachtet. Lanson kommentiert vom Standpunkt des ›klassischen‹ Theaters: »A la veille du Cid, le spectacle offre un singulier mélange d’extrême grossièreté et de recherche extravagante. La tragicomédie ou la tragédie jusque vers 1635 est précédée du Prologue, vrai boniment de foire, énorme de bouffonnerie et d’obscénité: elle est suivie de la farce, qui est salée […) Au milieu de ces divertissements tout populaires, la tragi-comédie étale ses inventions surprenantes et ­stériles« (1903, 417f). Das Nebeneinander von Prolog, Tragödie und Farce erscheint als »singulier mélange«, als unerlaubte Vermischung von nicht Zusammengehörendem. Wie in Spanien noch lange über Lope hinaus ist die Vorstellung als lockerer Zusam­menhang einzelner ›Nummern‹ organisiert; die Zerstreuung der Zuschauer – das »divertir« – mittels einer Fülle von Ereignissen und überraschender Wen­dungen ist konstitutiv. Das sinnverstehende Zuschauen wird dagegen mit »utilité« und »instruire« verknüpft. Einer der Anhänger Corneilles in der Querelle du Cid konnte noch sagen, dass er den »mérite des pieces selon le plaisir« bemesse (in: Gasté 1898/1970, 231). Seine gebildeten Gegner, eine in der Antike gängige Unterscheidung aufnehmend, betonen dagegen den Vorrang des instruire gegenüber dem divertir. Diese Konstruktion füllt sich mit frischer Bedeutung. D’Aubignac behauptet daher, das Theater sei »l’École du Peuple«, die »Schule des Volkes« (Pratique, 40), denn die Schauspiele seien »non seulement utiles, mais absolument nécessaires au Peuple pour l’instruire, et pour lui donner quelque teinture des vertus morales« (ebd., 39). Hier der im Original kursiv gesetzte Lehrplan in Kurzfassung: »Que la Félicité consiste moins dans la possession des choses, que dans le mépris; Que la Vertu ne cherche point d’autre récompense que soi-même; Qu’il n’y a point d’intérêt assez grand pour obliger un Homme d’honneur à faire une lâcheté.« (40) Nur wer nichts hat, glaubt im Besitz das Glück zu erhaschen. Die aristokratischen Moralisten, die im sicheren Bewusstsein ihres Besitzes die Schlechtigkeit der Welt beklagen, wissen es besser. Das Theater lehrt das Absehen vom Besitz als den Weg zum wahren Glück – zum Glück für die Besitzenden.

Schillers rund 150 Jahre später bekundete Absicht, die deutsche Schaubühne zu einer »moralischen Anstalt« zu machen, die »mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben« sein soll (1784, SW 5, 826), ist hier vorgedacht. Die Auflösung des plebejischen Arrange­ments der Aufführung mit seiner Nummernstruktur und die Zentralstellung eines Stückes verstärkt nach und nach die Position des Autors gegenüber dem Schauspieler, der – anders als eine interessierte Literaturgeschichtsschreibung dies will – kein »simple serviteur des auteurs« ist (Duvignaud 1965, 75). Die Metonymie »Corneille spielen« kann sich nur innerhalb von Verhältnissen entwickeln, in denen ein individueller ›Urheber‹ sich Geltung verschaffen kann. Wir wenden uns daher der ­Literarisierung der Theaterverhältnisse zu.

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