Buch lesen: «Das Apophenion»
In der Physik ist die Hexe eine Rebellin
(Thomas Vaughan, Anthroposophia Theomagica, 1650)
Peter J. Carroll
Das Apophenion
Ein chaosmagisches Paradigma
„Stokastikos“
Früherer Großmeister des magischen Paktes der
Illuminaten von Thanateros
Kanzler des Arcanorium College
Stochastisch bedeutet, sich durch Vermutung und Zufälligkeit auf etwas zu beziehen oder dadurch charakterisiert zu sein. In einem stochastischen Prozess bedeutet nicht-deterministisches Verhalten, dass bei einem gegebenen Zustand der darauf folgende nicht vollkommen determiniert ist. Etymologisch: Das griechische „stochastikos“ bedeutet „geschickt beim Zielen“, von „stocha-zesthai“ „zielen auf“, „raten“, von „stochos“ Ziel.
Die Originalausgabe erschien am 08.08.2008 bei Mandrake of Oxford unter dem Titel The Apophenion – A Chaos Magic Paradigm; © 2008 by Peter J. Carroll and Mandrake of Oxford.
1. Auflage Oktober 2012
Copyright © 2011 by Edition Roter Drache für die deutsche Ausgabe.
Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Postfach 10 01 47,
D-07391 Rudolstadt.
edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org © Titelbildmotiv „Gods & Monsters“ von David Gough. Buch- & Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache. Physikalisches Lektorat: Katja Franke. Korrektorat: Clemens Zerling. 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 9783944180342
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Danksagung
1. Kapitel: Apophenia – Einführung
2. Kapitel: Philosophie des Panpsychismus
Teil 1: Die Metaphysik des Nichtseins
Teil 2: Panpsychismus
Teil 3: Panpsychismus und Magie auf der Quantenebene
3. Kapitel: Die Psychologie des Multimind
Teil 1: Der Mythos vom „Bewusstsein“
Teil 2: Die Konstruktion des Selbst
Teil 3: Würfelspiele mit dem Zufallsautomaten
4. Kapitel: Neopantheismus – Eine Do-It-Yourself-Religion
Teil 1: Gegen den Logos, gegen das „buchstäbliche Wort“
Teil 2: Neo-Pantheismus
5. Kapitel: Metadynamiken – Praktische Magie
Teil 1: Die Seltsamkeit der Quanten
Teil 2: Drei-dimensionale Zeit
Teil 3: Allgemeine Metadynamiken und Magie
Teil 4: Über die Natur der Zeit
6. Kapitel: Nicht-Singuläre Kosmologie
Teil 1: Gegen die Singularität
Teil 2: Das hyper-sphärische Universum
Teil 3: Hypersphärische Metaphysik
Teil 4: Die Landkarte, die Reise und die Bedeutung
7. Kapitel: Erleuchtung?
Teil 1: Ein fünftes Prinzip der Thermodynamik?
Teil 2: Was kann sich entwickelt haben?
Teil 3: Science-Fiction-Götter
Teil 4: Ein panpsychisches Universum?
8. Kapitel: Eine Invokation der Apophenia
Teil 1: Einführung
Teil 2: Generelle Beobachtungen
Teil 3: Die generelle Form der Invokation
9. Kapitel: Apophenias Geburtstag
Teil 1: Theosynthese und Synkretismus
Teil 2: Ein Überraschungsgeburtstag
Epilog
Anhänge
Anhang I: Drei-dimensionale Zeit und Quantengeometrie
Teil 1: Prolog zur Quantengeometrie
Teil 2: Elementarteilchen in acht Dimensionen
Teil 3: Zusammenfassung
Anhang II: Die Entstehung einer Hypersphäre aus dem Radius-Exzess
Anhang III: Das hypersphärische Universum
Teil 1: Die wirbeldrehende Hypersphäre
Teil 2: Die Größe des Universums
Teil 3: Die Anderson-Beschleunigung
Teil 4: Geschlossene Zeitkrümmungen
Teil 5: Hypersphärische Teilchen
Anhang IV: Die Form des Universums
Fußnoten
Weitere Titel aus dem Verlag Roter Drache
Danksagung
Der Autor möchte der Muse in all ihren Verkleidungen danken.
Mein besonderer Dank gilt auch:
- Ingrid Glaw für die hervorragenden Interpretationen der Kapitelthemen, die in ihren Illustrationen auftauchen.
- David Gough für die großzügige Erlaubnis, eine Wiedergabe seines Gemäldes Gods and Monsters als Titelseite für dieses Buch verwenden zu dürfen.
Die beiden Künstler sind zu erreichen unter:
http://iggygirl.deviantart.com
- der Maybelogic Academy (www.maybelogic.org) und meine Mannschaften von der Psychonaut und der Independence, die mit mir online den Äther durchkreuzt und mich dazu inspiriert haben, wieder mit Schreiben anzufangen.
- den Mitarbeitern und Mitgliedern des Arcanorium College (www.arcanoriumcollege.com), besonders 8 Wasps und Res, welche die Manuskripte gelesen, meine eigenwillige Rechtschreibung überprüft und mich auf unklare Stellen hingewiesen haben. Seit der Bibel hat selten ein Buch so viele Menschen über seinen Inhalt streiten gesehen.
- einer ganzen Reihe von Physikern mit Weltruf, die während der Entstehungszeit dieses Buches auf Anfragen bezüglich seiner Hypothesen geantwortet haben. Die meisten von ihnen erhalten täglich von Verrückten eine ganze Flut von Briefen. Trotzdem trugen einige von ihnen mit hilfreicher Kritik bei und durch Verweise auf weitere interessante Literatur. Manche von ihnen brachten ihre Bedenken aufgrund des hohen Grades an Symmetrie in der Hypothese zum Ausdruck; die meisten fanden, das Buch müsste mathematisch besser begründet werden, aber keiner von ihnen konnte offensichtliche Lücken darin finden, obwohl es insgesamt doch recht gewagt scheint. Zum Dank für ihre Offenheit nenne ich keine Namen, um niemandes professionelle Reputation zu gefährden.
- Mogg Morgan von Mandrake für seine redaktionellen Hinweise.
Anrufende Sigille von Apophenia. Angefertigt nach der Methode von Austin Osman Spare und gezeichnet von der Hand des Autors.
1. Kapitel
Apophenia – Einführung
Der Begriff „Physik“ bezeichnet zunächst nicht mehr als eine Ideensammlung darüber, wie die Welt funktioniert. Jeder Mensch besitzt irgendeine Theorie über die Physik, ob sie nun auf einfacher Erfahrung und Intuition beruht oder auf hochkomplexen Experimenten und Hypothesen.
Da Magie – zumindest gelegentlich – funktioniert, muss sie fester Bestandteil jeder Theorie sein, die vollständig erklären will, wie die Welt funktioniert.
Ich betrachte Physik als jene Teilmenge der Magie, die mit ziemlicher Zuverlässigkeit funktioniert. Die Magie im klassischen Sinn betrachte ich als eine Art Physik, die wir immer genauer zu verstehen und in immer verlässlicherer Form zu betreiben versuchen. So läuft alles auf denselben Versuch hinaus, die Welt mithilfe einer schlüssigen und widerspruchsfreien Theorie zu verstehen und zu beherrschen.
Magie impliziert eine Erweiterung der „gewöhnlichen“ Physik, wodurch sie uns mehr darüber berichten sollte, wie das Universum funktioniert und vielleicht auch Vorschläge machen kann, wie wir die Theorie und die Praxis von Magie verfeinern können.
Zu Beginn des dritten Jahrtausends beginnen die meisten Sicherheiten, die das Denken der beiden vorangegangenen Jahrtausende mitbestimmt haben, zunehmend zweifelhaft zu erscheinen. Im 20. Jahrhundert hat durch das Aufkommen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik sowie durch die Geburt einer völlig neuen esoterischen Theorie, dem Chaoismus, eine Revolution zu keimen begonnen.
Dieses Buch vertritt die These, dass diese drei Arbeitsfelder derzeit miteinander verschmelzen und dabei mit dem Großteil der Vorstellungen aufräumen, die Jahrhunderte lang die Menschheit geleitet haben.
Willkommen zum Aufeinanderprall der Paradigmen des dritten Jahrtausends!
Magie und Wissenschaft sind im Begriff, praktisch alles über den Haufen zu werfen, was wir über das Leben, die Realität, den Verstand, das Bewusstsein, die Religion, die Kausalität und das Universum sicher zu wissen glaubten. Wem das Wort „Magie“ zu verrückt klingt, ersetze es durch die Bezeichnung „psychologische und parapsychologische Technologie“.
Natürlich wird der Paradigmenwechsel für jene 93% der Menschheit, die vor abstraktem Denken zurückscheuen, erst dann langsam deutlich werden, wenn die neuen Erkenntnisse via der Illuminaten, die sie für praktische Zwecke einsetzen, zu ihnen durchsickern.
Jedes der folgenden Kapitel in diesem Buch beginnt mit dem Attentat auf eine Idee, die seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder sogar schon Jahrtausenden Bestand hatte. Und jedes Kapitel trachtet anschließend nach einer Apophenia, hin zu einer Alternative für die zerstörte Idee.
Apophenia bedeutet das Auffinden von Mustern oder Bedeutungen an Stellen, an denen andere nichts sehen. Sie wird meist von Offenbarungs- oder Ekstaseerlebnissen begleitet. In der psychologischen Terminologie gibt es einige negative Konnotationen, dann nämlich, wenn das Auffinden von Bedeutungen oder Mustern auch dort stattfindet, wo keine existieren. Sie ist jedoch dort positiv konnotiert, wo sie das Aufspüren von etwas Wichtigem, Nützlichem oder Schönen hervorbringt. So verbindet sie Kreativität und Psychose, Genie und Wahnsinn.
Das Talent für Apophenia ist ein häufiges Merkmal von Magiern, Mystikern und Okkultisten. Im besten Fall kann sie der Menschheit völlig neue Betätigungsfelder eröffnen. Sie ist eng verwandt mit Pareidolia, die sich im Verwechseln von Seilen mit Schlangen, im Erkennen von Steinböcken, Stieren und Jungfrauen in den Gestirnkonstellationen sowie in der Persönlichkeit von Menschen zeigt, die hanebüchene Verschwörungstheorien und Theologien über himmlische Fabelwesen konstruieren. Dennoch spielt Pareidolia durchaus eine Rolle in der Entwicklung von Kunst und Religion.
Aufgrund von Konventionen stellen wir uns Inspiration als weiblich vor, weil sie eher mit der rechten, holistischen Gehirnhälfte in Zusammenhang gebracht wird als mit dem linearen Denken der linken Gehirnhälfte. Apophenia ist nicht auf Abruf zur Stelle; sie weist unser Werben und Verführen hin und wieder ab. Manchmal meldet sie sich, wenn wir geistig abwesend (oder weggetreten) sind, manchmal auch nicht. Manchmal erscheint an ihrer Stelle ihre verrückte Schwester Pareidolia.
Der Chaoismus erforscht den inneren Reichtum und kultiviert den inneren Mythos, das Pantheon innerer Kräfte. Jahrzehntelang bin ich dem Mythos von Ouranos gefolgt, dem Mythos der Magier-Identität, die jenseits der Seifenopern der sieben klassischen Motivationen von Sex und Tod, Angst und Begierde, Liebe und Krieg sowie dem Ego liegt. In letzter Zeit ist mir bewusst geworden, dass ich Apophenia, den weiblichen Aspekt des ouranischen Kraftstroms, über alles liebe.
(Uranus-Ouranos liegt jenseits der klassischen sieben Planeten und jenseits der ihnen fantasievoll zugeordneten Motivationskräfte. Er bietet damit einen nützlichen Gegenpol zur „gewöhnlichen“ solaren Identität oder dem Ego.)
Was Gottheiten angeht, bin ich genügsam. Das übertrieben aufgeblasene Selbstbild aller monotheistischen Gottheiten lehne ich strikt ab.
Manche Menschen glauben, irgendjemand hätte ein Universum erschaffen, mit einem Umfang von wenigstens einer Billion Billionen Kubik-Lichtjahren, in dem es für jedes menschliche Leben mindestens eine Billion Sterne gibt und das in ein von Strahlungen durchzogenes Vakuum gesetzt wurde. Sie glauben außerdem, dass diese „Person“ mit ihnen persönlich zufrieden ist oder ärgerlich wird, je nachdem, ob sie freitags Schweinefleisch essen, sonntags masturbieren, mittwochs die Glaubensfeinde massakrieren oder was ihre jeweils gerade aktuelle, unfehlbare Theologie sonst noch diktieren mag. Das klingt nach einer ernsthaften Geisteskrankheit, einer Art Größenwahn in Stellvertretung.
Ich ziehe Hausgottheiten vor, wie ich sie in meinem eigenen Kopf und manchmal auch in den Köpfen anderer finden kann.
Und mehr als alles andere habe ich Apophenia zu lieben gelernt, jene Göttin, die mir gezeigt hat, wie man Bedeutung an Orten finden kann, an denen ich sie am allerwenigsten erwartet hätte: in einem Universum, das auf dem einzigen wirklich fairen und unparteiischen System basiert, nämlich Chancengleichheit, Zufälligkeit und Chaos.
Ich würde für sie töten und tatsächlich habe ich ihr zu Ehren schon viele Male zu morden versucht – die nachfolgenden Kapitel zeigen das. Sein, Selbst, Gott, Kausalität und Singularität; ihnen allen wird auf ihrem Altar das Fell abgezogen, um zu erkennen, welche Illuminationen und welche magischen Möglichkeiten jenseits davon liegen.
Stokastikos,
Peter J. Carroll. Südwestliches Albion. 2008.
2. Kapitel
Philosophie des Panpsychismus
Dieses Kapitel beginnt mit einer Dekonstruktion und Zerstörung des Konzeptes vom „Sein“. Es schließt sich eine Betrachtung des Pantheismus an, um eine Apophenia im Paradigma des Quanten-Panpsychismus zu finden sowie für dessen Verwendung in der Magie.
Teil 1: Die Metaphysik des Nichtseins
Metaphysik bezeichnet ein Set von Annahmen, die der Art und Weise zu Grunde liegen, wie wir die Phänomene interpretieren, die wir wahrnehmen. Grundsätzliche Annahmen – wie etwa die von der Existenz des Geistes, der Materie, der Götter, der Kausalität und des Zufalls – fallen allesamt in diese Kategorie.
Das Wort „Phänomene“ bezeichnet schlicht Ereignisse, die wir wahrnehmen. Wenn wir davon Abstand nehmen, über die „Dinge“ zu reden, die wir wahrnehmen, vermeiden wir es, zu viele Annahmen im Vorhinein zu treffen, und wir vermeiden insbesondere das fragwürdige Konzept von „Dinghaftigkeit“.
Lässt sich das Universum in einem Sandkorn wiederfinden?
Möglicherweise, aber ein Stein lässt sich leichter vorstellen.
Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen einfache Phänomene wie etwa Steine nicht besonders viel aus eigenem Antrieb zu tun.
Aufgrund von solch einfachen Beobachtungen haben wir Realitätsmodelle aufgebaut, die schon vom Grundsatz her falsch sind, sowie Sprachen und Philosophien, die dazu passen.
Die genauere Untersuchung eines Steines verlangt von uns, dass wir aufgrund unserer eher bescheidenen Wahrnehmungsfähigkeiten künstliche Erweiterungen konstruieren. Seit ein paar 100.000 Jahren haben wir uns an die Idee gewöhnt, dass Steine nicht besonders viel selbständig tun; doch im letzten Jahrhundert haben wir zu erkennen begonnen, dass selbst der einfachste Stein noch eine ganze Menge leistet.
Unter der harten und offensichtlich starren Oberfläche jedes Steines liegt eine tosende Welt, in der hochenergetische Prozesse mit erstaunlicher Geschwindigkeit ablaufen.
Zunächst einmal interagiert ein Stein aktiv mit dem Licht. Selektiv absorbiert er manche Frequenzen und strahlt andere ab, wodurch er eine bestimmte Farbe zeigt. Die Moleküle im Stein schwingen mit einer Geschwindigkeitsrate, die von seiner Temperatur abhängig ist. Wenn sie aufhören würden zu schwingen, würde seine Temperatur auf den absoluten Nullpunkt fallen und er würde auf Nullgröße zusammenschrumpfen. Die Elektronen in den Atomen, aus denen die Moleküle des Steines bestehen, haben eine sehr hohe Orbitalgeschwindigkeit in der Größenordnung Hunderter von Kilometern pro Stunde und sie vollziehen auch eine komplizierte Art von Drehbewegung, während sie sich auf ihren Kreisbahnen bewegen. In den Atomkernen laufen pausenlos hochkomplexe Prozesse zwischen noch größeren Energien ab. Der Stein interagiert außerdem über die Gravitation mit dem gesamten Universum, krümmt minimal Zeit und Raum und reagiert auch auf die Raumzeit-Krümmung größerer Objekte um sich herum, wie etwa die von Planeten und Sternen.
Alles in allem besteht ein Stein also aus vielen Prozessen. Wenn du gegen ihn drückst, setzt er seine Trägheit dagegen. Willst du ihn anstoßen, kommen dir seine Elektronen entgegen, um diejenigen in deinem Finger abzustoßen.
Wir können nicht wirklich fragen, was ein Stein „ist“; wir können nur fragen, was er tut, wem er ähnelt oder welche Empfindungen wir ihm gegenüber erleben.
Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass er aus etwas anderem besteht als der Gesamtheit dessen, was er tut.
Dennoch werden wir von unseren einfacheren Hirnfunktionen aufgrund unserer ohne technische Erweiterungen nur kümmerlichen Wahrnehmung dazu verleitet, sich einen Stein als etwas vorzustellen, das eine Art statischen Zustand des „Seins“ besäße; weil wir den Großteil dessen, was er tut, weder direkt wahrnehmen noch uns mühelos vorstellen können. Diese falsche Vorstellung vom „Sein“ führt zur Entstehung grundfalscher Philosophien und Ideengebäude. Diese haben ernsthafte praktische Konsequenzen und haben Millionen Menschen getötet. (Warte ein paar Seiten ab, dann wirst du herausfinden, auf welche Weise.)
Der Adler-Drache des ursprünglichen Chaos
Prometheus-Luzifer,
der den Himmel
mit dem Feuer der Titanen herausfordert.
- Messe des Chaos, Liber Null
Populärwissenschaftliche Autoren erzählen, anscheinend mit großem Vergnügen, dass die Atome, welche die Welt und uns und die Sterne bilden, fast vollständig aus leerem Raum bestehen. Oft benutzen sie die Analogie, dass ein Atom, auf das Ausmaß einer Konzerthalle vergrößert, nur über einen erbsengroßen Kern im Orchestergraben verfügen würde sowie über stecknadelkopfgroße Elektronen, die sich auf einer Umlaufbahn befinden, die sich bis irgendwo in den hintersten Reihen erstrecke.
Das hängt aber davon ab, was man mit „leerem Raum“ meint. Es scheint unwahrscheinlich, dass so etwas wie leerer Raum überhaupt existiert. Obwohl sich Elektronen manchmal wie dimensionslose Punkte verhalten, verhalten sie sich – sobald sie sich auf ihren Umlaufbahnen um die Atomkerne befinden – wie diffuse, über ihre Umlaufbahn verteilte Wolken. Ein Stein übt außerdem ein gewisses Maß an Gravitationskraft aus, und Gravitation besteht aus einer Krümmung von Raum und Zeit. Für gewöhnlich bemerken wir die Raumzeit-Krümmung von Steinen nicht. Doch wirklich große Steine, von der Größe von Monden oder Planeten etwa, zeigen unmissverständlich eine solche Krümmung, die dazu führt, dass kleinere Objekte auf sie fallen oder auf ihrer Oberfläche haften bleiben. Diese Krümmung erstreckt sich über die gesamte Breite des Universums. In gewissem Sinne erstreckt sich also jedes Objekt über das gesamte Universum. Die augenscheinlich abgrenzende Oberfläche eines Objektes entsteht in unserer Wahrnehmung nur aufgrund von subatomaren, elektrostatischen Kräften zwischen Elektronen und aufgrund der Interaktion zwischen Elektronen und dem Licht. Lebewesen, die nur Gravitation wahrnehmen könnten, würden jedes Objekt als ein Phänomen wahrnehmen, das sich von seinem Zentrum nach außen hin mit abnehmender Intensität bis an die Grenzen des Universums ausdehnt.
Auch die im subatomaren Bereich wirksamen „Kräfte“ bestehen vermutlich aus einer speziellen Form der Raumzeit-Krümmung. In gewisser Hinsicht füllen sie das Atom also vollständig aus. Mit anderen Worten: Die Raumzeit hat eine Struktur, die aus dem Vorhandensein von Materie in ihr folgt. Oder umgekehrt: Die Krümmung der Raumzeit erscheint uns als Gegenwart von Materie.
Ohnehin ergibt die Vorstellung, dass subatomare Teilchen irgendeine bestimmte Größe hätten, wenig Sinn. Sie haben messbare Wellenlängen, von denen abhängen kann, durch wie große Löcher sie passen. Aber die Wellenlänge wird kleiner, wenn die Masse von Quantenpartikeln steigt oder ihre Energie oder Geschwindigkeit zunimmt. Elektronen in Atomen können Photonen (Lichtquanten) absorbieren oder abgeben, die uns in mancherlei Hinsicht als sehr viel „größer“ erscheinen als die Elektronen selbst.
Ohne Hilfsmittel verleiten unsere Sinne dazu, uns Raum und Zeit als negative Phänomene vorzustellen, die einfach aus der Abwesenheit von Ereignissen bestehen. So besitzt beispielsweise der Tod keine Existenz im positiven Sinn; er besteht schlichtweg aus der Abwesenheit von Lebensprozessen. Ähnlich besteht Dunkelheit lediglich aus der Abwesenheit von Lichtquanten-Aktivität.
Jedoch können wir den Raum nicht mehr nur als die bloße Abwesenheit von Materie betrachten und die Zeit nicht mehr nur als den zeitlichen Abstand zwischen Ereignissen. Die Raumzeit hat eine Struktur, die von der Anwesenheit von Materie und Energie unabhängig definiert werden kann; große Konzentrationen von Materie verformen die Raumzeit, indem sie diese krümmen, und reisen mit sehr hoher Geschwindigkeit, indem sie deformierend auf sie wirken.
Wenn wir also über das Universum, in dem wir uns befinden, in Klarheit nachdenken wollen, sollten wir aufhören, uns Raum und Zeit als eine Art passive Bühne vorzustellen, auf der die Objekte „sind“ und verschiedene Handlungen unter dem Einfluss von Energie ausführen.
Bei genauerer Betrachtung löst sich die gesamte „Dinghaftigkeit“ von Objekten, wie wir sie uns aus unserer makroskopischen (menschlichen) Perspektive vorstellen, einfach auf.
Kein Phänomen weist „Sein“ auf. Alle Phänomene bestehen aus fortlaufenden Prozessen; sie bestehen aus den verschiedensten Aktivitäten.
Vor etwa 2500 Jahren erkannten die frühen buddhistischen Philosophen die Unbeständigkeit und den illusionären Charakter, also die „Leerheit“ aller Phänomene, abgesehen von der Veränderung selbst. Aus der Beobachtung, dass die meisten Phänomene sich verändern, wenn man sie nur lange genug beobachtet, folgerten sie induktiv, dass dies für alle Phänomene gelten muss.
Im Westen gingen weniger geduldige Denker einfach vom „Sein“ aus und erkannten irgendwann, nach Jahrhunderte langer verzweifelter Suche nach dem, was „Dinge“ tatsächlich „sind“, dass jedes untersuchte Phänomen sich ohne Ausnahmen veränderte. Im Laufe der Zeit verändert sich sogar das Universum. Sterne explodieren oder kollabieren irgendwann; Welten formen sich aus Staub und Gas, können aber nicht ewig bestehen bleiben.
Häufig haben westlich geprägte Menschen die buddhistische Vorstellung von der illusionären Natur der Wirklichkeit missverstanden als mehr oder weniger vergleichbar mit der Abwertung der materiellen Ebene zu Gunsten der spirituellen Ebene, wie es viele monotheistische Glaubensvorstellungen vornehmen. Strenggläubige Buddhisten betrachten hingegen das „Spirituelle“ als ebenso flüchtig wie das „Materielle“. Allerdings zeigen sich die ernüchternden Grundgedanken des Buddhismus nur selten in der allgemeinen Praxis und den Glaubensvorstellungen. Allenthalben findet man ihn für gewöhnlich in lokale Bräuche gekleidet und mit Aberglauben durchsetzt, weil die meisten Menschen volkstümliche und Heimeligkeiten spendende Religionen sowie mysteriösen Ritualen den Vorzug geben vor anspruchsvollen Ideen.
Ein Stein besitzt keinerlei „Sein“, das dem zu Grunde läge, was er tut. Er besteht ausschließlich aus seinem Tun, und würde er mit Tun aufhören, besäße „er“ keinerlei Art von Existenz mehr.
Jedes vermeintliche Attribut des „Seins“ erweist sich bei ausreichend genauer Betrachtung unweigerlich als Ergebnis irgendeines Tuns.
Wir bewohnen ein Universum von Ereignissen, kein Universum angefüllt mit Dingen. Phänomene können bei makroskopischer Betrachtung den Eindruck vermitteln, „Sein“ oder „Dinghaftigkeit“ zu besitzen, doch das können sie nur, weil sie eigentlich aus fortlaufenden Prozessen bestehen.
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich für meinen Teil verfüge mit Sicherheit über keinerlei grundlegendem „Sein“ außerhalb von dem, was ich tue. In meinen jungen Jahren habe ich bestimmte Verhaltensweisen gezeigt, bestimmte Gedanken, Emotionen und Entscheidungen zum Ausdruck gebracht sowie bestimmte Meinungen und Ideale vertreten. In meiner Lebensmitte verfolge ich mittlerweile andere Aktivitäten. Mein Körper sieht anders aus und er enthält kaum noch ein Atom oder Molekül von denen, aus denen er noch vor einem Jahrzehnt bestand. Viele Erinnerungen an unbedeutende oder langweilige Ereignisse scheine ich unwiederbringlich verloren zu haben; und mein Denken beinhaltet jetzt vieles, was es in meiner Jugend noch nicht beinhaltet hat. Wenn ich noch älter werde, könnte sich meine ältere Form in ihrem Tun deutlich von meiner jetzigen unterscheiden.
Daraus folgere ich, dass ich keinerlei „Sein“ besitze, sondern nur aus der Gesamtheit meines Tuns bestehe. Ich durchlaufe die Zeit als Prozess.
Das Konzept des „Seins“ mag den Eindruck einer etwas schlampigen und ungenauen, dabei aber dennoch eher harmlosen Weltsicht vermitteln, doch sie hat zu abscheulichen Konsequenzen geführt. Jede Verwendung der Formen des Verbs „sein“, wie „ist“ oder „sind“, birgt eine falsche oder zweifelhafte Grundlage in sich.
Die Aussage „heute ‚ist‘ Mittwoch“ besitzt nur begrenzte Gültigkeit, sie könnte beispielsweise auf die Situation auf der gegenüberliegenden Seite des Planeten nicht zutreffen. Die Aussage „Pete ‚ist‘ dumm“ enthält eine unerträgliche Verallgemeinerung. Verhält er sich ausschließlich dumm?
Die Behauptung, dass braune, weiße, schwarze, gelbe, jüdische oder französische Menschen schmutzig, klug, hinterhältig, mutig, dumm, unmenschlich, böse oder was auch sonst „sind“, führt zu irrationalen Gedanken und schauderhaften Konsequenzen. Unabhängig davon, dass sich einzelne Mitglieder dieser oder jeder anderen Gruppe durchaus unter bestimmten Bedingungen genau so verhalten.
Wenn wir mit Klarheit philosophieren wollen, können wir nicht sagen, dass irgendein Phänomen irgendein anderes Phänomen „ist“. Wir können nur über Aktionen, Ähnlichkeiten und Unterschiede sprechen.
Wenn wir zu definieren versuchen, was ein Phänomen „ist“, dann heften wir ihm lediglich ein Etikett an oder drücken aus, welchem Phänomen sein Verhalten ähnelt. Wir können Phänomene nur in Begriffen ihrer Ähnlichkeit zu anderen Phänomenen definieren und durch die Implikationen aus dem, was sie tun.
Jede Aussage darüber, was etwas „ist“, hat nur in dem Maße Wert, in dem sie ausdrückt, was dasjenige tut.
Wenn wir davon sprechen, was ein Phänomen „tut“, dann meinen wir eigentlich, was es unserer Meinung nach getan hat und was wir annehmen, dass es tun wird.
„Sein“ existiert also nur als neurologische und linguistische Illusion.
Quantenphänomene verhalten sich auf eine Weise, die dem Verhalten von kaum etwas anderem ähnelt. Folglich enden alle Versuche, sie anhand von Begriffen definieren zu wollen, die sich auf das beziehen, was sie „sind“, in einem Fehlschlag.
Bestenfalls können wir darauf hoffen, sie auf der Basis zu beschreiben, was sie unserer Meinung nach getan haben und was wir erwarten, dass sie tun werden. Wird strikte Logik angewendet, so gilt das für jedes einzelne Phänomen im Universum.
Die Annahme, ein Elektron müsse entweder eine Welle oder ein Teilchen „sein“, ja dass es überhaupt irgendetwas „sein“ müsse, verhindert jedes Verständnis für Quantenphysik.
Das Konzept des „Seins“ impliziert in einem Phänomen eine Art metaphysische Essenz oder Qualität, die eine gewisse Unabhängigkeit von seinem Tun aufweist, wie wir es beobachten können.
Diese Dualität zwischen Sein und Tun führt direkt zum Irrtum des Dualismus zwischen Körper und Geist, der fast allen Religionen zugrunde liegt. Und sie führt auch zum Dualismus zwischen Geist und Materie oder Geist und Körper, was zu unlösbaren, dabei aber zugleich auch völlig illusionären Problemen und Paradoxien in der Philosophie, der Psychologie und unseren Vorstellungen über Bewusstsein geführt hat.
Und so ermuntert die auf den ersten Blick harmlose Idee des „Seins“ zu schlampigem, unrichtigem Denken und zu Vorurteilen. Sie erlaubt es uns, idiotische religiöse Ideen zu erschaffen, die uns von einem wirklichen Verständnis abhalten, wie das Universum funktioniert, und verhindert auch, dass wir uns selbst verstehen.
Die Sprache strukturiert Gedanken mindestens im gleichen Grad wie sie Gedanken reflektiert. Nur mit allergrößten Schwierigkeiten können wir einen Gedanken formulieren, der ein Konzept beinhaltet, für das uns ein passendes Wort fehlt. Jedes Wort, das man nicht versteht, repräsentiert eine Idee, der man nicht leicht habhaft werden kann. Andererseits können Worte aber auch Konzepten eine großspurige Realität verleihen, die überhaupt keinen Bezug zur realen Welt hat.
Insbesondere die Satzstruktur bestehend aus Subjekt – Prädikat – Objekt, die im Englischen und in den meisten anderen Sprachen verbreitet ist, verleitet die Anwender dazu in Begriffen zu denken, in denen Subjekte ein getrenntes „Sein“ von dem haben, was sie tun.
Die Exegese, die in diesem Buch vorgestellt wird, vermeidet den Gebrauch von Worten wie „bin“, „ist“ und „sind“ außer in Anführungszeichen mit dem Zweck der Illustration. Es vermeidet das Wort „war“ aus Gründen, die in Kapitel 5 zum Vorschein kommen.
Das Aufgeben von „Sein“ in der Sprache und in den Konzepten führt zu einem strikten Monismus, was jede Art von Geist-Materie- oder Körper-Geist-Dualismus eliminiert.
Wenn wir die Realität von sowohl Geist wie auch Materie oder von Spirituellem und Weltlichem ausdrücken, dann sollten wir dies nur mit Begriffen tun, die beschreiben, was diese Phänomene tatsächlich tun, und nicht, was wir vermuten, dass sie „sind“.
Wenn wir uns ansehen, welche Art von Ereignissen tatsächlich auftreten, dann stellen wir fest, dass wir nur eine einzige Klasse von Phänomenen brauchen, um ihnen Rechnung zu tragen; und es macht keinen Unterschied, ob wir etwas „spirituell“ oder „geistig“ oder „materiell“ nennen.