Das Elefantengrab

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Der Mulika Range Nationalpark glüht in der brütenden Hitze des frühen Nachmittags. Die verbrannten Böden gleichen aus der Luft einer schier endlosen Wüste, und selbst die Ura Sümpfe verdienen ihren Namen kaum. Die lange Trockenzeit hat die vielen Wasserarme ausgetrocknet, das Grün des Elefantengrases ist grau und fahl, und die Hauptstraße vom Ura Parktor zur Kiriyaga Lodge, ein schmales Band zwischen staubbedeckten, blattlosen Sträuchern, schlängelt sich in scheinbar sinnlosen Kurven durch die baumlose Ebene.

Mettler und Tetu überfliegen den Park in großer Höhe von Süden nach Norden. Sie bemühen sich um einen Überblick über den Mulika Range. Tetu versucht, die Hinweise einer Parkkarte, die sie in vierzig, mehr oder weniger gleich große Quadrate zu 25 Quadratkilometern aufgeteilt haben, auf die Landschaft unter ihnen zu übertragen, und Mettler steuert die Piper Cup.

Vom Ura Parktor fliegen sie Richtung Norden, bei Punkt 68 schwenken sie nach Westen, um, nach ungefähr fünf Kilometern, wieder in den Süden des Parks zu steuern. Über den Sümpfen verschieben sie sich erneut nach Westen, und fliegen nun über die Kiriyaga Lodge zum nördlichen Haupteingang des Parks am Fuß der Berge. Sie drehen nach Westen ab, um dann, erneut gegen Süden, den Ura River entlang in die Sümpfe zu gleiten, und, noch einmal nach Westen verschoben, steigen sie vom Ura Swamp Camp zu den Ma-Uri-Plains, dem höchsten Punkt im Norden des Parks. Mettler schwenkt nun nach Osten, um zwischen Ost- und Westflanke pendelnd, nach Süden in die Sümpfe abzufallen.

Die beiden Männer hoffen, den Suzuki der Forscherin auszukundschaften, ein rotweiß gespritzter Mietwagen, der im eintönigen Braungelb der ausgetrockneten Savanne eigentlich leicht zu entdecken sein müßte. Vor allem aus der Luft. Aber obwohl Mettler den Straßen und Pfaden, die kreuz und quer durch den Park führen, seine besondere Aufmerksamkeit widmet, kann er keinen rotweißen Suzuki entdecken, wie überhaupt der Park von Mensch und Tier verlassen zu sein scheint. Kein Gnu, das einsam der Hitze trotzt, kein Zebra, keine Impalas, nichts. Von einer Elefanten- oder Büffelherde ganz zu schweigen. Vielleicht ist es den Tieren des Parks gelungen, sich im spärlichen Schatten der mageren Buschwälder längs des Ura Rivers zu verstecken, oder sie sind geflohen.

Mettler erinnert sich an eine Feststellung Fredi Wipfs, der auf Mettlers erster Safari, der einzigen, die er zusammen mit dem Schweizer Tierfilmer gewagt hat, behauptete: Der Jäger weiß, daß scheues Wild nach ein oder zwei Schüssen aus einem Gebiet, in dem ein Mann jagen kann, hinauswechselt, ganz gleich ob das Gebiet nun ein Tal, ein Sumpf oder eine Hügelkette ist, in Wyoming, der Lüneburger Heide oder in Afrika liegt. Der Kerl klaut bei Hemingway.

Tatsache ist, daß in den Ura Sümpfen gewildert wurde, und dies nicht nur mit einem Schuß.

Nach gut drei Stunden erreichen Mettler und Tetu erneut den Ausgangspunkt ihrer Pendelflüge, das Ura Parktor im südöstlichsten ihrer Planquadrate. Obwohl sie beide schon rechtschaffen müde sind -- der Lärm des Motors, die Windgeräusche, das ständige Wenden waren, weiß Gott, anstrengend -- entschließen sie sich, wenigstens das Gebiet um das Ura Parktor, in dem die Forscherin das letzte Mal gesehen wurde, genauer anzuschauen.

Mettler drosselt die Geschwindigkeit, läßt die Piper Cup tiefer sinken, bis sie schließlich nur wenige Meter über das Elefantengras der Ura Sümpfe hinwegflitzt. Und wieder beginnt das Pendeln und Kreisen, um das Parktor, zwischen Sumpf und Straße. In immer neuen Bögen, die Piper von einer Schräglage in die andere kippend, sucht Mettler jeden Quadratmeter der Straße und der näheren Umgebung nach Jills Suzuki ab.

Tetu, bald in die unheimliche Bläue des Himmels geschleudert, dann plötzlich zum nahen Boden gedreht, erstarrt. Das hat nichts mehr mit Fliegen zu tun. Die Kiste ist doch keine Schaukel.

Als Mettler nur wenige Meter über der Straße auf die Bäume der Uferböschung zu rast, im letzten Moment das Flugzeug hochzieht und, die Baumkronen streifend, über diesen das Flugzeug wieder abdreht, reißt Tetu eine Papiertüte aus der Ablage und schreit: «Aufhören, verdammt noch mal, bist du verrückt geworden?»

Mettler beschleunigt und fliegt so ruhig als möglich in Richtung Kiriyaga Lodge. Nach ungefähr zwanzig Minuten landet Mettler sanft auf dem Flugfeld etwas außerhalb der Lodge, parkt die Piper im struppigen Grasheu neben der Piste und klappt die Türen hoch. Er weiß, was Tetu braucht. Frische Luft, Ruhe, Wasser. Ein nasses Tuch, um sich abzuwischen. Vor allem die Papiertüte mit dem Erbrochenen muß weg. Mettler versorgt Tetu schnell und routiniert. Dann hilft er Tetu aus dem Flugzeug und setzt sich mit ihm in den Schatten der Flugzeugflügel, dem einzigen Schatten weit und breit.

«Und nun? Was machen wir jetzt? -- Im Schatten deiner Hoppelkiste geht es mir ja wieder gut, doch Jill Parker werden wir so nicht finden.»

«Meinst du, daß wir ... Wieder in die Luft?»

«Um Gottes Willen! Die Tüte, schnell.»

Mettler lacht und schlägt vor: «Laß uns in die Lodge gehen. Ich kenne den Manager...»

«Ja. In die Lodge. Ein kühles Bier. Vielleicht, daß ich mir ein bißchen Mut ansaufe.»

Die Kiriyaga Lodge ist eine Hotelanlage im Busch. Die bestehende Biegung eines Flußchens wurde gewissermaßen kurzgeschlossen. Die so entstandene Insel, die mit der Aushebung des neuen Flußlaufs zu einem kleinen Hugel aufgeschuttet wurde, bildet ein idealer Ausguck in die Steppe. Das Wasser schutzt einerseits den Besucher aus Europa und den USA vor wilden Tieren und lockt andrerseits die Tieren zu den Wasserstellen. Antilopen und Gazellen aller Art, Elefanten, Zebras und Giraffen, nichtsdestoweniger das Warzenschwein, tummeln sich am jenseitigen Ufer. In der Biegung des Flusses gibt es reichlich Futter, und darum besuchen auch immer mehr Hyanen, Geparden, ja selbst der Koenig der Tieren, der majestatische Loewe die Weiden um die Lodge. Der ungekronte Star aber ist Hannibal, der aelteste Elefant von Kenia, dessen Stoßzaehne ueber drei Meter reichen …

Der Fotoprospekt, den Mettler Tetu in die Hand drückt, ist eine kleine Vorbereitung auf den Luxus, mit dem weiße Naturfreunde in der Wildnis verwöhnt werden. Tetu blättert flüchtig ein paar Seiten um, rümpft die Nase und gibt Mettler das Werbeblättchen wieder zurück: «Hier bleib ich nicht, das versprichst du mir.»

Vom Flugfeld führt ein Sträßchen über eine Holzbrücke zum Parkplatz auf der Insel. Mächtige Stoßzähne aus Metall, senkrecht in den Boden gerammt, bilden einen Torbogen, in dessen weiße Farbe die Touristen ihre Initialen, Namen und Herzen ritzten. Ein P.H. liebt eine S.I., Victor was here und der Coiffeurmeisterverband. Auch die üblichen Lebensbäume und Strichmännchen fehlen nicht. Im Gras liegen sonnengebleichte Tierschädel und Elefantenknochen, und die Fahrzeugboxen der Besucher sind mit Massaischildern geschmückt.

Auf dem Platz stehen bestimmt zwanzig Kleinbusse. ‹Mulika Tours›, ‹Wildlife Ltd.›, ‹Hannibal Reisen› und ‹Safari sunshine›. Die Fahrer warten gelangweilt neben den Fahrzeugen auf ihre Gäste, die demnächst zum vorabendlichen Fototrip aufbrechen wollen. Dreißig Kleinbusse rund um fünf schlafende Löwen. Kolonnenfahrt die Ura Senke entlang. Videohalt am ‹Hippopool›. Und, wie könnte es anders sein, die eigentliche Sensation des Mulika Range Nationalparks: ‹Looky, looky! Hannibal!›

Aus der Hotelhalle trudeln bereits die ersten Touristen. Ein begeistertes Lärmen, ein Hallo als breche man zu einer Treibjagd auf. Die Männer in bedruckten T-Shirts, Rangerhüten, Stoffmützen oder eine dieser siebartigen Schirmmützen auf dem Kopf, in kurzen, kunststoffglänzenden Hosen, mit Video- oder Fotoausrüstungen behangen, drängen zum Aufbruch. Die Frauen in viel zu knappen Blusen und Hosen -- weißes Wabbelfett, das aus unmöglich verknoteten Tüchern quillt, die merkwürdigsten Sonnenbrillen auf der Nase, schmuckbeladen und geschminkt, als würden sie als Lockvögel ausgesetzt -- rennen zwischen den Safaribussen und der Lodge hin und her, haben etwas vergessen oder müssen noch ganz kurz auf die Toilette. Amerikanische Riesen mit dicken Teenagern, Herden von deutschen Rentnern, blasse Paare, die sich aus lauter Langeweile, und weil sie zu viel Geld haben, in den Busch verirrten, wo sie sich den Magen verdarben. Italienische Sportvereine, Holländer, Belgier ...

Unter den Gästen entdeckt Mettler den Manager der Lodge, Joseph Mbila, ein Kikuyu wie Tetu. Ein kleiner, untersetzter Mann, dessen Alter schwer zu schätzen ist. Die stark gewölbte Stirn und seine leicht hervortretenden Augen, die immer auf der Spur eines Geheimnisses zu sein scheinen, lassen ihn kindlicher aussehen als er ist. Mbila ist ein Schlitzohr. Die Freundlichkeit, mit der Mbila die Fremden empfängt, seine Galanterie, die jeden, der mit ihm zu tun hat, glauben läßt, Mbila habe ihn aus den vielen Gästen ausgewählt und wünsche seine Freundschaft, gehören zu einer Taktik, die nur darauf abzielt, die weißen Gäste nach Strich und Faden auszunehmen. Trotzdem schätzt Mettler den Manager, der seine Berechnungen wie ein Spiel betreibt. Ein Spiel, das ihm mehr Spaß macht als es ihm einbringt.

Als Mettler vor zwei Jahren das Rafiki Beach Hotel übernahm, glaubte er, von einem kenianischen Kollegen im Hotelwesen mehr lernen zu können als aus europäischen Fachzeitschriften -- die Gastronomie aus der Sicht der Luzerner Hotelschulköche -- und so bat er Mbila, ihn in die Kunst der Verführung weißer Gäste einzuweihen. Und Joseph Mbilas Rezept war so einfach wie erfolgreich: Loben, loben, loben.

Tetu und Mbila verstehen sich auf Anhieb, vor allem nachdem Tetu seinem Landsmann die Probleme mit Mettlers Teufelsmaschine geschildert hat. Daß Mettler sich an der Suche nach Jill Parker beteiligt und auch gleich einen Polizisten mitbringt, erstaunt Mbila zwar, aber weil er ebenfalls hofft, daß Jill Parker bald gefunden wird, und weil Mettler auf keinen Fall in der Lodge übernachten will -- man muß die Vermißte dort suchen, wo sie verloren gegangen ist -- überläßt er den beiden seinen Landrover einschließlich Campingausrüstung und Verpflegung für die nächsten drei Tage. Tetu hat noch nicht einmal sein Bier ausgetrunken, da rumpeln sie schon wieder in den Park hinaus.

 

Die Gipfel des Kiriyagas sieht man auch während der Trockenzeit nur in der Nacht. Vielleicht noch am frühen Morgen, bevor sich der ewige Schnee in Wolkenschwaden versteckt, die sich um den Sitz Ngais, dem Gott der Kikuyus, versammeln. Während des Tages werden auch die letzten Wassertropfen aus den Ebenen aufgesogen und durch die Täler, Schluchten und Schründe zu den Gipfeln geblasen. Doch jetzt, kurz nachdem der Mond aufgegangen ist, leuchtet der Vulkankegel durch das Geäst der Fieberakazien nah und klar. Im Mondlicht gleißendes Gestein, schroffe Felsformationen, die in den nächtlichen Himmel stoßen.

Mettler und Tetu erreichen den abgelegenen Zeltplatz des Mulika Range Nationalparks kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Hier, im Ura Swamp Camp, haben Jill Parker und ihr Freund Teddy Huber zuletzt gezeltet, und hier will Mettler mit seiner Suche nach der Forscherin beginnen.

Das Camp macht einen verwahrlosten Eindruck. Die Türen zum einzigen Duschhäuschen sind aus den Angeln gerissen, das Wasser abgestellt. Eine wacklige Bude, die mit ‹office› angeschrieben ist, wurde zugenagelt. Der Süden des Parks ist seit Monaten für Touristen gesperrt. Wilderer. Trotzdem schlagen Mettler und Tetu hier ihr Zelt auf, ein billiges Nylonzelt, mit dem sie ihre liebe Not haben. Die Heringe lassen sich nicht versenken, werden auf dem harten Boden stumpf und krumm, die Zeltstangen stehen schief, und die Plane wird nicht glatt, wo immer sie auch ziehen und zerren. Schließlich schleppen sie zwei Hocker und eine Bierkiste aus dem Auto und fachen ein Feuer an.

Es ist lange her, seit Tetu im Freien ein Feuer machte. Als kleiner Junge, als er die Tiere seines Vaters hüten mußte. Das Feuer ist Frauensache, ein Mann hat damit nichts zu tun. Und in der Wildnis übernachtet nur, wer sich verstecken muß. Diebe und Gesindel.

Tetu ärgert sich. Über Mettler, die Weißen ... Den ganzen Tag eine einzige Hast, nicht einmal sein Bier ließ er ihn austrinken und jetzt? Camping. Was ist denn an einer Nacht im Freien so spannend? Um ein Feuer sitzen? Ein seltsames Vergnügen, im Grunde genommen geschmacklos. Warum glauben Wasungus, sie müßten mit Sack und Pack, mit einem vollständigen Haushalt und Kisten voller Vorräte, an die entlegensten Orte des Landes fahren, um in der Einöde Spaghetti abzukochen?

Daß er und Mettler nun den gleichen Blödsinn machen, der wahrscheinlich schon Jill Parker zum Verhängnis wurde, nur weil Mettler glaubt, er müsse auf den Spuren der Vermißten wandeln, hätte er noch gestern, als er Mettler bat, mit ihm in den Mulika Range zu fliegen, nicht für möglich gehalten. Der Mann ist gefährlich, nicht nur seine Fliegerei.

Mißmutig stochert Tetu in einer Büchse Corned Beef herum, die Mettler, der darauf bestand, daß sie etwas essen, für sie beide geöffnet hat. Das Fleisch schmeckt ihm nicht, und trotzig, auch verletzt durch Mettlers Bevormundung, entschließt er sich für eine Bierdiät. Dann, bettreif und vergeblich gegen den Schlaf ankämpfend, nickt Tetu auf seinem Stühlchen ein.

Auch Mettler ist müde. Trotzdem hockt er auf seinem Schemel, eine Whiskyflasche zwischen den Knien, und versucht im Schein des Feuers, die Papiere zu lesen, die er aus seiner Mappe kramte. Vor allem der letzte Artikel der ‹Daily Nation› interessiert ihn, in dem der Reporter Johnson Odulla in einem zusätzlichen Kästchen alle Personen und Daten im Zusammenhang mit der Vermißtmeldung aufgelistet hat.

«Fakten und Daten:

Am 28. März meldeten Mr.$ und Mrs.$Parker der Polizei, daß ihre Tochter von einem Ausflug in den Mulika Range Nationalpark nicht wie angekündigt zurückgekehrt sei.

Am 13. März brach Jill Parker zusammen mit ihrem Verlobten, Mr.$Teddy Huber, zu einer mehrtägigen Reise auf.

Am 20. März blieben die beiden mit ihrem Leihwagen in der Nähe der Kiriyaga Lodge liegen.

Am 21. März flog Mr.$Huber nach Nairobi, um dort eine neue Benzinpumpe für die Reparatur des Leihwagens zu organisieren.

Am 22. März wurden die Ersatzteile, auf Anordnung Mr.$Hubers in den Park geflogen, er selbst flog

am Morgen des 23. März nach Mombasa.

Am Nachmittag des 23. März begann der Mechaniker der Lodge, Joseph Waranga, mit der Reparatur des Leihwagens, die er

am 25. März gegen zwölf Uhr beendete. (Waranga behauptet, daß der Wagen nicht wegen der defekten Benzinpumpe liegenblieb, sondern wegen eines Vergaserschadens.)

Am 25. März um 14.30 verließ Jill Parker die Kiriyaga Lodge.

Um 15.00 Uhr traf Jill Parker in der Station der Parkverwaltung ein, und

um 15.15 fuhren sie und der Chef der Parkwächter, Mr.$Denis M. Mwilitsa, zum Ura Swamp Camp, um Jill Parkers Zelt abzubauen. (Die Ura Swamps sind seit Monaten ein beliebtes Tagesversteck der Wilderer aus Somalia.)

Gegen 16 Uhr wurde Mr.$Mwilitsa von Mr.$Peter Hunt, dem Ornithologen des Parks, im Ura Swamp Camp abgeholt, damit Jill Parker ihn nicht mehr in die Station zurückfahren mußte.

16.19 erreichte Jill Parker, vorausgesetzt die Angaben des Parkwächters Stanley Muruti stimmen, den Ura Parkausgang. Muruti behauptet, Miss Parker habe ihm die Zeltplatzgebühren bezahlt und sei dann, ohne auf eine Quittung zu warten, Richtung Kiriyaga Lodge gefahren.

Heute, am 5. April fehlt von der vermißten Forscherin Jill Parker nach wie vor jede Spur.»

Ein kühler Nachtwind aus den Bergen streicht durch die Wipfel der Akazien. Die Zweige des Löwenohrs, die einzigen Büsche, die Mettler kennt, wahrscheinlich nur wegen ihres seltsamen Namens, stachelige Blütenquirlen, die wie Bälle aussehen und in gleichmäßigen Abständen längs der Stengel aufgereiht sind, wiegen sich im Wind, vom Schein des Feuers begleitet. Es riecht würzig nach sonnengetrockneten Kräutern, nach Harz und dürrem Holz, Regen, feuchtem Staub ... Gerüche, wie sie für den Busch, die Sümpfe während der Nacht so typisch sind, und die Mettler zufrieden und glücklich machen; oder sind es der Whisky, der erste des Tages, die Pfeife und das Flackern des Feuers?

In der Luft summen Insektenschwärme. Um die Kronen der Fieberbäume jagen streitend ein paar Fliegende Hunde, auch den seltenen Gesang eines Ziegenmelkers glaubt Mettler zu hören, und hinter dem Duschhäuschen hustet ein Pavian. Aus der Ferne dringt das Quaken der Frösche, ein mehrstimmiges Knarren und Zirpen, der leiernde Atem des nahegelegenen Sumpfes. In der Steppe schreien Zebras, heulen Schakale oder Hyänen -- oder sind es die Brunstrufe eines Nilpferds?

Mettler weiß es nicht. Er kennt die Stimmen der Tiere nicht, deren Schnauben oder heiseres Grunzen ihn mitunter so nahe dünkt, daß er erschrickt. -- Und Tetu schläft.

Mettler steht auf, um neues Holz in die Glut zu legen, als ein Schuß durch die Nacht kracht. Hinter den Sümpfen blenden ein halbes Dutzend Scheinwerfer auf. Weitere Schüsse, kurz darauf das erste Stottern eines Maschinengewehrs. Wilderer. Mettler tritt das Feuer aus, reißt den schlafenden Tetu von seinem Hocker und rollt mit ihm ins nahe Gestrüpp.

Zu keiner Zeit ist die Nacht so still, so finster und abweisend wie kurz vor der ersten Dämmerung. Der Mond ist untergegangen, die Luft ist kalt und feucht, die Winde haben sich beruhigt, und der Himmel bezieht sich mit einem feinen Wolkenschleier, der die Sterne verblassen läßt.

Der Elefantenbulle steht bei einer gut meterhohen Sasimua. Er tastet mit seinem Rüssel den Strauch ab. Er wühlt durch die kurzen Blätter, rollt den Rüssel um die untersten Äste und tritt mit einem Vorderbein die Staude aus dem Boden. Mit dem Rüssel schlägt er nun den Busch gegen seine Knie, befreit die Wurzeln von Erde und Staub und schwingt sich das Futter ins Maul.

Während die alten Backenzähne die Sasimua zermalmen und sich alles, was er nicht verdauen kann, seitwärts aus dem Maul schiebt, greift der Rüssel bereits ins Geäst einer Bleistiftzeder, die nur wenige Schritte neben dem Johanniskrautbusch wächst. Ein alter, zerzauster Baum, der schon einige Elefantenbesuche überstanden hat. Der Rüssel legt sich um einen gesunden Leitast, biegt ihn zur Seite und knickt ihn entzwei. Geschickt wickelt der Elefant seinen Rüssel um das feinere Astwerk und streift die nadelähnlichen Blätter von den Zweigen und führt ein Büschel nach dem anderen ins Maul. Doch nur wenige Minuten später greift er zum nächsten Ast, den er zu Boden reißt, und nachdem er auch diesen leer gefressen hat, bricht er dem Baum die Krone.

Alice schläft nicht gut. Unruhig wälzt sie sich in ihrem Bett von einer Seite auf die andere, verheddert sich in Bettlaken und Moskitonetz, bis sie schließlich verärgert aufsteht. Seit sie mit Mettler zusammen ist, schläft sie nicht mehr gern allein. Sie will sich auf der Terrasse an die frische Luft setzen, und, ohne Licht zu machen, sucht sie nach einer Kanga, einem leichten Baumwolltuch, in das sie sich einwickelt. Im Spiegel erhascht sie ihr nacktes Abbild und stellt amüsiert und befriedigt fest, daß ihre Angst, sie sei zu dünn geworden, sich nicht bestätigt. Sie streckt sich und mit einer koketten Drehung, sich mit beiden Händen über Bauch und Hüften streichend, geht sie auf die Terrasse hinaus.

Hier ist die Temperatur tatsächlich angenehmer. Vom Meer her weht ein strenger Wind, der Alice für einen kurzen Moment sogar frösteln läßt.

Ob Mettler und Tetu jetzt wohl in dem Zelt liegen, das er sich von Mbila leihen wollte? Irgendwo im Busch, am Fuß des Kiriyagas, gut 400 Kilometer von ihr entfernt? Ob er sie wohl ebenso vermißt wie sie ihn?

Alice erinnert sich an ihre Safari mit Mettler, die einzige, die sie je zusammen gemacht haben. Der Schweizer Fredi Wipf hatte sie eingeladen. Wipf und Jill Parker. Die sportlich schlanke Elefantenforscherin.

Wipf besitzt ein kleines Reiseunternehmen, eigentlich nur einen umgebauten Lastwagen, mit dem er quer durch Kenias Nationalpärke fährt, eine Handvoll tollkühner Touristen auf der Ladebrücke, die nach Abenteuern lechzen, je beschwerlicher, desto aufregender, ein dummdreister Haufen, der sich einbildet, diese Art zu reisen, entspreche dem Leben der Nomaden.

Eine Art Hochzeitsreise sollte es werden. Du liebe Zeit. Nachts krabbelten sie in ein Zelt und wickelten sich in Schlafsäcke, in denen sie sich nicht bewegen konnten. Sie lagen beieinander, ohne einander zu spüren, und um zu zweit in einen Sack zu kriechen, waren diese zu klein, oder sie beide zu dick. Jedes Hoteli längs der Straße hätte ihnen einen süßeren Honeymoon beschert. Tagwache um fünf Uhr morgens, Frühpirsch, Essen fassen, Morgen-, Mittag-, Abendpirsch, immer hinter irgendwelchem Großwild her. ‹the big fives›; Büffel, Elefant, Leopard, Löwe und Rhinozeros. Sie langweilte sich entsetzlich, und für Mettler war die Reise eine Tortur. Fredi Wipf benutzte seine Touristen als Statisten für seine Abenteuer, als Publikum, das seinen Heldentaten applaudierte. Jeden Abend saßen sie im Kreis begeisterter Safarifreunde und sangen Lieder, die Mettler auf ihren Wunsch widerwillig übersetzte. Soldaten- und Studentenlieder aus Europa. ‹Auf, auf! Zum fröhlichen Jagen!› oder ‹Wie oft sind wir geschritten auf schmalem Negerpfad ...›

Auch sie besuchten damals das Ura Swamp Camp, in dem Jill Parker mit Teddy Huber war. Alice kichert leise vor sich hin. Ja, das war der erste Abend, an dem es zum Krach zwischen Wipf und Mettler kam.

Sie saßen um das berühmte Lagerfeuer, Wipf spann sein Jägerlatein, als plötzlich ein Mann aus dem Busch auftauchte, der sie anschrie, ob sie alle taub seien, ein Elefant habe sein Zelt, in dem er und seine Frau bereits geschlafen hätten, niedergetrampelt, die Fenster seines Landrovers eingedrückt und den Wagen umgeworfen. Unter Wipfs Anleitung stellten sie den Landrover wieder auf die Räder, derweil der ausgehungerte Elefant den Proviant einer weiteren Reisegruppe vom Autodach fegte. Die Leute kletterten auf den Wasserturm und schrieen um Hilfe. -- Eine Sternstunde für den Safarihelden Fredi Wipf. Nachdem er den Reiseleiter der Konkurrenz bloß gestellt hatte, demonstrierte er, wie der ‹Jäger› eine solche Situation meistert. Er setzte sich ans Steuer seines Geländewagens und fuhr laut hupend auf den Elefanten los. Der Elefant rannte davon. Aber Wipf nahm die Verfolgung auf, er raste hinter dem Elefanten her und fuhr ihm gegen die Hinterbeine. Mehrmals. Und obwohl sich der Elefant längst in die offene Steppe zu retten versuchte, brach Wipf seine Jagd nicht ab.

 

Die Touristen platzten fast vor Bewunderung, nur Jill und Mettler waren außer sich. Als Wipf triumphierend wieder ins Zeltlager stelzte, schrie Mettler ihn an, mit einem Auto auf einen Elefanten los zu donnern, sei dumm, gefährlich und gemein, schon morgen drehe der Elefant den Spieß um und renne den erstbesten Safaribus über den Haufen. Wipf lachte nur. Dann spottete er, man dürfe sich von einem Elefanten nicht alles gefallen lassen. Die Kerle würden sehr schnell begreifen, wer der Stärkere sei. Der Rotzlöffel, den er in den Busch gejagt habe, greife kein Auto mehr an. Im Gegenteil. Der Lümmel wisse, und werde es sein ganzes Leben lang nicht vergessen, daß sich 140 PS mit einem Elefanten durchaus messen könnten. Zu seinem Glück. Im anderen Fall würde er nämlich abgeknallt, von der Parkverwaltung und auf Drängen der Touristen, da die Tierliebe gewisser Damen und Herren ja bekanntlich dort aufhöre, wo die Angst beginne, und man in die Hosen scheiße. -- Er redete und redete. Jill und Mettler sagten nichts mehr.

War dies der Anfang einer Freundschaft zwischen Jill und Mettler? Einer Beziehung? Nein. Mettler schwärmte für die Forscherin, machte ihr den Hof. Verliebt waren die beiden nie.