Buch lesen: «Kurz und schmerzlos»

Schriftart:

Peter Gerdes

Kurz und schmerzlos

Kriminalgeschichten


Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals »Ostfriesische Krimitage«. Die Krimis »Der Etappenmörder«, »Fürchte die Dunkelheit« und »Der siebte Schlüssel« wurden für den Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2011 im Leda-Verlag)

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Ingo_Bartussek/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6446-1

16.50 ab Oldenburg

Wieder einmal stand er zu früh im Gang. Jedes Mal stand er zu früh im Gang. Kaum hatte der Zugchef via Lautsprecher verkündet, dass man den nächsten Bahnhof »in wenigen Minuten« erreichen werde, stand Stahnke im Gang, die Aktentasche bleibschwer am Schulterriemen und das rollenbewehrte Reiseköfferchen auf den Hacken, und ließ sich durchschütteln, von unerwarteten Kurven abwechselnd gegen Zugfenster und Abteilwand schleudern und von plötzlichen Weichenpassagen fast von den Füßen reißen. Statt bequem im Polstersitz hocken zu bleiben, bis draußen die ersten Ausläufer der Bahnsteige auftauchten, was ja meistens doch etwas länger als nur ein paar Minuten dauerte. Wenn es aber so weit war, blieb eigentlich immer noch genügend Zeit aufzustehen, das Gepäck aufzunehmen und gemessenen Schrittes in Richtung Ausgang zu gehen. Der Zug fuhr schon nicht vorzeitig ab – dafür sorgte die Schlange der anderen, die wieder einmal zu früh im Gang gestanden hatten.

Wieder so eine Weiche. Im letzten Moment konnte er sich mit der linken Hand am Fensterrahmen abstützen, sonst hätte er die vor ihm stehende Frau heftig angerempelt. Das hätte übel ausgehen können, denn die Frau trug ein schlafendes Kind in den Armen und eine ballondicke Strandtasche über der Schulter. Offenbar war sie unterwegs zur Küste, wollte wohl in einen Sielort, vielleicht auch auf eine der Inseln, auf jeden Fall ans Wasser, in die Sonne, in einen gemütlichen Strandkorb. Wie sie sich hier auf den Beinen hielt, ohne sich irgendwo festhalten zu können, war ihm schleierhaft. Offenbar verfügten Mütter über Fähigkeiten, die zu verstehen Männer nicht geschaffen waren.

Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn zunächst misstrauisch, ehe sie ein nachsichtiges Lächeln aufsetzte, als sei er ebenfalls ein Kind, wenn auch ein besonders großes und tapsiges. Peinlich berührt versuchte er ein Antwortlächeln, das die Frau aber nicht mehr erreichte, da sie ihren Blick bereits wieder nach vorne gerichtet hatte.

Endlich kam der Zug zum Stillstand, die Türen wurden aufgestoßen und die Schlange der Passagiere begann sich zu dehnen, wurde zur Raupe, die nun aus eigenen Kräften auf ihren vielen Füßen hin und her schwankte. Kühle Luft drang von Bahnsteig in den stickigen Gang. Ihm war, als sei der Geruch von Rauch und Ruß immer noch wahrzunehmen, obgleich hier doch bestimmt seit Jahrzehnten keine Dampflok mehr gefahren war.

»… Anschluss auf Gleis sieben.« Stahnke bekam nur den Schluss der Durchsage mit, als er die beiden Gitterstufen zum Bahnsteig hinabstieg, seinen Rollkoffer hinter sich her zerrend, aber er kannte seinen Reiseplan ohnehin auswendig. Gleis sieben, das war seine Verbindung, 16.50 Uhr ab Oldenburg, über Bad Zwischenahn, Leer und Emden nach Norddeich. Sieben Minuten Zeit für den Bahnsteigwechsel, kein Problem.

Die Menschenmenge wogte die ausgetretenen Stufen hinab in die Katakomben unter den Gleisen. Unmittelbar vor Stahnke gingen zwei Männer, die ihm bereits im Intercity aufgefallen waren, kaum dass der Hannover verlassen hatte. Der eine trug einen dunkelgrauen Mantel, unter dem scharfe Bügelfalten und polierte Lackschuhe von Akkuratesse zeugten; Aktenkoffer und Laptop wiesen ihn als Geschäftsmann aus. Der andere hatte ausgewaschene Jeans und abgeschabte Camel-Boots an. Dass er um die Körpermitte herum so ausgebeult aussah wie das Michelin-Männchen, lag nur zum Teil an seinem gesteppten Plastikanorak; sein aufgedunsenes Gesicht verriet, was seinen Wanst so hatte anschwellen lassen. Statt einer Reisetasche schwenkte der Mann eine Plastiktüte, als wollte er sich mit aller Macht zum Penner abstempeln.

Zwei grundverschiedene Typen also, die sich denn auch auf dem Hannoveraner Bahnsteig keines Blickes gewürdigt hatten. Stahnke erinnerte sich deutlich daran. Kaum aber war der IC losgefahren, hatten beide zielstrebig den Großraumwaggon in der Zugmitte aufgesucht, sich einander gegenüber niedergelassen und ein ebenso intensives wie leise geführtes, von den üblichen Zuggeräuschen vollkommen überdecktes Gespräch begonnen. Wie es der Zufall wollte, fast unter Stahnkes Augen.

Am Fuß der Treppe strebte die Mehrzahl der Reisenden nach rechts, Richtung Gleis sieben. Auch das ungleiche Paar blieb im Hauptstrom, nach wie vor Seite an Seite. Beide sehen aus wie Mitte dreißig, überlegte der Hauptkommissar; der Suffkopp mag in Wirklichkeit vielleicht ein paar Jahre jünger sein, für einen verlorenen Sohn aber reicht es vom Alter her auf keinen Fall. Brüder? Wenn, dann Stiefbrüder, aber auch danach sah es eher nicht aus. Es musste etwas anderes sein, das diese beiden Männer verband.

Aber was ging ihn das eigentlich an? Er hatte Urlaub, feierte genauer gesagt aufgelaufene Überstunden ab. Der Lehrgang in der Polizeiakademie Hannover – »Möglichkeiten der Rasterfahndung im Computerzeitalter«, du lieber Himmel! – hatte ihn mächtig geschlaucht, da kamen ihm ein paar Tage Erholung gerade recht. Und zwar nicht etwa zu Hause in Leer. Freunde würde er besuchen, welche von früher, die von des Schicksals und des beruflichen Fortkommens Mächten weit in den Süden verschlagen worden und jetzt an die Küste zurückgekehrt waren, genauer gesagt nach Norddeich. Sie hatten ihn eingeladen. Das verhieß gute Gespräche, womöglich im Strandkorb mit Blick aufs Meer, lange Spaziergänge und noch längere Abende bei Skat und Bier oder Billard und Wein. Vielleicht auch Billard und Bier oder … Jedenfalls freute er sich auf eine unbeschwerte Zeit. Und er dachte nicht daran, sich auch nur die Hinfahrt selbst zu vermiesen, indem er seinen beruflichen Reflexen nachgab und in allem und jedem etwas Gesetzwidriges witterte.

Anderseits waren die beiden Typen wirklich auffällig. Geradezu verdächtig.

Jetzt schwenkten sie nach rechts, die Treppe hinauf. Na prima, natürlich ging es hier zum Gleis sieben! Also würde er diese Gestalten auch bis Leer nicht loswerden. Vermutlich sogar bis Norddeich. Wenn er sich jetzt nicht endlich zur Ordnung rief.

Er verlangsamte seinen Schritt, entschlossen, die beiden Männer ganz gezielt aus den Augen zu verlieren.

Etwas stupste ihn weich in die Seite. Erschrocken drehte er sich um: die Frau mit dem Kind und der Strandtasche. Das ballondicke, sperrige Ding hatte ihren Überholversuch vereitelt. Die Frau lächelte entschuldigend. Diesmal bekam er eine angemessene Erwiderung hin, was seine Stimmung sofort wieder hob. Und ein Blick nach vorne stellte seine Urlaubslaune endgültig wieder her.

Das ungleiche Paar nämlich war in der Menge verschwunden.

Der Bahnsteig war gepackt voll, und als der Zug einrollte, setzte ein Unheil verheißendes Gedränge und Geschiebe ein. Wohl dem, der eine Platzkarte hat, dachte Stahnke. Er hatte keine. Dafür hatte er Glück, denn als der Zug zum Stehen kam, befand sich eine der Waggontüren direkt vor seiner Nase. Ungeduldig verfolgte er den Tröpfelstrom der Aussteigenden, die augenscheinlich froh waren, endlich aus dem Gang herauszukommen, in dem sie vermutlich unnötig lange gestanden hatten. Dann reckte er seine breiten Schultern, sperrte den Einstieg einen Augenblick lang frei und gab der Frau mit dem Kind einen Wink. Diesmal schenkte sie ihm ein warmes Lächeln voller Dankbarkeit, als sie in seinem Schutz samt ihrer schlummernden Last freihändig die Stufen erklomm.

Drinnen begann der Kampf um die freien Plätze. Der erste Großraumwagen, durch den sich schob, war komplett ausgebucht. Erst im nächsten hatte er Glück: drei freie Plätze an einem Tisch. Zwar saß er nicht gerne so beengt, da aber bereits die ersten Platzsuchenden aus der Gegenrichtung eintrafen, überlegte er nicht lange und klemmte seine knapp zwei Zentner hinter die Tischkante.

Die Frau mit dem Kind nahm ihm gegenüber Platz.

Er musterte sie verstohlen, während sie das Kind vorsichtig auf den Fensterplatz gleiten ließ und in ein Reiseplaid wickelte, das sie aus ihrer Ballontasche gezerrt hatte. Die Frau war klein, blond, schlank und zierlich. Ausgesprochen hübsch fand er sie mit ihren verspielten Ohrringen, die an kleine Mobiles erinnerten, und dem kaum geschminkten Gesicht. Auch das Kind war niedlich, pausbackig und stupsnasig; aus seiner Kapuze quollen braune Locken hervor. Durch das hektische Gewirr ringsum ließ es sich in seinem Schlaf kein bisschen stören. Beneidenswert, fand Stahnke.

Er räusperte sich. »Fahren Sie auch nach Norddeich?« In einem Zug wohl die denkbar unverfänglichste Gesprächseröffnung.

Sie schrak zusammen, als hätte er sie angebrüllt, und zeigte wieder die ängstliche, misstrauische Miene von vorhin. Dann aber entspannte sie sich ein wenig und antwortete: »Nein. Wir steigen schon in Emden aus.«

Er nickte, als habe er keine andere Auskunft erwartet, und bemühte sich um einen möglichst freundlichen und begütigenden Gesichtsausdruck. Offenbar reiste die Frau nicht sehr oft, vielleicht auch einfach nicht oft allein, und war durch die Verantwortung für sich und vor allem ihr Kind verunsichert. Na ja, dachte er, jetzt bin ich ja hier. Vielleicht kann ich sie ein wenig unterstützen.

»Wie alt ist denn der Kleine?«, fragte er. Je normaler, desto weniger beunruhigend die Frage.

»Drei Jahre und vier Monate.« Sie hatte ihre Fassung zurückgewonnen und schien einer harmlosen Unterhaltung nicht gänzlich abgeneigt. »Er hat Probleme mit den Bronchien, wissen Sie, und kann deshalb nachts oft nicht schlafen. Daher bin ich froh über jede Stunde, die er tagsüber schläft.«

Darüber dachten die meisten Eltern anders, erinnerte sich Stahnke; Kinder, die nachts wach lagen und weinten, hinderte man am Tage zumeist am Schlafen, da sie sonst in der folgenden Nacht erst recht nicht in den Schlaf zu bekommen waren. Aber für chronisch kranke Kinder galten gewiss andere Regeln. Er nickte verständnisvoll.

Die Frau hatte eine Zeitung aus ihrer Tasche gekramt und aufgeschlagen. Allzu groß schien ihre Lust auf eine Unterhaltung also doch nicht zu sein. Na denn, wie auch immer. In Norddeich würde es mehr als genügend Gelegenheit zu interessanten Gesprächen geben.

Aber doch merkwürdig. Die Frau wollte gar nicht ans Meer; warum dann diese Strandtasche? Besaß sie denn kein anderes, geeigneteres Behältnis? Na, wie auch immer. Wenigstens besser als eine Plastiktüte.

Der Zug ruckte an und begann zu rollen. Am anderen Ende des Großraumwaggons richteten sich gerade die letzten Passagiere, die noch reguläre Sitzplätze hatten ergattern können, häuslich ein, während zwei Nachzügler die Notsitze zwischen den Gangfenstern herunterklappten. Stahnke warf einen mitfühlenden Blick zu ihnen hinüber – und traute seinen Augen nicht: Da war es wieder, das ungleich Paar! Aktenkoffer, Laptop und Plastiktüte wurden unter die Sitze geschoben, Lackschuhe und Camel-Boots nebeneinander gestellt, und schon steckten die Köpfe wieder zusammen. Zusammengezogene Augenbrauen ließen eine ernste Thematik erahnen. Verhandlungen vielleicht? Ging es womöglich um ein Geschäft? Aber was für Geschäfte konnten zwei so ungleiche Typen hier im fahrenden Zug miteinander tätigen?

Eine Frage, auf die es viele mögliche Antworten gab. Darunter so ziemlich alle illegalen Möglichkeiten, die sich denken ließen.

Offenbar hatte er die beiden eine Kleinigkeit zu lange angestarrt, denn plötzlich blickte er genau in die Augen des Gutgekleideten. Dunkle Augen, ein sehr intensiver Blick. Geradezu unheimlich. Auch der schludrige Dicke begann sich ihm zuzuwenden. Schnell senkte Stahnke die Lider, drehte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Kind.

Als hätte er das gespürt, begann sich der kleine Junge zu regen. Er räkelte sich, reckte pummelige Fäustchen aus den Ärmeln seiner Jacke und produzierte dazu speichelgetränkte Brabbellaute, ohne die Augen zu öffnen. Ein putziges Bild, anrührend und abschreckend zugleich; Stahnke fühlte sich kleinen Kindern gegenüber stets verunsichert und vollkommen hilflos, denn er verstand sie noch weniger als ihre Mütter. Die Kinder wiederum, das wusste er aus unangenehmer Erfahrung, quittierten solches Unverständnis zumeist mit lautstarker Ablehnung. Also beschränkte er sich aufs distanzierte Süßfinden.

Die Mutter des Kleinen reagierte dafür umso schneller. Sie legte ihre Zeitung beiseite und zauberte aus den Tiefen ihrer Ballontasche ein Teefläschchen hervor, entfernte die Schutzkappe und schob dem Kind den Gummisauger zwischen die speichelfeuchten Lippen. Der Junge griff mit beiden Händen nach der Flasche und begann gierig schmatzend zu trinken. Nach wenigen Schlucken fiel er mit einem schnaufenden Seufzer in seinen Schlummer zurück.

Stahnke riskierte einen erneuten, diesmal sorgsam getarnten Seitenblick zum ungleichen Paar. Immer noch das gleiche Bild: intensive Verhandlungen bei vorgeneigten Oberkörpern, zusammengesteckten Köpfen und sparsamen Gesten. Noch war man sich anscheinend nicht einig.

Ein silbriges Glänzen auf dem Gangboden fing Stahnkes Blick ein. Was war das? Gerade eben hatte dort noch nichts gelegen, da war er sich sicher, da konnte er sich auf sein in jahrzehntelanger beruflicher Routine geschultes Auge verlassen. Das Silbrige musste eben erst dorthin gelangt sein. Vermutlich war es einem der beiden verdächtigen Männer aus der Tasche gefallen. Beziehungsweise aus dem Koffer oder der Plastiktüte. Was mochte es sein? Er traute sich nicht, den Gegenstand offen zu fixieren, um nicht schon wieder die Aufmerksamkeit der beiden zu erregen.

»Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Bad Zwischenahn«, verkündete der Bordlautsprecher. Einige Reisende erhoben sich und stellten sich in den Gang. Natürlich viel zu früh.

Auch draußen vor den Fenstern der Notsitzseite bewegte sich etwas. Eine graubraune Silhouette näherte sich langsam, nahm an Größe und Masse zu. Ein Güterzug war es, der vom Gleis einer Nachbarstrecke im Bogen herangeführt wurde. Die beiden Züge fuhren mit annähernd gleicher Geschwindigkeit, was zu einem faszinierenden, aber auch etwas beängstigenden Effekt führte. Wie ein großes Tankschiff, das sich viel zu schnell einer Kaimauer näherte und daran zu zerschellen drohte, schwamm ein mächtiger, elefantengrauer Kesselwagen schwungvoll heran, wölbte sich ihnen entgegen und schien jeden Augenblick die Fenster sprengen zu wollen, bis die Gleisführung endlich die Parallele erreicht hatte und die Annäherung beendet war. Langsam, Meter für Meter, fiel der Güterzug zurück. Der große Kesselwagen entschwand den Blicken, die er sekundenlang gefesselt hatte.

Auch die beiden Männer auf den Notsitzen hatten wie gebannt auf den Nachbarzug gestarrt. Eine Chance, die sich Stahnke nicht hatte entgehen lassen. Behutsam zog er den Fuß, unter dessen Sohle das Silbrige knisterte, zu sich heran und halb unter seinen Sitz. Jetzt noch ein kurzes Räkeln, ganz wie vorhin der kleine Junge schräg gegenüber, ein Veränderung der Position, wie sie jeder Reisende während der langen Stunden auf dem Polstersitz Dutzende Male vornimmt, und er hielt den Gegenstand in seiner Hand.

Bremsen quietschten. Das Ein- und Aussteigen ging schnell, sehr groß war der Andrang nicht. Ein schriller Pfiff schickte den Zug wieder auf die Strecke.

Im Sichtschutz seiner übereinandergeschlagenen Beine öffnete Stahnke vorsichtig die Faust und nahm das silbrige Ding in Augenschein. Im ersten Augenblick war er enttäuscht. Rauschgift hatte er erwartet, verpackt in Stanniol oder Haushaltsfolie; stattdessen war es nur ein Streifen aus einer Tablettenpackung. Ein leerer obendrein. Dann aber las er die Aufschrift und war wieder wie elektrisiert.

»Rohypnol« stand dort. Diesen Namen kannte er, auch wenn er im Moment nicht sagen konnte, wofür er stand. Aber er wusste, dass er diesen Namen bereits im Zusammenhang mit einem Verbrechen gehört hatte. Also handelte es sich vermutlich um eine illegale Droge.

Jetzt wusste er endlich, worüber diese beiden Galgenvögel dort drüben verhandelten. Rauschgifthändler waren das also. Ein Großhändler vermutlich, natürlich der mit den Lackschuhen, einer, der die internationalen Vertriebswege kontrollierte. Und einer, der für die Verteilung in der Region zuständig war; das war natürlich der Plastiktütentyp. Vermutlich hing er selber an der Nadel oder war tablettensüchtig. Rohypnol – der Name hatte etwas Hypnotisches. Wie mochte es wohl wirken, dieses Zeug? Er hatte das Gefühl, dass er das schon einmal gewusst haben musste und dass es ihm irgendwann wieder einfallen würde. Hoffentlich bald.

Draußen vor den Fenstern nahm die Anzahl der Parallelgleise zu. Ihr Zug wurde langsamer. Leer lag bereits hinter ihnen, Emden konnte nicht mehr weit sein. Die Frau sammelte schon ihre Siebensachen ein. Vorsichtig entwand sie dem immer noch tief schlafenden Kind das Teefläschchen, setzte die Schutzkappe drauf und versenkte es in ihrer ballonförmigen Reisetasche. Die Zeitung ließ sie liegen; anscheinend legte sie keinen Wert mehr darauf.

Entsetzt stellte Stahnke fest, dass auch die beiden ungleichen Männer ihre ebenso ungleichen Gepäckstücke unter ihren Sitzen hervorholten. Also wollten sie ebenfalls in Emden raus. Jetzt war guter Rat teuer. Sollte er auch aussteigen und die beiden weiter im Auge behalten? Dann würde der Zug ohne ihn weiter nach Norddeich fahren, das war klar, und seine Freunde würden vergeblich am Bahnhof auf ihn warten. Ein Handy hätte seine Lage erheblich verbessert, aber das lag natürlich wohlverwahrt in seiner Schreibtischschublade im Büro. Mist, verfluchter.

Aber was war das? Offenbar waren sich die beiden Männer doch noch handelseinig geworden. Der Elegante klappte gerade seinen Aktenkoffer auf, der Schlampige wühlte in seiner Plastiktüte. Also sollte die Übergabe gleich hier im Zug vollzogen werden! Großartig, was für ein Dusel, besser ging es doch gar nicht! Da konnte er ja zuschlagen und die beiden einsacken, ohne deswegen seinen Zug zu verpassen.

Ausgezeichnet war auch, dass er seine Handschellen nicht ebenso wie das Handy in die Schublade gepackt hatte. Von denen trennte er sich nun einmal nicht so leicht wie von diesem neumodischen Nervtöter. Er war eben Traditionalist, das gab er zu. Jetzt würde ihm das zugutekommen.

Beide Männer hatten offenbar gefunden, was sie in ihren jeweiligen Behältnissen gesucht hatten, und holten es hervor. Stahnke zückte seine Handschellen und erhob sich. Breitbeinig baute er sich vor den beiden Ganoven auf.

Fassungslos starrten die beiden ihn an, die Münder weit offen, die Augen beinahe aus den Höhlen quellend. Das, was sie in ihren Händen hielten, pressten sie unwillkürlich an sich, als könnten sie es jetzt noch vor dem Zugriff des Gesetzes schützen.

Was aber war es? Silbrig wie Tablettenstreifen sah es nicht aus, auch nicht bunt wie Euroscheine. Es waren – Bücher!?

»Gesangbücher«, sagte Stahnke, der nun seinerseits zu spüren glaubte, wie sich seine Augäpfel mehr und mehr aus ihren Höhlen hervordrängten. »Sie tauschen evangelische Gesangbücher aus?«

»Ja, allerdings«, sagte der Schlampige, der sich bereits wieder gefasst hatte, während der Elegante immer noch wie erstarrt auf seinem Notsitz hockte. »Mein Reformierter Kollege und ich haben festgestellt, dass wir beide gerade vom Evangelischen Kirchentag in Hannover kommen. Ich bin Lutheraner, daher kannten wir uns bisher nicht. Wir hatten eine sehr aufschlussreiche Unterhaltung und wollten nun – aber was geht Sie das überhaupt an? Und was bezwecken Sie mit diesem lächerlichen Auftritt?«

Irgendjemand musste in Stahnkes Oberstübchen einen Dampfstrahler angestellt haben; anders jedenfalls waren dieses Zischen, das plötzlich durch seinen Schädel schallte, und dieser enorme Schweißausbruch nicht zu erklären. Ich habe es wieder getan, dachte er. Ja, verdammt, I did it again, und da hilft jetzt auch kein Ooops mehr. Diese Blamage werde ich bis zur Neige auskosten müssen, jedenfalls bis nach Emden, und den Rest der Fahrt muss ich wohl stehend verbringen, denn in diesem Waggon kann ich mich auf keinen Fall mehr blicken lassen. Verdammt, verdammt, du blöder Kasperkommissar, hast du denn noch immer nichts gelernt aus dem, was deine Phantasieermittlungen dir schon alles eingebrockt haben?

»Mein Kollege hat Sie etwas gefragt«, ließ sich der Elegante vernehmen. Jetzt wurde sogar der mutig. Hilfe suchend blickte Stahnke sich um. Es war aber keinerlei Hilfe in Sicht, nur jede Menge gaffender Augenpaare.

»Meine Damen und Herren«, ergriff der Bordlautsprecher das Wort, »in wenigen Minuten erreichen wir Emden. Sie haben Anschluss …«

Die Frau auf der anderen Tischseite erhob sich, stellte ihre Ballontasche zurecht und griff nach dem schlafenden Kind. Viel zu früh und viel zu lange würde sie wieder im Gang stehen.

Sein Blick streifte die liegengebliebene Zeitung. Vermischte Meldungen, die Seite mit Klatsch und Tratsch, Mord- und Gerichtsberichten. Eine Schlagzeile sprang ihm ins Auge. Ein schon oft gelesener Name.

Und plötzlich war alles klar.

Sein massiger Körper beschrieb eine Vierteldrehung auf dem rechten Absatz, sein rechter Arm schoss vor, seine Hand vollführte eine hundertfach geübte Bewegung. Seine Handschellen klickten.

Fassungslos starrte die Frau ihn an. »Was?«, stammelte sie. »Warum?«

»Rohypnol«, sagte Stahnke. »Sie hätten das entführte Kind mit einem anderen Medikament betäuben sollen, nicht ausgerechnet mit dem Zeug, mit dem auch dieser belgische Kinderschänder Marc Dutroux und seine Frau ihre Opfer ruhiggestellt haben. Es ist zwar wirkungsvoll, aber zu bekannt.«

Das Gesicht der Frau begann sich zu einer Maske aus Wut und Qual zu verzerren. Eruptive Schluchzer zerfetzten die Worte, die sie hervorstieß, bis zur Unkenntlichkeit. Ihr schmaler Körper krümmte sich zitternd. Stahnke, der sich die andere Handschelle um das eigene Handgelenk gelegt hatte, spürte, wie sich das Zittern auf ihn übertrug. Aber nur äußerlich. Es ließ ihn kalt.

Er wandte sich wieder den beiden Geistlichen zu. »Bitte entschuldigen Sie mein kleines Ablenkungsmanöver«, sagte er lächelnd. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr erschreckt.«

Wieder blickten ihn die beiden Kirchenmänner mit runden Augen an. Diesmal aber nicht entsetzt, sondern bewundernd.

Kirche, dachte er. Dabei fällt mir etwas ein. Richtig, die Heilige Elisabeth von Ungarn. Die wollte den Armen etwas zu essen bringen, obwohl ihr hartherziger Ehemann es ihr streng und bei Strafe verboten hatte. Prompt überraschte er sie eines Tages, als sie mit einer Schürze voller Brot das Haus verließ. »Was hast du da in der Schürze?«, fragte er. »Rosen«, log sie. »Dann zeig mir die Rosen«, sagte ihr Mann. Sie öffnete die Schürze – es waren Rosen darin.

Na, Rosen würde er nicht bekommen. Aber eine Täterin und ein befreites Kind statt einer saftigen Blamage, das war ja weiß Gott besser als Blumen.

Wie ein Heiliger fühlte er sich trotzdem nicht.

€7,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
18+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
26 Mai 2021
Umfang:
304 S. 7 Illustrationen
ISBN:
9783839264461
Verleger:
Rechteinhaber:
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