Zeit im Treibsand

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Ausgerüstet mit Pass und Ausländerausweis machte ich mich auf den Weg zur Kantonspolizei, wobei ich die Piazza so weiträumig wie möglich umfuhr. An einigen Kiosken sah ich Schlagzeilenblätter wie ‚Doppelmord auf der Piazza’, ‚Hinrichtung auf der Piazza,’ ‚Furchtbare Bluttat in Strassencafé’ und ähnliche Titel in allen Landessprachen. Das gewöhnliche Tagesangebot, auffallend nur deshalb, weil es mich mitbetraf. Auf der Titelseite eines der Boulevardblätter war sogar ein Bild von mir mit Francesca in den Armen und einem Ausschnitt von Caporales Hinterkopf. Ich war zwar nur sehr schwer zu erkennen. Wahrscheinlich hatte das ein Tourist gemacht und der Zeitung verkauft. Oder war die Presse wirklich so schnell da gewesen?

Bei der Mordkommission musste ich Caporale durch eine Scheibe, durch die er mich nicht sehen konnte, noch einmal als den Mann identifizieren, der die tödlichen Schüsse auf Marcello und Francesca abgegeben hatte. Franco der Kellner war auch dort. Er wollte mir wahrhaftig das Geld zurückgeben, das ich ihm zuviel gezahlt hatte. Sie stellten mir dann noch eine Menge Fragen und fertigten ein Protokoll an, das ich unterschrieb, weil es die Tatsachen recht eindeutig wiedergab. Ich fragte, ob ich verreisen dürfte, denn ich mochte die Gegend, so schön sie auch war, eine Zeitlang nicht mehr sehen. Sie hatten nichts dagegen einzuwenden. Ich solle nur eine Nachsendeadresse für die Post hinterlassen, denn der Ankläger werde mich mit Sicherheit zum Prozess vorladen.

Am Nachmittag kam Carlo, Francescas jüngerer Bruder wieder zu mir herüber, um mir mitzuteilen, dass die Beerdigung erst in einer Woche stattfände. Francesca sei noch nicht freigegeben, und die Überführung in ihre Heimat sei einigermassen kompliziert, was ich mir gedacht hatte. Ich fragte ihn, ob seine Familie etwas dagegen hätte, wenn ich und Francescas Freundinnen auch an der Beisetzung teilnähmen. Bestimmt nicht, meinte er und beschrieb mir genau, wo das Begräbnis stattfinden würde. In ihrem Heimatort Sanrotondo, etwa eine Autostunde von Bari entfernt, nachmittags um zwei von der Kirche des Heiligen Leonardo aus. „Das ist über tausend Kilometer von hier entfernt“, gab er zu bedenken.

„Nach Australien ist es zwanzig Mal so weit, Carlo. Ich bin an grosse Entfernungen gewöhnt“, sagte ich.

Er gab mir einen Ordner, in den Francesca säuberlich alles eingeheftet hatte, was mit ihrer Wohnung zusammenhing. Ich hatte mich erboten, mit ihrer Vermieterin Kontakt aufzunehmen, um eine kürzere Kündigungsfrist durchzusetzen oder einen Ersatzmieter zu finden. Denn der Tod löst einen Mietvertrag nicht automatisch auf. Verträge sind eben viel zäher als das Leben.

Carlo sagte, sie würden ihre Mutter, der es sehr schlecht gehe, nach Hause bringen und Francescas Sachen erst nach der Beerdigung holen. Ob ich mich bis dahin um die Pflanzen kümmern könne. Das hatte ich schon oft getan, wenn Francesca für ein paar Tage verreist war. Carlo gab mir ihren Wohnungsschlüssel und verabschiedete sich. Kurz darauf hörte ich, wie sie nebenan die Rolläden herunter liessen und wie sie alle zusammen fortgingen.

Kaum waren sie weg, ich hatte mir gerade eine Tomate und etwas Mozarella aufgeschnitten, rief Lilly wieder an. Ob Francescas Eltern noch da seien?

„Nein, sie sind gerade gegangen“, sagte ich. „Frau Colanni geht es sehr schlecht.“

„Mir geht es auch sehr schlecht“, sagte Lilly. „Ich habe heute Nacht kein Auge zugetan. Francesca war meine beste Freundin, Terry, verstehst du das? Meine beste Freundin.“

„Ich weiss“, sagte ich, „sie wird uns allen fehlen. Was glaubst du, wie verlassen ich mir jetzt in meiner Wohnung vorkomme.“

„Es muss furchtbar für dich sein. Du hast das alles miterlebt. Sogar ein paar italienische Zeitungen berichten gross darüber. Wann ist die Beerdigung?“

„Heute in einer Woche.“

„Und wo?“ fragte sie.

„In Sanrotondo in Apulien. Da, wo die Colannis herkommen.”

„Meinst du, wir können teilnehmen?“

„Natürlich. Sie werden das sehr schätzen. Es ist nur ziemlich weit weg.“

„Umberto wird das organisieren“, sagte sie. Umberto war ihr Mann. Der mit dem Ferrari. „Wird Giulietta auch mitkommen?“

„Bestimmt“, sagte ich.

„Warum ist die Beerdigung erst in einer Woche?“

„Wegen der Überführung.“ Ich wollte nicht sagen, dass Francesca noch rechtsmedizinisch untersucht würde, weil der Gedanke, dass man ihren schönen Körper sezierte, für mich selbst unerträglich war.

„Ich rufe dich morgen um neun wieder an“, sagte Lilly. „Am besten fliegen wir von Mailand nach Bari.“ Sie liebte es, Regie zu führen. „Wann wird eigentlich Marcello beerdigt?“ fragte sie dann.

Natürlich, Marcello, der war ja auch tot, und es gab Leute, die um ihn trauerten wie wir um Francesca. „Ich weiss nicht“, sagte ich. „Ich kannte ihn persönlich gar nicht und ich habe nichts mehr von ihm gehört.“

„Aber ich kannte ihn. Lange vor Francesca.“

„Willst du zu seiner Beerdigung kommen? Soll ich mich erkundigen?“

„Nein“, sagte Lilly. „Nein, nein, Terry. Vergiss das. Bis morgen.“

„Bis morgen. Und versuch’ zu schlafen.“

„Ich werde es versuchen“, versprach sie.

Marcello. Wahrscheinlich hatte er irgendwann zu den Motten gehört, die so gern um Lilly herumgeschwirrt waren. Und dann hatte er plötzlich wegen einer anderen tot auf dem Pflaster gelegen. Ich sah wieder, wie ihn die Schüsse getroffen hatten, und wie er weitergegangen war, als seien sie nur ein Missverständnis gewesen, was sie genau genommen auch waren.

Nachdem ich die Tomaten mit dem Mozzarella gegessen und ein Glas Rotwein getrunken hatte, versuchte ich an meinem Buch weiter zu arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren. In jedem Satz machte ich mindestens zwei Fehler und nach einer halben Stunde gab ich es auf. In der kleinen Wohnung, die ich gut in Schuss hielt, gab es nur wenig zu tun. Dafür machte ich, zwei Tage früher als beabsichtigt, in der Gemeinschaftswaschküche für die unteren Wohnungen eine Buntwäsche. Es wusch dort selten jemand. In der Waschtrommel klebte ein Höschen von Francesca, das sie am Vorabend ihres Todes offensichtlich übersehen hatte. Ich steckte es gedankenverloren in die Hosentasche.

Eine Zeitlang setzte ich mich auf einen Schemel und sah durch die Glasscheibe in der Maschinentür zu, wie die Wäsche hin und her geschleudert wurde. Das hatte eine unglaublich beruhigende Wirkung. Besser als jeder Cognac oder Rotwein. Regelmässig tauchten die grünroten Markenshorts, die Francesca mir zum Geburtstag geschenkt hatte, hinter der Scheibe auf, und jener Abend, der noch gar nicht so lange zurücklag, kam mir in allen Einzelheiten in den Sinn. Es war, als liefe hinter der Waschtrommelscheibe ein Film ab, von dem Augenblick, in dem Francesca mit ihrem Geschenkpäckchen durch die ‚porta d’amore’ gekommen war, bis zu der frühen Morgenstunde, in der sie spärlich bekleidet mit ein paar geübten Schritten wieder in ihre Wohnung hinübergewechselt war.

Ich war mit dem Aufhängen der Wäsche noch nicht ganz fertig, als das Telefon erneut klingelte. Silvia, meine Ex-Frau meldete sich, was in letzter Zeit selten geschehen war. Ihre Stimme klang wie immer hektisch und nervös, als stecke sie mitten in einer akuten Katastrophe. In der Tat hatte sie meistens irgendwelche Hiobsbotschaften zur Hand. Auch jetzt, nach der langen Trennung, konnte mich das noch aus der Ruhe bringen, denn meine Gefühle für Silvia, vor allem das Gefühl noch immer verantwortlich für sie zu sein, waren von eigenartiger, fast trotziger Beharrlichkeit.

Silvias Juwelier hatte in einer Zeitung ein Bild gesehen, auf dem jemand, der mir sehr ähnlich sähe – er kannte mich nur von Fotos – eine angeschossenen Frau in den Armen hielt. In einem Artikel dazu, den er nur hastig überflogen habe, sei von einer Schiesserei auf einer Piazza die Rede gewesen. Ob ich die Zeitung schon gesehen oder etwas davon gehört hätte.

„Er hat gut beobachtet. Der Mann bin wirklich ich.“

„Was ist denn passiert?“ fragte Silvia, und ein Anflug von Besorgnis in dieser Frage tat mir gut.

„Meine Nachbarin, Frau Colanni, du hast sie mal kennen gelernt, ist erschossen worden.“

„Und warum hältst DU sie in den Armen?“ fragte Silvia wie eine Ehefrau, die ihren Mann mit einer anderen erwischt hat.

„Weil wir auf der Piazza Kaffee tranken, als es geschah.“

„Ich wusste, dass du eines Tages mit diesen jungen Frauen, die du da unten um dich hast, Ärger kriegen würdest.“ Der Tod von Francesca schien sie wenig zu berühren. Wahrscheinlich so wenig, wie mich der Tod des Juweliers berührt hätte.

„Ihr Freund ist auch erschossen worden“, sagte ich. „Was beweist, dass ER den Ärger gekriegt hat, nicht ich.“ Es hatte wenig Sinn, mit Silvia darüber zu diskutieren.

„Mir kann es ja auch egal sein“, sagte sie wie erwartet.

Ich wollte ihr noch nicht sagen, dass ich so schnell wie möglich aus ihrer Wohnung ausziehen und weggehen würde. Ich wusste, dass ich gerade an dieser Stelle noch eine Art Fixpunkt für sie war, an dem sie sich in ihrem Dahinflattern orientierte. „Wie geht es sonst?“ fragte ich, den Fall Francesca beiseite schiebend.

„Es geht“, machte sie. „Der andere“ – das war der Juwelier – „hat wieder einen Oldtimer gekauft. Jetzt fuhrwerkt er in der Garage herum, weil der Platz nicht langt.“

„Was macht er mit den alten Autos?“ fragte ich.

„Das ist sein Hobby“, sagte sie. „Also dir ist nichts passiert?“

Wie hätte ich ihr erklären können, dass mir sehr wohl etwas passiert war, dass mir Francescas Tod eine Wunde zugefügt hatte, zu deren Heilung der Rest meines Lebens nicht mehr ausreichen würde.

 

„Take care, pass’ auf dich auf“, sagte Silvia. Sie hatte das vor Jahren einmal auf einen Zettel geschrieben, den sie mir in die Jackentasche gesteckt hatte. Ich trug ihn immer noch in meinem Portemonnaie, obwohl die Schrift kaum mehr leserlich war.

Nach dem Gespräch mit Silvia zog ich das Telefonkabel heraus. Es gab noch zu viele Leute, die mich auf dem Foto erkennen konnten.

Die Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit verliefen ruhig. Ich hatte den Fernseher angemacht und versuchte der sprunghaften Handlung einer jener anspruchslosen Vorabendserien zu folgen, die zu allen grossen Themen und Problemen ihrer Zeit so unglaublich einleuchtende Erklärungen anbieten. Gerade als jemand erfuhr, er sei HIV positiv, klingelte es. Nicht in der Serie, sondern an meiner Haustür. Ich hatte am Küchenfenster einen kleinen Spiegel angebracht, durch den ich genau sehen konnte, wer vor der Tür stand. Wenn es die Ledermanns waren, die ich eigentlich schon lange erwartete, oder irgendjemand, den ich nicht kannte, ein Medienmensch oder sonst wer, würde ich nicht aufmachen. Umso erstaunter war ich, dass der Leguan im Spiegel auftauchte. Er stand etwas gebückt auf der Fussmatte und hielt eine Flasche in der Hand. Er hatte Francesca und mir, wie gesagt, einmal seine Terrarien gezeigt, aber hier unten an unseren Wohnungen hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich hatte ihn überhaupt seit Monaten nicht gesehen und schon angenommen, er wohne gar nicht mehr in der Residenza. Was immer er auch wollte, er war willkommen, und ich öffnete die Tür.

„Störe ich?“ fragte er in Englisch.

„Nein. Kommen Sie rein.“

Er reichte mir die Flasche. „Australischer“, sagte er. „Hab’ mir gedacht, ein Schluck Heimat in diesen Tagen tut Ihnen gut.“

„Worauf Sie wetten können“, sagte ich und führte ihn ins Wohnzimmer.

Er liess sich auf der braunen Couch nieder, mit langsamen, sorgsam abgezirkelten Bewegungen, als müsse er sich an jede einzelne von ihnen erinnern und sie in umgekehrtem Ablauf ausführen, um wieder aufstehen zu können.

„Trinken Sie ein Glas mit?“

„Natürlich“, sagte er, sich endgültig in die Couchkissen zurücklehnend.

Während ich die Gläser holte und die Flasche öffnete, schwiegen wir. Er hatte mir indirekt zu verstehen gegeben, warum er gekommen war, und schien das für ausreichend zu halten.

„Was machen Ihre Echsen und Schlangen?“ fragte ich beim Einschenken.

„Alle wohlauf.“

Wir stiessen an. Es war ein guter Roter aus dem Barossa Valley, der nach der Sonne Südaustraliens schmeckte.

„Mein Sohn hat mir kürzlich ein paar Flaschen davon mitgebracht“, sagte er, das Glas gegen die Lampe haltend. „Allein die Farbe fasziniert mich.“

„Hat ihr Sohn etwas mit Australien zu tun?“

„Nein, aber mit dem Weinhandel. Mein Sohn ist etwa so alt wie Sie.“

Wenn er einen Sohn hatte, der so alt war wie ich, musste der Leguan über achtzig sein, eher gegen neunzig. Mein Vater war längst gestorben.

„Haben Sie Geschwister?“ fragte er, das Glas noch immer gegen das Licht haltend.

„Zwei jüngere Schwestern.“

Er stellte das Glas auf die Ablage des Zeitungsständers und nickte. „Mein Sohn hatte auch eine jüngere Schwester“, sagte er. „Das heisst, ich hatte eine Tochter. Sie ist erschossen worden. Genau wie Miss Francesca. Es ist lange her. Ich hatte es fast vergessen. Als ich das vorhin las, konnte ich nicht mehr allein sein. Ich musste zu Ihnen kommen.“

„Es ist gut, dass Sie gekommen sind“, sagte ich, wobei ich nicht wusste, ob seine Mitteilung ein Trost war oder die Sache noch schlimmer machte. Ausserdem war ich nicht mit Francesca verwandt. Wenn er sich mit Herrn Colanni unterhalten hätte, wäre ihre Betroffenheit gewissermassen die gleiche gewesen. Doch Herr Colanni war nicht mehr da, und sie kannten sich auch gar nicht. Ich konnte ihn schlecht fragen, was mit seiner Tochter geschehen war und wartete ab.

In seinem zerfurchten, von Altersflecken seltsamerweise verschont gebliebenem Gesicht nahm die weit zurückliegende Tragödie Gestalt an. „Sie ist nicht in der Öffentlichkeit erschossen worden“, sagte er nach einer Weile. „Aber das Motiv war wohl das Gleiche wie im Fall von Miss Francesca. Eifersucht. Die unberechenbarste Angstreaktion, die es gibt. Besonders bei jungen Leuten und bei solchen, die es nicht fertig bringen, ihre Persönlichkeit zu einer gewissen Autonomie zu entwickeln.“ Er nahm sein Glas Rotwein wieder in die Hand und hielt es gegen die Lampe, bevor er ein paar Schlucke trank.

„Der Mann, der Miss Francesca und ihren Bekannten erschossen hat, wird von allen für einen Psychopath gehalten“, sagte ich. „Weiss so einer überhaupt, was Eifersucht ist?“

„Woher wissen SIE, dass er ein Psychopath ist?“ fragte der Leguan.

„Weil er schon vorher eine Menge Dinge getan hat, die darauf hindeuteten.“

„Wenn überhaupt, bringt der Prozess das ans Licht. Im Fall meiner Tochter hat es keinen Prozess gegeben. Der junge Mann, der sie umgebracht hat, hat sich unmittelbar danach selbst gerichtet.“

Schade, dass Il Caporale das nicht auch getan hatte.

All diese Toten schienen mein kleines Wohnzimmer plötzlich zu überschwemmen. Ich trank mein Glas aus und schenkte uns beiden nach.

„Es ist nicht gut, so alt zu werden“, sagte der Leguan. „Das Schlechte wiederholt sich ständig, das Gute nimmt man kaum noch wahr.“

„Sie selbst machen aber einen gesunden Eindruck“, sagte ich.

„Ich bin gesund“, bestätigte er. „Meine grösste Angst ist die, dass ich eines Tages im Radio hören muss, wie mir zum hundertsten Geburtstag gratuliert wird. Ich würde die meisten meiner Reptilien überleben.“ Die Vorstellung liess ihn kichern.

Ich war dankbar, dass wir von den Hinrichtungen wegsteuerten. Wir unterhielten uns schliesslich über Grüne Leguane, Blauzungenechsen und Warane. Ich konnte da ein wenig mithalten, weil ich in Australien einiges über diese Tiere gelernt hatte. Es gelang uns, im Geist über heisse Wüstenböden und durch dichtes, tropisches Unterholz kriechend dem grausamen Geschehen, das uns unvermutet verband, zu entkommen, bis er plötzlich sagte : „Miss Francesca hatte Angst vor meinen Tieren, stimmt’s?“

„Stimmt“, sagte ich.

„Es gibt kaum eine Frau, die Reptilien mag“, erklärte er. „Ich glaube, Sie haben mit Miss Francesca mehr verloren als nur eine Nachbarin“, fügte er dann orakelhaft hinzu, nachdem er das Rotweinglas wieder gegen das Licht gehalten hatte.

Ich gab ihm keine Antwort darauf und war sicher, dass er auch keine erwartete.

Wir sprachen noch eine Stunde lang über die Residenza, über die Erhöhung der Gemeinschaftskosten und den Gärtner, der manchmal hinter den Büschen schlief.

„Werden Sie noch lange hier wohnen?“ fragte der Leguan schliesslich.

„Kaum. Nach der Beerdigung von Miss Francesca werde ich wohl wegziehen. Ich wollte das schon seit längerem.“

„Werden Sie nach Australien zurückkehren?“

„Nicht sofort. Später einmal.“

Der Leguan erhob sich, seine Bewegungen zurückspulend. „Ich bin aus einem für uns beide schmerzlichen Anlass zu Ihnen gekommen. Auch Sie haben das Gebirge längst hinter sich gelassen und sind auf dem Weg zum Meer. In der Ebene verlieren sich der Schmerz, der Groll, die Enttäuschungen. Die Erinnerungen haben mehr Platz, um neben einem herzulaufen. Und doch kommen sie einem zuweilen in die Quere. Werden wir uns noch einmal sehen?“

„Ich werde mich verabschieden, bevor ich die Residenza verlasse.“

„Gut“, sagte er. „Schade, dass wir so selten zusammen gesessen haben.“

„Soll ich Sie nach Hause begleiten?“

„Danke. Die Stufen schaffe ich noch ganz gut.“ Er ging davon, ein wenig gebückt, aber mit sicherem Schritt, und es sah nicht so aus, als würde er an diesem Abend noch einmal über die Erinnerung an seine erschossene Tochter stolpern.

Fünf Minuten, nachdem ich das Telefon am nächsten Morgen wieder angeschlossen hatte, meldete sich Lilly. „Alles unter Kontrolle“, sagte sie, und die weissen Zwergpudel jaulten zu ihren Füssen. „Wir fliegen um neun Uhr fünfundvierzig ab Mailand Linate. Umberto hat am Vortag sowieso in Mailand zu tun und kommt mit. Ihr müsst um neun dort sein. Alitalia Desk. Um kurz nach elf sind wir in Bari. Da nehmen wir einen Mietwagen, mit dem wir nach Sanrotondo fahren. Eine gute Stunde. Nachmittags bleiben wir bei den Colannis. Am Abend fahren wir nach Bari zurück. Wir werden im Palast Hotel übernachten. Umberto hat zwei Suiten buchen lassen. Es macht dir doch nichts aus, Terry, mit Giulietta eine Suite zu bewohnen? Am nächsten Vormittag fliegen wir wieder nach Mailand, bene? Umberto bucht das alles als Geschäftsreise. Musst nur ein paar Lire für einen Drink mitbringen.“

„Und für ein paar Blumen“, unterbrach ich sie.

„Die kaufen wir in Bari. Ein schönes Arrangement von uns allen. Ich hoffe, ihr seid einverstanden. Darf ich es dir überlassen, Giulietta zu unterrichten?“

„Du darfst“, sagte ich.

Lilly schien Francescas Tod in weniger als vierundzwanzig Stunden verarbeitet zu haben. Sie hörte sich wieder wie die Chefsekretärin des Bauunternehmers an, als die ich sie kennen gelernt hatte. Oder wollte sie mit diesem geschäftlichen Ton die Trauer um ihre Freundin nur überspielen? Es war immer schwierig gewesen, aus Lilly klug zu werden. Ich fragte mich, wie Umberto das fertig brachte. Aber wahrscheinlich wollten Männer wie Umberto gar nicht klug werden aus einer Frau. Sie wollten sie einfach haben.

„Hallo, Terry, bist du noch dran?“ fragte Lilly.

„Ja. Ich war nur kurz abwesend. Musste daran denken, dass Francesca mich gestern um diese Zeit angerufen hat.“

„Meinst du, sie hat was geahnt?“ fragte Lilly.

„Wer weiss. Sie wollte mir nur sagen, dass sie etwas später auf die Piazza kommt.“ Ich durfte Lilly nicht erzählen, wie unruhig Francesca in der Nacht davor gewesen war.

„Wie konnte dieser Caporale das alles wissen“, sinnierte Lilly. „Umberto meint, dass er Francesca seit längerem beschattet hat.“

„So wird es wohl sein. Caporale spricht nicht mehr.“

„Und wenn“, sagte Lilly. „Kein Geständnis kann Francesca ins Leben zurückrufen. Also, wir sehen uns nächste Woche, Terry. Ich freue mich.“

„Ich mich auch. Wenn nur der Anlass nicht so trostlos wäre.“

„Ich habe dich immer für einen Mann gehalten, der sich über die Dinge erheben kann“, philosophierte Lilly.

„Ich werde es versuchen“, versprach ich.

Sie schien keine Ahnung zu haben, warum es mir in diesem Fall so schwer fiel, mich überhaupt zu erheben.

Giulietta arbeitete auf einer Bank und war sehr beschäftigt. Ich unterrichtete sie nur kurz über die traurige ‚Geschäftsreise’ nach Bari, wobei ich die gemeinsame Suite zunächst unterschlug. Wir vereinbarten, mit ihrem Auto zum Flughafen nach Linate zu fahren. Sie hatte jahrelang in Mailand gelebt und kannte sich dort besser aus.

Höflichkeitshalber rief ich auch Ettore an, Francescas Chef, und nannte ihm Tag und Zeit von Francescas Beerdigung. Er bedauerte, nicht teilnehmen zu können. Jetzt, wo Francesca nicht mehr da sei, ginge es bei ihm drunter und drüber. Er könne keine einzige Stunde entbehren. Tatsache war, dass Francesca ihm alle Arbeit in der Firma abgenommen und es ihm, unbeabsichtigt, ermöglicht hatte, lukrative Nebengeschäfte zu betreiben. Vornehmlich deshalb hatte er Francescas Tod als schweren Schlag für sich bezeichnet.

„Ich werde veranlassen, dass im Namen der Firma ein Kranz auf ihr Grab gelegt wird. Es wäre mir lieb, Terry, wenn du schaust, ob das tatsächlich gemacht wird. Ich traue denen da unten im Süden überhaupt nicht.“

„Francesca kam auch von dort“, gab ich zu bedenken.

„Francesca war in jeder Hinsicht eine Ausnahme“, sagte er.

Nach dem Gespräch mit Ettore legte ich das Telefon wider still. Zum Mittagessen machte ich mir Spaghetti mit einer in Sanrotondo zubereiteten Sauce, von der Francesca mir immer ein paar Gläser geschenkt hatte.

Das Wetter war noch immer sehr schön, die langfristige Vorhersage versprach einen sommerlichen Frühherbst. Ich ass auf der Terrasse. Draussen auf dem See kamen ein paar gut besetzte Ausflugsschiffe vorbei. Die Leute sassen in militärisch ausgerichteten Bankreihen auf den Oberdecks. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen. Früher hatte ich mit Silvia auch ein paar Mal solche Schiffsausflüge gemacht, aber ich hatte nie geglaubt, dass ich einmal am Ufer dieses Sees wohnen und um eine ermordete Nachbarin trauern würde. Mein Leben war immer sehr unberechenbar gewesen, wie das Wasser des Sees, von dem ich auch nie wusste, welche Farbe es am nächsten Morgen haben würde, ob es still dalag, ob es sich kräuselte oder vom Nordwind getrieben kurze Wellen mit weissen Schaumkronen warf.

 

Vor dem leeren Teller sitzen bleibend vertrödelte ich die nächsten Stunden, zumindest äusserlich gesehen. Im Geist arbeitete ich und entwarf verschiedene Szenarien für meine Zukunft. Als sich drüben auf der anderen Seeseite die Kolonne der nach Hause fahrenden italienischen Pendler zu formieren begann, war ich zu meinem Entschluss gekommen. Nach der Rückkehr von Francescas Beerdigung würde ich die Residenza, die Gegend und das Land für immer verlassen. Ich hatte eine knappe Woche Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Zuerst würde ich zu Buck Bayfield, einem alten Freund von mir, gehen. Später zurück nach Australien. Buck’s Frau Joanna hatte von ihren vermögenden englischen Eltern ein Haus in Nizza geerbt. In dem Haus gab es eine kleine, separate Wohnung, die Joanna und Buck mir schon mehrmals angeboten hatten. Sie waren viel unterwegs und froh, wenn jemand ständig im Haus wohnte. Ich hatte sie ein paar Mal in Nizza, wohin es nur vier Autostunden waren, besucht. Nizza hatte mir immer gefallen, und das Haus in einem grossen Garten oberhalb der Stadt war gut erhalten.

Ich steckte das Telefon wieder ein und rief in Nizza an. Buck war gerade am Vortag aus England zurückgekommen, Joanna war noch dort geblieben. „Sie haben ausnahmsweise mal gutes Wetter auf der Insel“, sagte.

Ich erzählte im kurz, was geschehen war und fragte ihn, ob ihr Angebot bezüglich der Wohnung noch gelte.

„Natürlich. Wir freuen uns. Du kannst bleiben, solange du willst. Wenn du hier nicht arbeitest, lassen die Behörden mit sich reden.“

Ich sagte ihm, dass ich nur zu ihnen zöge, wenn sie Miete von mir akzeptierten.

„Meinetwegen. Wenn du dich dann wohler fühlst. Aber wenn du hier ein Auge auf alles wirfst, ist uns das mehr wert als jede Miete.“

Wir einigten uns schliesslich auf eine bescheidene Summe. „Wann willst du kommen?“ fragte er.

„Wenn’s geht Ende nächster Woche.“

„Alles klar. Dann ist auch Joanna hier. Wirst du Möbel mitbringen?“

„Ein paar. Meinen Schreibtisch, Bücherregale, meinen Schaukelstuhl...“

„Hast du schon jemand, der das transportiert?“ fragte Buck.

„Nein.“

„Gut“, sagte er, „ich kenne hier jemand mit einem Dreitonner, der das billig für dich macht. Der auch weiss, was er beim Zoll tun muss. Ich werde sehen, dass er am Samstag in einer Woche um die Mittagszeit bei dir ist.“

Ich freute mich plötzlich darauf, zu ihnen zu ziehen, Abstand zu gewinnen zu diesem Platz, an dem mich alles an Francesca erinnerte und an ihr furchtbares Ende. Auch mein Abstand zu Silvia würde grösser und endgültiger werden, wenn ich nicht mehr in ihrer Wohnung lebte. Nicht dass ich glaubte, ich könne bei Buck und Joanna ein neues Leben beginnen, noch einmal von vorne anfangen. Das kann man in Wirklichkeit nie, aber wenn sich zum wachsenden zeitlichen Abstand auch noch der des Raumes gesellte, würde mir das Vergessen etwas leichter fallen.

In den Tagen bis zu unserer Reise nach Apulien war ich nun unentwegt beschäftigt. Ich schrieb einen langen Brief an Silvia, den ich erst am Tag meines Wegzugs abschicken wollte. Es gab eine Menge behördlicher Dinge zu erledigen. Schliesslich hatte ich viele Jahre in diesem Land gelebt. Auch musste ich meine Sachen packen, kein grosser Besitz, aber es brauchte seine Zeit. Und ich musste Terrasse und Wohnung putzen. Ich achtete strikt darauf, dass ich nichts mitnahm, das Silvia gehörte, wusch noch einmal die Gardinen, wechselte den Filter über dem Herd und jätete das Unkraut zwischen den Pflanzen in den Trögen. Ein paar Mal ging ich in Francescas Wohnung hinüber und kümmerte mich auch um ihre Pflanzen. Ganz zuletzt setzte ich zuerst auf ihrer Seite dann auf meiner die Novopanplatten in die Besenschränke ein. Als hätte ich geahnt, dass ich diese Platten ganz plötzlich brauchen würde, hatte ich sie schon seit einiger Zeit bereitstehen.

Am späten Abend vor der Beerdigungsreise war ich mit allem fertig. Die wenigen Möbel, die ich mitnehmen wollte, waren demontiert, die Kisten mit Büchern und Kleidung waren gepackt, die Garage war aufgeräumt. Die sauberen Gardinen hingen vor den geputzten Fenstern, der Kühlschrank war fast leer. Wenn ich aus Apulien zurückkam, übermorgen, würde ich ein letztes Mal in dieser Wohnung übernachten, zwischen den Bücherkisten, Brettern und Kleidersäcken, und ich wusste, dass es die Nacht sein würde, in der ich noch einmal zurückkehren musste zu jenem Abend, an dem Francesca und ich uns zum ersten Mal begegnet waren.