Zeit im Treibsand

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Und der Täter? Was ich über den Täter wisse.

Über den Täter wusste ich sehr viel. Seltsamerweise aber nicht so etwas Selbstverständliches wie Namen und Adresse. Ich kannte nur seinen Spitznamen ‚Il Caporale’ oder auch nur ‚Caporale’ und seine Autonummer, was der Polizist als grosse Hilfe bezeichnete.

In welchem Verhältnis der Täter zu uns gestanden habe?

Er sei ein früherer Freund von Francesca Colanni, sagte ich.

„Gelosia? Eifersucht?“ fragte der Polizist.

„Wahrscheinlich.“

„Vielleicht hat er auch auf Sie geschossen und Sie nur nicht getroffen., sagte der Polizist. „Mitten auf der vollbesetzten Piazza. Es ist ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist. Sie werden sich in den nächsten Tagen zur Verfügung halten müssen. Die Kollegen von der Mordkommission werden noch weitere Fragen haben und müssen ein Protokoll machen.“

„Ich bin unter meiner Adresse zu erreichen“, sagte ich. „Nur auf die Piazza will ich nie wieder.“

„Das kann ich verstehen.“ Er steckte seine Notizen in die Hemdtasche, stand auf und gab mir die Hand. „Ich hoffe, Frau Colanni kommt durch. Man wird uns benachrichtigen. Sollen wir Sie nach Hause bringen?“

„Nein. Ich werde warten.“

„Bene.“ Er salutierte und ging, drehte sich aber in der Tür noch einmal um. „Sollen wir uns mit den Angehörigen von Frau Colanni in Verbindung setzen?“

„Ich werde sie anrufen, sobald ich weiss, wie es um Francesca steht. Ich nehme an, sie werden sofort kommen.“

„Danke“, sagte er. „Wir verlassen uns darauf.“

Jetzt war ich allein. Ich trat ans Fenster, durch das ich einen unerwartet schönen Blick auf die Stadt und den See hatte. Die Harmonie dieser Landschaft hatte mich immer fasziniert, und die mörderischen Schüsse hatten sie nicht zerrissen. Irgendwo da unten stellten sie die umgekippten Tische und Stühle wieder auf, kehrten die Scherben zusammen und fluchten über die Zechpreller. Das Fernsehen würde vielleicht gerade noch den Blutfleck filmen können, den Marcello auf dem Pflaster hinterlassen hatte. Und sie würden ein paar Interviews machen, wobei sie meistens Leute erwischten, die im Rausch ihrer Selbstdarstellung die Tatsachen nicht mehr zusammen bekamen. Auch die Presse würde ausschwärmen , besonders die mit den grossen Buchstaben, und rücksichtslos in den Hintergrund der Tragödie eindringen, wobei sie auch auf mich stossen mussten. Schon deshalb, weil eines der Opfer in meinen Armen gelegen und der Täter bei mir am Tisch gesessen hatte.

Wenn sich das Wetter hielt, würde die Piazza in den nächsten Tagen noch bevölkerter sein als sonst. Von der Zeit aber und den ersten kühlen Herbstregen würde die Geschichte weggewaschen werden. Nur ich und ein paar andere würden für den Rest ihres Dasein mit ihr leben müssen.

Sollte Francesca durchkommen, würde ich mit ihr weggehen, nach Sydney, draussen nach Manly ans Meer, wo ich noch ein paar Freunde hatte, wo jetzt bald der Frühling kam, wo wir in der Sonne sitzen und auf den Ozean schauen konnten. Der Ozean, der so riesengross war, hinter dem Amerika kam, das auch so gross war, und dann noch ein Ozean, wieder Land und wieder ein Meer und dann erst dieser Ort, an dem diese grauenvolle Tat geschehen musste. An einem so ruhigen, friedlichen Ort, wo die Leute Kaffee und Aperitifs tranken. Erst jetzt schien mir klar zu werden, was geschehen war, und ich begann in der blutgetränkten Kleidung zu frösteln.

Nach einiger Zeit, während der mein Blick ziellos über den Dächern der Stadt kreiste, wurde die Tür geöffnet. Ein Herr in weisser Hose und weissem Polohemd, aber ohne Windrose und Blutflecken, kam zu mir ans Fenster. Er reichte mir die Hand und stellte sich als Dr. Galli vor. Er sah nach Leben, nach etwas Gutem, nach Zukunft aus. Ich schöpfte Hoffnung.

„Sie sprechen Italienisch?“ fragte er.

Ich bejahte.

„Und Sie sind der Freund von Frau Colanni?“

„Ein Freund und Nachbar.“

Er musterte mich, als wolle er einen Vergleich zwischen sich und mir anstellen. Wir waren ungefähr im gleichen Alter. Dann schaute er aus dem Fenster, als stände das, was er sagen musste, am Himmel über der Stadt geschrieben. „Wir haben sie nicht retten können. Niemand hätte das gekonnt.“

„Sie ist tot?“ fragte ich.

„Ja. Es tut mir Leid. Es tut mir besonders Leid, weil sie eine so schöne, junge Frau war, die mit ihrem Leben sicher noch viel vorgehabt hat. Es war Mord, nicht wahr?“

„Eine Hinrichtung“, sagte ich. „Eine Hinrichtung mitten auf der Piazza. Kann ich sie noch einmal sehen?“

„In ein paar Minuten“, sagte er.

„Was wird mit ihr geschehen?“

„Es wird eine rechtsmedizinische Untersuchung geben. Benachrichtigen Sie die Angehörigen?“

„Ja. Am besten gleich von hier aus.“

„Sehr gut“, sagte er. „Kommen Sie mit. Übrigens sollten wir schauen, ob Sie nicht doch verletzt sind.“

„Ich bin nicht verletzt. Mir ist nur ein wenig kühl.“

„Ich werde Ihnen einen Cognac geben“, sagte er, während ich ihm in den Flur folgte. Er führte mich in einen Praxisraum und schenkte mir dort einen Remy Martin ein, den er zwischen ein paar Büchern hervorholte. Ich fand diese Behandlungsmethode sehr ungewöhnlich aber nicht schlecht. Er deutete auf das Telefon und sagte : „Bedienen Sie sich. Ich lasse Sie in zehn Minuten holen.“ Dann ging er hinaus.

Ich hatte die Telefonnummer von Francescas Eltern im Kopf, weil ich sie ein paar Mal dort angerufen hatte. Ich wusste, dass ihre Mutter in dem kleinen Ort im Mittelland, wo sie an einem Fliessband immer Frühschicht machte, um zwei Uhr nach Hause kam. Es war jetzt bald halb drei. Ich trank den Cognac und das Frösteln hörte auf. Dann wählte ich.

Francescas Mutter meldete sich sofort. „Hallo, Signore Terry, was für eine Überraschung.“

Ich hatte sie noch nie persönlich angerufen. „Können Sie Ihren Mann und die Jungen erreichen und sofort kommen? Francesca hat einen Unfall gehabt.“

„Caporale?“ fragte sie ohne zu zögern.

„Leider. Fragen Sie im Ospedale Civico nach Dr. Galli.“

„Wie geht es ihr, Signore Terry?“ fragte sie. „Bitte, wie geht es ihr?“

„Es ist ernst.“ Ich konnte ihr unmöglich sagen, dass Francesca tot war. Dass überall ihr Blut an mir klebte. „Wann werden Sie hier sein?“

„Zwischen fünf und sechs“, sagte sie. „Ich weiss nicht, wie schnell ich die Männer erreiche.“

„Gut. Dr.Galli wird Ihnen alles erklären. Ich werde in meiner Wohnung auf Sie warten.“

„Ich bin froh, dass Sie in Francescas Nähe sind“, sagte sie.

„Und doch habe ich es nicht verhindern können. Bis später.“

Ich legte schnell auf. Francescas Eltern waren einfache Leute aus Apulien, die ihre Tochter vergötterten. Il Caporale, der auch aus Apulien stammte, konnte froh sein, wenn er hinter möglichst dicken Mauern sass und sein Clan im italienischen Stiefelabsatz nicht ausgelöscht wurde.

Eine Schwester holte mich ab. Sie gab mir einen kleinen Bund mit Francescas Büro- und Wohnungsschlüsseln und einen flachen Geldbeutel, den Francesca im Jackentäschchen gehabt hatte.

Wenn sie mittags zum Essen ging, hatte sie ungern eine Handtasche mitgenommen.

„Ich werde Ihnen ein frisches T-Shirt geben“, sagte die Schwester. „Vielleicht finden wir auch eine Hose, die Ihnen passt. So können Sie sich nirgendwo blicken lassen.“

Zuerst führte sie mich in einen Raum der Notfallstation. Dr. Galli stand neben einer hüfthohen Bahre, auf der Francesca lag. Sie war knapp bis unter die Schultern mit einem grünen Tuch zugedeckt. Es war mir, als läge auf ihrem Antlitz immer noch der Blick, mit dem man sie mir aus den Armen genommen hatte. Das Lächeln nach ihrem letzten unvollendet gebliebenen Satz, nach dem sie die Augen geschlossen hatte. Jemand hatte ihr Haar so geordnet, dass ein paar Strähnen auf den nackten Schultern lagen. Das sah etwas künstlich aus, aber es erinnerte mich an das kleine Portrait, das ich von ihr besass. Sie hatte es mir aus Rimini mitgebracht, wo ein Strassenmaler es angefertigt hatte. Fotos von sich hatte sie nie verschenkt.

„Eine wirklich schöne Frau“, sagte der Arzt mehr zu sich selbst als zu mir. „Und da kommt jemand und erschiesst sie, weil er glaubt, sie dürfe nur ihm gehören. Was für ein Wahnsinn! Was für ein unglaublicher Wahnsinn!“ Er nahm das Tuch und deckte Francesca zu. Für immer.

„Ihre Eltern werden zwischen fünf und sechs zu Ihnen kommen“, sagte ich.

„Das muss wohl so sein“, erwiderte er. „Was glauben Sie, wie ich solche Stunden hasse. Doch jetzt zu Ihnen.“

Ich musste mich in einem anderen Raum völlig ausziehen, und er drehte mich ein paar Mal hin und her. „Nirgendwo ein Kratzer“, sagte er. „Der Täter muss Sie verfehlt oder gern gehabt haben. Vielleicht erfahren Sie das im Prozess.“ Sein Suchgerät begann zu piepsen. Er verabschiedete sich und ging schnell davon.

Ich durfte duschen, bekam ein neues weisses T-Shirt, ohne Windrose, und eine Hose, deren Beine zu kurz waren.

„Möchten Sie die verschmutzten Sachen mitnehmen?“ fragte die Schwester.

„Nein, nur das, was in den Hosentaschen ist. Die Sachen bringe ich Ihnen bei Gelegenheit zurück.“

„Es eilt nicht. Das Kostüm von Frau Colanni werden wir der Polizei übergeben müssen.“

„Sie sah sehr gut darin aus“, sagte ich.

„Bestimmt“, meinte die Schwester. „Ich habe schon einiges gesehen, das ich lieber nicht gesehen hätte.“

Ich ging zum Empfang und liess ein Taxi kommen, das mich zum Autosilo brachte. Von dort fuhr ich in die Residenza zurück. Ich war nur drei Stunden weg gewesen, aber es kam mir so vor, als sei ich in diesen drei Stunden in einer ganz anderen Welt gewesen, und als könne ich nie wieder in die Welt zurück finden, die ich um zwölf verlassen hatte.

 

3

Mein Telefon klingelte zum ersten Mal, als ich mich gerade erneut umgezogen und mit einer Nagelbürste die letzten Blutreste unter den Fingernägeln entfernt hatte.

Es war Lilly, die aus Bologna anrief. Sie habe von Giulietta gehört, auf der Piazza bei uns habe es eine Schiesserei gegeben, und Francesca und ich seien irgendwie darin verwickelt gewesen. Genaues habe Giulietta in dem Durcheinander auch nicht ausmachen können. Im Hintergrund hörte ich Lillys weisse Zwergpudel, es waren zwei oder drei, verspielt knurren und bellen. Lilly war schwanger, und ich fragte sie zunächst einmal, wie es ihr gehe.

„Die schlimmsten Wochen hab’ ich, glaub’ ich, hinter mir. Was ist denn nun dran an der Geschichte von Giulietta?“

Ich stellte mir Lilly vor, die da arglos im Salon ihrer Villa sass, die spielenden Hunde zu ihren Füssen, und ich hätte am liebsten einfach aufgelegt. Aber es war trotz allem das beste, wenn sie es von mir erfuhr. „Il Caporale hat Francesca erschossen“, sagte ich, obwohl ich es selbst noch nicht ganz glauben konnte.

Es war eine Zeitlang still. Selbst von den Hunden war nichts mehr zu hören. „Erschossen?“ fragte Lilly dann. „Heisst das, sie ist tot?“

„Ja, sie ist tot“, sagte ich. Wie ich die Endgültigkeit dieses Wortes plötzlich verabscheute.

„Und du? Bist du verletzt?“ fragte Lilly. Sie hatte mich immer gemocht.

„Nein. Er hat auch noch Marcello, Francescas neuen Freund erschossen.“

„Den hat sie doch gerade erst kennen gelernt“, empörte sich Lilly, und die Hunde bellten zustimmend. „Wissen es ihre Eltern schon?“

„Wir erwarten sie in zwei Stunden. Nimm es mir nicht übel, wenn ich jetzt nicht weiter spreche. Ich rufe dich in den nächsten Tagen an.“

„Meinst du, ich soll kommen?“

„Nein, du kannst hier gar nichts tun. Schau du nach dir selbst.“

„Oh, Gott, Francesca!“ rief sie, und ich konnte hören, wie sie in Tränen ausbrach.

„Lilly“, sagte ich. „Lilly!“. Aber sie antwortete nicht mehr, und ich legte auf.

Zehn Minuten später rief Giulietta an, die schon mehrmals versucht hatte, mich zu erreichen. Sie wollte endlich Ordnung in das bruchstückhafte Bild bringen, das sie sich von ihrem etwas entfernten Platz gemacht hatte. Auch sie war völlig ausser sich, als sie hörte, was geschehen war. Sie bat mich, ihr unbedingt mitzuteilen, wann und wo Francesca beerdigt würde.

Wieder ein paar Minuten später, ich hatte gerade einen Whisky getrunken, rief Ettore an. Ettore war Francescas Chef. Er hatte ein Jahr in Australien gelebt, und wenn ich Francesca im Büro abgeholt hatte, hatte er gern das etwas ausgefranste australische Englisch mit mir gesprochen. Ettore hatte keine Ahnung, was passiert war. Er entschuldigte sich, dass er überhaupt anrief, was er noch nie getan hatte. Francesca habe ihm einen Zettel hingelegt, sie sei mit mir zum Kaffeetrinken auf der Piazza. Aber bis jetzt sei sie noch nicht wieder aufgetaucht. Natürlich, ich hatte total vergessen, dass Francesca aus einem ganz normalen Arbeitstag herausgerissen worden war. „Weißt du wirklich nicht, was passiert ist?“ fragte ich ungläubig, denn sein Büro lag in Hörweite der Piazza.

„Ich war zum Mittagessen zu Hause und nachher kurz bei einem Kunden. WAS um Himmels willen ist denn passiert?“

„Francesca ist erschossen worden“, sagte ich.

Er nahm wohl an, mein Englisch nicht richtig verstanden zu haben und bat mich, den Satz noch einmal in Italienisch zu wiederholen.

„Francesca e stata uccisa”, sagte ich so deutlich ich konnte.

„Stata uccisa. Das heisst, sie lebt nicht mehr.“

„Sie lebt nicht mehr“, wiederholte ich. „Wir haben sie noch ins Ospedale Civico gebracht, aber sie war nicht mehr zu retten.“

„Wer hat es getan?“ fragte er.

„Il Caporale“, sagte ich. “Du hast den Namen vielleicht schon gehört.”

„Nicht nur gehört, Terry. Dieser Kerl ist ein paar Mal in meinem Büro aufgetaucht und hat furchtbare Dinge über Francesca erzählt. Ich musste ihn regelrecht rausschmeissen. Und ich hoffe, sie vierteilen diesen Maniac. Wo ist es passiert?“

„Mitten auf der Piazza.“

„Und du warst dabei?“

„Ja. Aber erwarte nicht, dass ich dir das jetzt beschreibe. Ich bin völlig fertig.“

„Natürlich“, sagte er. „Es wird ein paar technische Dinge abzuwickeln geben. Schlüssel und so. Wirst du das übernehmen?“

„Ich werde mit ihren Eltern darüber sprechen. Du hörst von uns.“

„Danke, Terry. Das ist auch für mich ein äusserst schwerer Schlag. Francesca war eine grossartige Mitarbeiterin, und...es ist einfach furchtbar. Ich glaube, ich brauche ein paar Tage um das zu begreifen.“

Ich fragte mich, wem ich die Geschichte als Nächstem erzählen müsste.

Hätte ich nicht für die Polizei und Francescas Eltern erreichbar sein müssen, hätte ich das Telefon abgestellt. Die Mordkommission rief den auch kurz darauf an und bat mich, am nächsten Tag zu ihnen zu kommen, um den Täter, der beharrlich schwieg, noch einmal eindeutig zu identifizieren.

Dann blieb es eine Zeitlang ruhig. Ich setzte mich mit einem Becher Tee auf die Terrasse und schaute über den See. Es tat nach diesen entsetzlichen Stunden gut, den Blick über das ruhige Wasser wandern zu lassen, das von dem Geschehen an seinen Ufern nicht die geringste Notiz nahm. Zum ersten Mal gelang es mir, eine schlüssige Ordnung in meine Gedanken zu bringen und den Ablauf des Tages aus einer Entfernung zu betrachten, die mich selbst wie einen Fremden erscheinen liess.

Einmal stand ich auf und schaute auf Francescas Terrasse hinüber. Zwischen den Pflanzen, die einen Grossteil des Platzes einnahmen, stand ein Ständer, auf dem noch Wäsche vom Vorabend hing. Ein paar T-Shirts, Blusen, Höschen, Tops und anderes. Sie würde diese Sachen nie wieder tragen, nie wieder zu ihren Pflanzen sprechen oder um die Ecke herum meinen Namen rufen.

Dann riefen kurz hintereinander drei Zeitungen an. Von irgendjemandem mussten sie meine Adresse bekommen haben. Im Krankenhaus oder von der Polizei. Wer weiss. Sie baten um Interviews, und eines der Blätter wollte eine Art Exklusivvertrag mit mir machen. Ich sagte, dass es meinerseits nicht viel zu erzählen gäbe. Frau Colanni sei meine Nachbarin gewesen, und ich wisse nicht mehr über sie als über meine anderen Nachbarn.

Aber schliesslich sei sie in meinen Armen gestorben, hiess es.

Wenn ich nicht da gewesen sei, sagte ich, hätte sie wahrscheinlich jemand anders aufgefangen , oder sie sei auf den Boden gefallen.

Ob ich glaubte, dass dieser Doppelmord geplant gewesen sei?

Mit absoluter Sicherheit könne das nur der Täter sagen.

Ob sie Fotos von mir machen dürften? Am besten auf der Piazza. An dem Tisch, an dem es geschehen sei.

Dort würde ich selbst für ein paar Millionen nicht mehr hingehen, liess ich sie wissen. Im übrigen sollten sie mich in Ruhe lassen. Ich spielte in dieser Geschichte eine eher zufällige Rolle. Dass ich sie damit belog, hielt ich für absolut in Ordnung. Zeitungen belügen uns auch wie und wann sie wollen, was sie mit ihren Kommentaren zu den Vorfällen auf der Piazza in den nächsten Wochen nachdrücklich bewiesen. Für den ersten Augenblick hatte ich sie abgewimmelt, doch sie kamen wieder und machten sogar Fotos von Francescas Terrasse.

Es wurde etwas kühler. Unsere Seite des Sees lag längst im Schatten. Die Dörfer auf der anderen Seite badeten noch in der Sonne. Grosse Fenster und glitzernde Gegenstände reflektierten manchmal das Licht, und dann sah es so aus, als stände drüben ein Haus in Flammen, oder als wolle mich jemand mit einem riesigen Spiegel blenden. Ich sass einfach da und wartete auf das Ende des Tages. In den letzten Jahren hatte ich sehr viel verloren, und mit dem Verlust Francescas war ein weiteres Glied aus der Kette meines Lebens heraus gebrochen, eines Lebens, das jetzt nur noch aus nichtigen Bruchstücken zu bestehen schien.

Die Colannis kamen erst um sieben Uhr. Carlo, der jüngere Bruder von Francesco, klingelte bei mir und fragte, ob ich rüberkommen könne. Den Eltern gehe es gar nicht gut. Sie seien ziemlich lange bei Dr. Galli und der Polizei gewesen. Ich nahm den kleinen Schlüsselbund und den flachen Geldbeutel und folgte ihm nach nebenan. Wie bei meiner ersten Begegnung mit ihnen musste ich feststellen, dass die Colanni-Männer überhaupt nicht wie Südländer aussahen. Sie waren gross, schlank und fast blond. Da musste über Jahrhunderte ein gotischer oder normannischer Einfluss erhalten geblieben sein. Francescas Mutter dagegen war eine typische Süditalienerin, nur nicht mit jenem schicksalergebenen, weltentrückten Gesicht, sondern mit feinen, aufgeschlossenen Zügen. In Francesca waren Statur und Aussehen ihrer Eltern auf glücklichste zusammengetroffen.

Frau Colanni lag mit völlig verweinten Augen auf der Couch. Als ich sie begrüsste, zog sie mich an sich, sodass ich mich schnell hinknien musste, um nicht auf sie zu fallen. Sie hatte noch nie etwas ähnliches getan. „Terry“, schluchzte sie, „Terry, es ist so furchtbar, so furchtbar.“

Herr Colanni sass in einem der Sessel und starrte teilnahmslos die Wand an. Die beiden Söhne, Burschen im Alter von zweiundzwanzig und vierundzwanzig machten sich in der Küche zu schaffen.

„Hat sie noch etwas gesagt?“ fragte Frau Colanni, mich langsam freigebend.

„Nur, dass Caporale verrückt sei, und dann hat sie noch nach Marcello gefragt.“

„Sie war am vorletzten Wochenende mit Marcello bei uns“, sagte Frau Colanni unter erneuten Tränen. „Ein netter Mann. Er hätte gut zu Francesca gepasst. Dieser Caporale muss durchgedreht sein, als er gehört hat, dass sie mit Marcello zusammenziehen will.“

„Er muss sie ständig beobachtet haben“, rief einer der Jungen aus der Küche. „Wir hätten dieses Schwein schon vor ein paar Jahren aus dem Verkehr ziehen sollen.“

„Immerhin hat er Francesca heiraten wollen“, schluchzte Frau Colanni.

„Und sich ständig mit anderen herumgetrieben“, rief der Junge.

„Ich will den Namen in meinem Haus nie mehr hören!“ sagte Herr Colanni plötzlich. „Versteht ihr : Nie mehr!“

Ich setzte mich in den zweiten Sessel. Monströse Dinger, die zu der möblierten Einrichtung gehörten.

Francescas allerletzte Worte waren nur an mich gerichtet gewesen. Ich sah keine Veranlassung, sie irgendjemandem mitzuteilen.

„Ich bin froh, dass Sie bei ihr waren“, sagte Herr Colanni, den Blick endlich von der Wand lösend. „Francesca hat grosse Stücke auf Sie gehalten.“

„Francescas Chef hat angerufen“, lenkte ich ab. „Sie hat eine Menge persönlicher Sachen im Büro.“

„Wir werden uns um all das kümmern“, sagte Herr Colanni, der sich langsam zu fangen schien. „Und wir schätzen es sehr, wenn Sie uns etwas behilflich sind, Terry.“

„Natürlich werde ich das sein“, sagte ich.

Eine Zeitlang war es still. Frau Colanni, die im Krankenhaus offensichtlich ein Sedativ bekommen hatte, beruhigte sich etwas. Ich legte Francescas Schlüsselbund und das Geldtäschchen, das ein paar bräunlich gewordene Blutspuren aufwies, auf den Tisch. Die Jungen kamen aus der Küche und setzten sich rechts und links von ihrem Vater auf die Sessellehnen.

„Wir werden unser Mädchen zu Hause beerdigen“, entschied Herr Colanni mit fester Stimme. „Zu Hause, in Apulien. Das hier ist ein fremdes Land. Wir haben es nicht schlecht getroffen hier, aber zur ewigen Ruhe werden wir dorthin zurückkehren, wo wir hergekommen sind. Wo meine und Mutters Eltern und Grosseltern liegen, und wo wir alle einmal liegen werden.“

Ich nahm an, dass er mich nicht mit einbezog, denn ich wollte auf jeden Fall eingeäschert werden, und es war mir egal, wo das geschah, wenn ich mir auch wünschte, dass meine Asche über dem Meer verstreut würde, am liebsten über dem Korallenmeer, wo sie in eine bunte Welt unter dem Wasser versinken würde. Deshalb konnte ich Herrn Colanni gut verstehen.

In Apulien, wo ich noch nie gewesen war, gab es laut Francescas Erzählungen Oliven- und Mandelbaumhaine, Tabakfelder und Weingärten, und sie ruhten dort sicher so gern wie meine Asche zwischen den bunten Korallen. Untröstlich musste ich nur darüber sein, dass Francesca und ich, wo immer wir auch begraben, verbrannt und versenkt würden, nie wieder zusammen kamen.

 

Herr Colanni kündigte an, dass er sich gleich am nächsten Tag um die Überführung und das Begräbnis kümmern werde. Während Frau Colanni schluchzend einschlief, verteilten wir die Aufgaben ein wenig, die Angelegenheiten, die mit dem Tod eines Menschen zu erledigen sind.

Später setzten wir vier Männer uns auf die Terrasse hinaus und tranken ein paar Dosen Bier. Herr Colanni sagte zu den Jungen nur, dass sie wahrscheinlich den Lieferwagen von ihrem Nachbarn ausleihen müssten, um Francescas Sachen nach Hause zu schaffen. Die grossen Pflanzen wie der Bambus würden nicht einmal in den Wagen hinein passen. Ob ich sie haben wolle? Ich sagte ihnen, dass ich nach den Ereignissen für eine Zeitlang, vielleicht auch für immer weggehen würde und nicht wüsste, wer sich dann um die Pflanzen kümmere. Aber Giulietta, die gerade umgezogen war und einen grossen, leeren Balkon hatte, würde die Pflanzen sicher gern nehmen.

Es ging gegen Mitternacht, als Frau Colanni herauskam und schweigend Francescas Wäsche abnahm. Während sie die Sachen zusammenlegte, begann sie wieder zu weinen. Der ältere Sohn stand auf und nahm sie in den Arm. Ich glaube, die Männer kümmerten sich gut um sie. Sie hatten sich auch alle gut um Francesca gekümmert. Sie waren noch eine richtige Familie, in der einer für den anderen da war, etwas, das ich mir immer gewünscht, in dieser Form aber nie bekommen hatte. Es bedurfte tiefsitzender Wurzeln dazu, die auch in den unausbleiblichen Dürren des Lebens nicht abstarben. Meine Wurzeln hatten diesen Halt nie gefunden. Sie waren immer an der Oberfläche dahin gerankt, zu schnell ausgetrocknet oder von Wind und Regen unterhöhlt worden.

Als ich mich von ihnen verabschiedete, dankten sie mir alle noch einmal dafür, dass ich mich während des Jahres, in dem Francesca meine Nachbarin gewesen war, so gut um sie gekümmert hatte und in ihren letzten Augenblicken bei ihr gewesen war. Dann war dieser denkwürdige Tag zuende, und ich ging in meine Wohnung hinüber. Ich hatte befürchtet, nicht einschlafen zu können, von Bildern und Stimmen, von Schüssen und Blut, von Francescas totem Gesicht und Caporales entrücktem Lächeln verfolgt zu werden. Doch die Natur zog einen Schlussstrich unter die letzten zwölf Stunden, und ich schlief traumlos bis in den Morgen hinein.