Was der Tag mir zuträgt

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Aus der Reihe: Literatur (Leinen)
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Genesung

Weil Einer nicht an Typhus starb,

war's darum bloß ein leichtes Fieber?!?

Glauben Gnädige an eine Liebe nicht,

weil Einer nicht daran verdarb?!?

Verbrannt zu Asche, hebt der Phönix sich,

verklärt durch Schmerz, in Himmelshöhen – – –

versengst Du einem Sperling sein Gefieder,

erhebt er sich nie wieder!

Dedikation in ein Büchlein der Pantheon-Ausgabe von "Werthers Leiden":

Hernach.

Lotte nach Werthers Tode

Und so war ihr nun die Unruhe aus dem Wege geräumt – – – – –. Da saß sie denn oft sinnend und sinnend über das Merkwürdige, dass einer um sie gelitten und gelitten und gelitten, dem sie doch nicht hatte helfen dürfen – – – – –.

Albert nach Werthers Tode

Und Albert nahm ein Jahr lang seine geliebte Frau nicht in Besitz. Denn er fühlte es, dass sie ihm nicht ganz gehöre, nicht ganz – – –.

Und so wartete er denn, bis Ruhe einzog, verblassendes Erinnern und des Alltages einfacher Anspruch.

Verkehr zwischen Menschen

Die beiden wohlbestallten Künstler saßen im kleinen Nachtcafé und besprachen es emsig, wie brutal der Ichismus der Nebenmenschen wäre! Das Wort "Ichismus" sprachen sie so aus, wie wenn sie sagten: Die übrige Menschheit sagt nämlich "Egois­mus"!

Da sagte das junge Fräulein: "Was redt's denn da für an Unsinn zusammen, hm?! Hat das an Sinn?! Hörts zu, meine Frau hat mich heute gepfändet! Gibt's das, eine eigenhändige Pfändung?! Das gibt's nicht! Was?!"

"Bitte, wir sind keine Advokaten – – –."

"Keine Advokaten?! Da schau her! Ein jeder ge­bildete Mensch muss wissen, dass es eine eigenhändige Pfändung niemals nicht gibt! Wie stellts ihr euch das vor?! Da möchte die ganze Welt nichts tun als pfän­den! Nur ein bissel nachdenken, meine Herren, ja?!"

Die Künstler besprachen es nun, dass der aufgeblasene Herr B. so erfüllt sei von sich selbst, dass er nichts höre und nichts sehe, wie der Auerhahn auf dem Fichtenaste. Nur habe er nicht immer die Entschuldi­gung sexueller Erregung für sich wie das Biest!

Das Mädchen begann zu weinen über die eigen­händige Pfändung von Seiten der Frau. Sie erklärte nochmals den Herren, dass es eine eigenhändige Pfän­dung niemals nicht gebe.

Die Herren sagten nun, dass sie es auch für aus­geschlossen hielten, und begannen daher das Mädchen ein wenig abzuküssen, da sie sie infolge ihrer Zu­stimmung ziemlich getröstet wähnten.

Dieselbige war aber noch nicht so weit. Die Herren sagten ihr nun, dass sie ihren Beruf verfehlt habe; sie sei eine Trauer-Dirne. Damit werde sie keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken.

Das Mädchen starrte vor sich hin und sagte: "Eine eigenhändige Pfändung gibt's nicht!"

Die Künstler nahmen nunmehr eine teilnehmende Haltung an und sagten: "Wie viel bist du ihr denn eigentlich schuldig? Was wird es denn weiter sein?!"

Das Mädchen erwiderte hoffnungsvoll: "35 Gulden!"

Die Künstler: "Was?! So eine Bagatelle?! Und da plärrt sie! Das kannst du ihr ja leicht in Raten abzahlen!"

Das Mädchen fühlte: "Bagage, hängt euch auf!"

Die Künstler berechneten es nun, dass bei Wochenraten von nur 5 Gulden sie in sieben Wochen damit komplett fertig sein könne. Komplett. Oder sie solle Monatsraten à 20 Gulden zahlen. Oder, noch besser, täglich einen Gulden. Sie einigten sich auf täglich einen Gulden.

Das Mädchen saß da und weinte bitterlich.

Die Künstler wurden böse und gingen weg.

Draußen sagten sie: "Soll man sich für jemanden einsetzen?! Da rechnet man sich den Kopf heraus für fremde Leute! Was hat man davon?! Undank!"

Der arme Kellner trat nun zu dem Mädchen hin: "Sie, Fräul'n, heute um 8 Uhr früh fahren wir beide zusammen zu Gericht! Eine eigenhändige Pfändung gibt es niemals nicht! Mir leben in einem Rechtsstaate!"

Sie gingen miteinander nach Hause, um die Details zu präzisieren.

Es waren noch drei Stunden bis acht Uhr früh, welche Zeit sie ziemlich ausnützten.

Um acht Uhr früh sagte ihr Ritter: "Weißt was, Mizerl, mit die Gerichte soll man nix anfangen. Die Frau wird's nicht so bös gemeint haben. Weißt was, Mizerl, zahl's in Raten ab!"

Das Mädchen war schon ganz ermattet und, wieder einschlummernd, sagte sie sanft: "Eine eigenhändige Pfändung gibt es niemals nicht. Was, Schurschl?!"

Ein Liebesgedicht

Rosig will ich, muss ich dein geliebtes Antlitz sehen – – –

Und wenn ich es mit meinem Herzblut rosig färben müsste!

Rosig muss ich dein geliebtes Antlitz sehen,

Rosig und mit dem süßen kindlichen Ausdruck des Wohlergehens!

Aber bleich bist du mir nun geworden seit Tagen,

Und unendliche Müdigkeit dämmert in deinen sonst lichten Augen!

Geliebtestes Geschöpf dieser Erde, was ist dir?!?

Mir bangt so schrecklich – – –.

Willst du den Prinzen in deinen Armen haben?!?

Willst du den romantischen Gymnasiasten?!?

Willst du den Kellner, der dir serviert?!?

Willst du den Fremden, der auf der Straße gebannt verweilt?!?

Willst du den Bäckerjungen, der morgens Brot bringt?!?

Bleich bist du mir nun geworden, seit Tagen,

Geliebtestes Geschöpf dieser Erde – – –

Bleich bist du mir geworden und kränklich!

Brauchst du Räusche?!?

Ich, ich kann sie dir nicht mehr geben – – –

Denn der tückische Mörder "Gewohnheit" schlich sich hinterrücks in deine zarte Seele ein –.

Geliebteste,

Rosig will ich, muss ich dein geliebtes Antlitz sehen – – –

Und wenn ich es mit meinem Herzblut rosig färben müsste!!

Im Volksgarten

"Ich möchte einen blauen Ballon haben! Einen blauen Ballon möchte ich haben!"

"Da hast du einen blauen Ballon, Rosamunde!"

Man erklärte ihr nun, dass darinnen ein Gas sich befände, leichter als die atmosphärische Luft, infolgedessen etc. etc.

"Ich möchte ihn auslassen – – –", sagte sie

einfach.

"Willst du ihn nicht lieber diesem armen Mäderl dort schenken?!?"

"Nein, ich will ihn auslassen – – –!"

Sie lässt den Ballon aus, sieht ihm nach, bis er verschwindet in den blauen Himmel.

"Tut es dir nun nicht leid, dass du ihn nicht dem armen Mäderl geschenkt hast?!?"

"Ja, ich hätte ihn lieber dem armen Mäderl geschenkt!"

"Da hast du einen andern blauen Ballon, schenke ihr diesen!"

"Nein, ich möchte den auch auslassen in den blauen Himmel!" – Sie tut es.

Man schenkt ihr einen dritten blauen Ballon.

Sie geht von selbst hin zu dem armen Mäderl, schenkt ihr diesen, sagt: "Du, lasse ihn aus!"

"Nein", sagt das arme Mäderl, blickt den Ballon begeistert an.

Im Zimmer flog er an den Plafond, blieb drei Tage lang picken, wurde dunkler, schrumpfte ein, fiel tot herab als ein schwarzes Säckchen.

Da dachte das arme Mäderl: "Ich hätte ihn im Garten auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut, nachgeschaut – – –!"

Währenddessen erhielt das reiche Mäderl noch zehn Ballons, und einmal kaufte ihr der Onkel Karl sogar alle dreißig Ballons auf einmal. Zwanzig ließ sie in den Himmel fliegen und zehn verschenkte sie an arme Kinder. Von da an hatten Ballons für sie überhaupt kein Interesse mehr.

"Die dummen Ballons – –-", sagte sie.

Und Tante Ida fand infolgedessen, dass sie für ihr Alter ziemlich vorgeschritten sei!

Das arme Mäderl träumte: "Ich hätte ihn auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut und nachgeschaut – – –!"

Annie Kalmar

Geb. 1878, gest. 1901.

Ideale Grabschrift:

Wie ein adeligstes Paradigma der eigentlichen Pläne des Schöpfers mit diesem Kunstwerk "Frau", wardst du, Lieblichste, in dieses "Tal der Unzulänglichkeiten" gesendet, Annie Kalmar! Auf dass die Männer es lernten, an der süßen Anmut eines Lächelns bereits glückselig werden zu können!

Aber sie lernten es nicht!

Sie fraßen sich satt und entfernten sich.

Da zog denn der Schöpfer vorzeitig sein adeligstes Paradigma zurück, rief es wieder zu sich, da es doch unnütz war unter den Menschen!

Der Vogel Pirol

Noch ist es Nacht im Prater. Nun wird es grau. Ein­dringlich duften die Weiden und Birken, sanft-ölig.

Der Vogel Pirol beginnt Reveille zu blasen, Reveille der Natur! In kurzen Absätzen bläst er Reveille. Gleichsam die Wirkung abwartend auf Schläfer. Alles, alles ist noch still und grau, Birken und Weiden duften eindringlich, und der Vogel Pirol bläst in kurzen Zwischenräumen Reveille. Unablässig.

Die Dame sagte einmal: "Oh, ich möchte das Leben kennenlernen. Ich kann ihm nicht nahekommen, es nicht ergründen – – –"

Da sagte der Herr: "Haben Sie schon den Vogel Pirol in den Praterauen Reveille blasen gehört im Morgendämmern?!?"

"Muss man das tun, um das Leben ergründen zu können?!?"

"Ja, das, das muss man. Von solchen versteckten Winkeln aus, gleichsam aus dem Hinterhalte, kann man dem Leben beikommen! Da, da beginnt die mysteriöse Schönheit und der Wert der Welt!"

 

"Wie sieht er denn aus, der Vogel Pirol?!"

"Niemand sieht ihn. Irgendwo in alten, alten Birken hockt er und bläst Reveille und weckt zum Tage. Immer lichter und lichter wird es, und die weiten Auen werden ganz sichtbar. Am Ufer sind schwarze riesige Schleppschiffe, Tagestätigkeit erwartend mit ihren geräumigen Kräften."

"Gehen wir zum Vogel Pirol – – –", sagte die Dame.

Die Biberratte

Ein ziemlich unwahrscheinliches Tier. Wie eine Ratte aus Gullivers "Reich der Riesen". Immerhin ein tüchtiger Schwimmer, und auf dem Lande putzt sie sich ziemlich anmutig, aufrecht sitzend, mit den Vorderpfoten. Wenn man ihr Brot und Semmel vorwirft, hat sie die Empfindung: "Hast du vier Volksschulklassen absolviert, mein Lieber?! Da solltest du es doch wissen, dass wir uns ausschließlich von Fischen nähren – –."

Die Biberratte trägt im Ganzen nicht viel zur Unterhaltung bei.

Aber man erwartet sich unablässig etwas Besonderes von diesem Tiere.

Das ist das Besondere an ihm.

Man steht stundenlange vor dem kleinen Bassin. Man möchte ihm etwas durch Warten abtrotzen!

Der Hofmeister natürlich beeilt sich, dem Tiere sofort seinen ganzen Reiz zu nehmen und erzeugt mit Hilfe von Detail-Schilderungen bei seinen Zöglingen eine fürs ganze Leben dauernde Gleichgültigkeit gegen Biberratten!

Die Gouvernante hingegen fasst sich kürzer und sagt: "De gros rats, fidonc!"

Der Landungssteg

Ich liebe die Landungsstege an den Salzkammergut-­Seen, die alten grauschwarzen und die neueren gelben. Sie riechen so gut wie von jahrelang eingesogenem Sonnenbrande. In dem Wasser um ihre dicken Pfosten herum sind immer viele ganz kleine grausilberne Fische, die so rasch hin und her huschen, sich plötzlich an einer Stelle zusammenhäufen, plötzlich sich zer­streuen und entschwinden. Das Wasser riecht so an­genehm unter den Landungsstegen wie die frische Haut von Fischen. Wenn das Dampfschiff anlegt, er­beben alle Pfosten, und der Landungssteg nimmt seine ganze Kraft zusammen, den Stoß auszuhalten. Die Maschine des Dampfschiffes mit den roten Schaufel­rädern kämpft einen hartnäckigen Kampf mit dem in renitenter Kraft verharrenden Landungsstege. Er gibt nicht nach, wehrt sich nur, soweit es unbedingt nötig ist, nach außen hin und erzittert vor innerem Widerstande.

Endlich siegt seine ruhige, in sich verharrende Kraft, und das Schiff lässt locker, gibt nach, entfernt sich wieder.

Stunden und Stunden liegt der Landungssteg für Dampfschiffe, meistens im Sonnenbrande dörrend, einsam, gemieden da.

Plötzlich kommen angeregte Menschen in lichten Kleidern, sammeln sich auf dem Landungsstege. "Geht nicht zu weit vor", sagen die Eltern und betrachten den Landungssteg als eine imminente Gefahr. Ich könnte nun mit einiger Berechtigung sagen: "Irgendwo, abseits, lehnen zwei hart nebeneinander stumm am Geländer." Aber das ist alte Schule und infolgedessen unterdrückt man es. Ich kann jedoch nicht leugnen, dass das beharrliche Hinabstarren am Geländer des Landungssteges in das Wasser, in der Nähe einer jungen Dame, durch längere Zeit durchgeführt, oft seine laute verständliche innere Sprache spricht.

Auf den Landungsstegen werden meistens kleine unbrauchbare Fische gemartert. Man fängt sie, schleudert sie zu Boden, weidet sich an ihrem Totentanz. Freilich, zwischen den Zähnen eines Hechtleins ist es auch nicht angenehmer. Und wer stirbt ruhig in seinem Bette?! Auf den Landungsstegen befinden sich ebenfalls zuzeiten die Komitees und das Präsidium der Jachtwettfahrer. Segelregatta. Stundenlange starren sie mit Operngläsern irgendwohin, auf einen mysteriösen Punkt im See, und niemand aus dem Publikum hat eine Ahnung, was vorgeht. Trotzdem ist alles sehr aufgeregt. Hie und da fällt ein technischer Ausdruck. Plötzlich wird Hurra geschrien und einiges emsig notiert. Der Landungssteg ist da wie der Hügel eines Feldherrn. Man starrt mit Operngläsern auf den Aus­gang der Schlacht. Da ist der Landungssteg mitten im Leben drin. Dann liegt er wieder in Mondnächten da wie ein dunkles Ungetüm, zieht sich, streckt sich schwarz hinaus in den silbernen See.

Ich liebe die Landungsstege der Dampfschiffe an den Salzkammergut-Seen, die alten grauschwarzen und die neueren gelben. Sie sind mir so ein Wahrzeichen von Sommerfreiheit, Sommerfrieden, und sie duften wie von jahrelang eingesogenem Sonnenbrande – –.

Schlehdornzweig

Anfangs Juli, an einem Feiertage.

Es war ein Gekribbel von Menschen, wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Auch so lange, gedrängte Kolonnen von Kommenden und Gehenden. In dem wunderbaren weiten Alleen-beschnittenen herzoglichen Parke.

Alles war so wohlgepflegt und wohlbehütet, so sicher bewahrt vor der dummen Leidenschaft der Kinder und der Kindlichen!

Da brach die Herrliche einen Zweig von Schleh­dorn ab.

Der Dichter sagte ihr sogleich: "Wenn jeder hier einen solchen Zweig sich bräche, wäre der wunder­bare Garten in einer Stunde devastiert!"

Sie schwieg. Sie begehrte auf mit der Weltordnung, setzte ihren Willen auf den Thron!

Dann sagte er: "Wir müssen beim Haupttore an den herzoglichen Gendarmen vorüber. Werfen Sie doch, bitte, den Zweig weg!"

"Ich mag es nicht. Er ist schön und ich behalte ihn. Ich mag ihn gern – – –."

"Es steht nicht dafür, mit der Welt und ihren immerhin soliden Einrichtungen aufzubegehren wegen eines Schlehdornzweiges!?! Werfen Sie ihn doch weg!"

"Pfui, P. A., Sie haben keinen Sinn für Freiheit, Sie sind feig! Ich mag Sie nicht!"

Er schwieg. Sie ging mit ihrem Schlehdornzweige.

Beim Haupttore stand ein langer junger Gendarm. Er sah den Zweig in der Hand der Herrlichen, wandte sich momentan, fast verlegen, nach einer anderen Seite um.

Wir kamen über den weiten edlen Vorplatz. "Nun, sehen Sie?!?", sagte sie.

Er schwieg. Sie stiegen in den Wagen, fuhren zur Stadt.

Er sagte: "Wenn jeder von den Besuchern des wunderbaren Parkes sich einen solchen Zweig bräche, wäre dieser in einer Stunde devastiert!"

Sie saß triumphierend da und spielte mit ihrem Schlehdornzweige.

Sie war wunderbar schön, so kindisch-siegreichtrotzig.

Er dachte: "Weshalb, Süßeste, hat man dir deinen Hintern nicht durchgehaut, seinerzeit?!? Heute freilich wäre es bereits schade – – –."

Kunst,

nun will ich über dich sprechen, so wie ich dich ver­stehe und auffasse mit meinem Herzen:

Wie ein edles Phantom bist du bisher gewesen, wie ein wundersames Gespenst, das am helllichten Alltage der Straße vor den geschäftigen, allzu geschäftigen Leuten auftaucht! So entfernt von ihrem Alltagdasein, so ohne Beziehung zu ihrem Selbsterhaltungstriebe, der doch immer ist und wirkt! Ein mattes über­flüssiges, geschaffen von überflüssigen Künstlers Gnaden! Eine luxuriöse Tändelei! Wir wollen dich aber nun lebendig machen, dich dem Leben des All­tages näherrücken, du blut-, du fleischloses Gespenst "Kunst"! In die Stunde wollen wir dich rücken, die erlebt wird, dass du befruchtend und bereichernd wirkest auf Alltagmenschen!

Die größte Künstlerin vor allem ist die Natur, und mit einem Kodak in einer wirklich menschlich-zärt­lichen Hand erwirbt man mühelos ihre Schätze. Sehet euch die Birken an, die Pappelbäume, zur Winters- und zur Sommerszeit, die Hausgärten voll Schnee und strohumhüllten Rosenstöcken. Sehet euch den rotgrauen Käfer aus Ceylon an oder die drapfarbige Muschel aus dem Ozean –, und ihr werdet die Künst­lerin "Natur" in euch aufnehmen mit liebevoll be­reicherten Augen. Und der blaubraun schillernde Schmetterling aus China, auf weißes Holz gespannt unter Kristallglas, ist schöner als alles, was ihr von Menschenunzulänglichkeit in euren öden Zimmern aufhäuft! Auf euren Nippes-verunreinigten Tischen!

Die Kunst ist die Kunst, das Leben ist das Leben, aber das Leben künstlerisch zu leben ist die Lebenskunst!

Wir wollen die Kunst, dieses Exzeptionelle, dem Alltage vermählen. Die Hand der Dame R. H. ist ein Kunstwerk Gottes. Oder das im Volksgarten spielende Kind R. O. Oder das Schreiten eines Alt-Aristokraten über die Straße. Der Reichtum des Daseins, nahegerückt für die, deren notwendige Geschäftigkeit sie hindert, ihn zu erleben! In deinen Tätigkeiten eingekapselt, kannst du nicht rechtzeitig Halt machen vor einem regenbeperlten Spinnennetz im abendlichen Walde und kannst nicht schauen, staunen und verharren! Wir wollen dich erziehen, das heißt aufhalten in deinen Rastlosigkeiten, auf dass du verweilest, schauest, staunest! Es gibt so viel zu schauen und zu staunen! Innezuhalten, zu verharren! Stillgestanden, Allzugeschäftiger! Nütze deine Augen, den Rothschildbesitz des Menschen! Wir wollen euch nur zeigen, woran ihr blindlings vorüberraset! Es gibt Menschen, die nichts zu tun haben. Vollkommen überflüssige des Daseins. Mit weit aufgerissenen Augen schauen sie und schauen. Diese hat das Schicksal bestimmt, die Vielzuvielbeschäftigten zum Verweilen zu bringen vor den Schönheiten der Welt!

Ashantee
Der Kuss

Ich saß auf einer Gartenbank im "Tiergarten". Auf meinem Schoße saß Bibi Akolé und zählte ihr Geld, welches in drei Portemonnaies wundervoll verteilt war, in jedem Fache 25 Kreuzer, Geschenke von Bewunderern.

Eine wunderschöne junge Dame kam und ihr Gatte.

Akolé sah die Dame an, stand auf, ging auf sie zu, breitete die Arme aus, wollte sie auf den Mund küssen, weil sie schön war.

Die Dame wich zurück.

Das Kind schmiegte sich an mich an, tief beschämt. "Madame – –", sagte ich, "ich bitte Sie, ich bitte Sie – – –."

"Nicht auf den Mund – –", sagte die Dame verlegen.

Ich nahm Akolé in meine Arme, küsste ihren geliebten Mund, dessen Atem wie der Hauch von Abend-Wiesen war.

"Tue es doch – – –", sagte der Gatte, "il sera offensé".

"Ich kann nicht – – –", sagte die wunderschöne junge Dame.

Da sagte ich: "Diese Dame ekelt sich vor dir, Akolé. Wie eine dumme stupide Mutter benehme ich mich, welche die anderen Menschen nicht begreift. Verzeihen Sie mir, Madame. Ich war wie eine stupide Mutter, das Dümmste, das Beschränkteste, was es auf der Erde gibt. Die Liebe eines Vogelgehirnes ganz einfach."

Die Dame gab dem Kinde eine Krone.

Das Kind gab sie zurück, sogleich.

Der Gatte dachte: "War das Ganze notwendig?! Solche überspanntheiten."

Die Dame sagte Adieu, gab mir die Hand, blickte mich traurig an.

Langsam ging das Ehepaar weg.

Akolé verkroch sich in meinen Armen, die sich in unermesslicher Liebe um sie schlossen.

Paradies

"Was möchtest du am liebsten von der Welt, Tíoko?!"

"Green bills cutted, Sir – – –." (Geschliffene grüne Glasperlen.)

"Und?!"

"And lila bills cutted, Sir – – –."

"Und?!"

"And nothing, Sir – – –."

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