Was der Tag mir zuträgt

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Aus der Reihe: Literatur (Leinen)
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Ich liebe dich

Sie: "Wie werden Blätter gelb?!"

Er: "Das grüne Chlorophyll des Blattes verwandelt sich in Gelbstoff, Xantophyll, unter dem Einflusse der Kälte."

Sie: "Wie werden Blätter rot?!"

Er: "Das grüne Chlorophyll des Blattes verwandelt sich in Rotstoff, Erythrophyll, unter dem Einflusse der Kälte."

Sie: "Und schwarz?!"

Er: "Das ist das Sterben des Blattes. Wenn es nicht mehr Kraft hat, Farben umzuwandeln, wird es schwarz."

Sie: "Und Blätter werden Erde?!"

Er: "Ja. Der Schnee zermürbt sie, präpariert sie vor."

Sie: "Lehre mich Botanik. Aber nicht wie in der Jugend, wie viele Staubgefäße jede Blume hat, wie sie lateinisch heißt, wo man sie findet. Lehre mich das Tiefe, wie sie wird und stirbt und niemals aufbegehrt und wieder wird und stirbt und wieder stirbt und dann doch auflebt – – –."

Er: "Anatomie, Physiologie der Pflanzen?!" Sie: "Ja, das."

Er: "So komm. Es ist zu kalt zum Sitzen im Freien. Und wir sind in Jahren – – –. Wir brennen Holz im Ofen und ich lehre dich, wie junge Stämme ihren Ring ansetzen. Vor allem, weißt du, wenn im ersten Frühjahr – – –."

Und sie ging schweigend, lauschend neben ihm.

Der Revolutionär hat sich eingesponnen

Kannst du dir vorstellen, mein Freund, dass ein Botaniker, mit dem "unheiligen organischen Hunger" in seinen Nerven, fähig sei, ein Gericht von Erbsen oder Blumenkohl auf sein Wesentliches zu prüfen?! Und ihr, Un-Gelehrte, mit eurem "unheiligen organischen Hunger" in den Nerven, unterfangt euch, dieses zarteste Gebilde "Weib" zu diagnostizieren?!

Elende! Von eurem Hunger aus!

Sein eigenes Leben nicht ernster nehmen als ein Stück von Shakespeare! Aber auch nicht minder ernst! Sich von dem Leben in Besitz nehmen lassen wie im Theater. Das Theater des Lebens. Der ideale Zuschauer seiner selbst sein! Ganz drin sein und dennoch aus den facheusen Komplikationen herauskommen können in die frische Nachtluft; erlebt haben, was man nicht erlebt hat, nicht erlebt haben, was man erlebt hat!

So reinigst du dich von dir selber!!

Und die "Tragödien deiner selbst" bringen dir das Lächeln – – der Weisheit!

Die tragischen Schwächungen: Essen, wenn man nicht hungrig ist. Trinken, wenn man nicht durstig ist. Sich bewegen, wenn man Ruhe-bedürftig ist. Sich begatten, wenn man Liebe-los ist.

In Weisheit führt uns die Natur! Wenn wir hungern, zum Brote. Wenn wir dürsten, zum Wasser. Wenn wir müde sind, zum Schlafe. Wenn wir Liebe-voll sind, zum Weibe.

Der Mann legt die Frauen-Seele auf das Prokrustes-Bett seiner Bedürfnisse.

Alles verzeih' ich dem Mann – – nur nicht das vergebliche Ringen! Schweigend verhülle dein Haupt, Cäsar des Lebens, wenn Brutus, das Schicksal, tödlich gegen dich stößt! Vergebliches Ringen geziemet dem Weibe, der Sklavin des Lebens! Noch, im Abgrunde schwebend, krümmt sie die Finger zum Griff!!

Das Unvermögen, sich mit einem anderen Weibe zu vereinigen als jenem, welches man mit der Seele liebt, ist – – göttliche Potenz!

Der Mann hat eine Liebe – – die Welt!

Die Frau hat eine Welt – – die Liebe!

Der vorsichtige feige Lebens-Mensch versetzt seine Ideale vermittels der Religionen in die Sterne, in den Himmel, um sich das Vergebliche eines Versuches, denselben nahe zu kommen, zu beweisen.

Der unbedenkliche und kühne Künstler-Mensch versetzt sie in seine eigene Brust, um ihnen nicht entrinnen zu können!

Die Frau ist die vom Schöpfer in die Welt gesetzte göttliche Wunsch-Maid Brunhilde, der "Weib gewordene" Wunsch Gottes selbst: Mann, werde Gottgleich! Werde All-gütig, All-weise und All-mächtig, deines eigenen Alls mächtig, über dich selbst die Macht habend!

Aber diese anderen fordern: Mann, sei Tier! Teufelinnen!

Mann, Herr des Lebens! Wann wirst du dich endlich entschließen, dich mit dem geliebten Weibe in einen anderen Kontakt zu setzen als den, welchen du mit dem Hunde, dem Paviane und dem Schweine gemein­sam zu haben die Ehre und das Vergnügen hast?!!

Gehört die Almwiese dem Hias'l, der sie bewirt­schaftet?!

Sie gehört dem Wanderer, der sie empfindet!

Der Künstler-Mensch verlangt von seinem Weibe nur eine einzige Treue – – –, dass sie ihm die Rasse nicht verschandele!

Schönheit, Vervollkommnungen träumt er. Das ist seine Liebe!

Aber diese anderen wollen – – – sich fortpflanzen. Ha ha ha ha – – auch eine Art, Vervollkomm­nungen zu träumen!

Ich will ein König sein, der bettelt bei einer Königin, nicht ein Bettler, der König ist bei einer Bettlerin!!

Die Eifersucht ist keine Leidenschaft. Sie ist eine Furcht! Die tiefste Furcht, die ewige des Lebens, die unentrinnbare organische Furcht, etwas zu verlieren, ohne das man nicht mehr lebendig sein kann – – seine Lunge, sein Rückenmark, sein Gehirn, das Herz des anderen, welches unseres geworden ist und welches unseren Blutkreislauf erhält und schützt wie das eigene. Wie wenn dieses stille stünde, ist der Verlust des anderen. Die Eifersucht ist keine Leidenschaft! Die Eifersucht ist eine Furcht, die ewige organische unentrinnbare, innerlich sterben zu müssen! Eine Todesfurcht!

Indem der Dichter das "Reich, das da kommen wird", in sich trägt und das "Reich, das da ist", erlebt, befindet er sich in Frieden mit jenen neuen Ansprüchen der Seele, welche die alten Herzen der anderen in Unruhe versetzen und zerstören. Denn die Unruhe ist die Wirkung des "Ungewissen". Der Dichter aber weiß in sich, was kommen wird!! In Ruhe wartet er und singt indessen und verkündet!

Es gibt drei Idealisten: Gott, die Mütter, die Dichter!

Sie suchen das Ideale nicht im Vollkommenen – – – sie finden es im Unvollkommenen.

Ökonomie:

"Du sollst erst essen, bis du hungrig bist und schon aufhören, ehe du satt bist", ist ein tieferes, göttlicheres Gesetz als "Es soll dich nicht gelüsten nach – –" und anderes. Denn jenes macht diese entbehrlich. In ihm liegt die Kraft, die Ruhe, die Weisheit, die Wahrheit und das Glück!!

Im Ausdrucke des Antlitzes steht es mit einfachen klaren Linien geschrieben: "Hier herrscht das teuflische überflüssige" oder: "Hier regiert die göttliche Notwendigkeit"! Mehr Dampf in einer Lokomotive erzeugen als nötig ist für ihre höchste Bewegung, ist die Tat eines wahnsinnig gewordenen Maschinenführers.

So ist der Mensch!

Er rast dahin den Weg des Lebens und wird zu Brei zermalmt auf seiner Strecke!

Mode-Journal:

Dein Gewand sei die Erweiterung und Fortsetzung deines Wesens über die Epidermis hinaus. Die letzte Hülle deiner Seele, die dich enthüllt! Faltenreiches weites Gewand ist das Symbol deiner Vergeistigung, deiner Immaterialisierung! Der Körper verschwindet, und es bleibt weite reiche fließende Bewegung. Weiche seidene Stoffe in tausend Plissées sind daher die wahre "englische Mode". Je mehr Bewegung ein Gewand dir gestattet, desto göttlicher ist es. Das schönste Gewand wären Flügel!

Die Frauenseele ist bescheiden: Sie sucht Jesus Christus und Napoleon, Diogenes und Hölderlin ver­eint in einem Wesen! Diese einzige Wahrheit des noch Lüge-losen und Konzessions-freien Herzens nennen die Hunde: Backfisch-Träume!

Der Schlaf ist der heilige Versuch der Natur, die Tages-Wunden zum Verheilen zu bringen. Den Schlaf vorzeitig unterbrechen, heißt, heilige Verbände ver­narbender Wunden wegreißen!

Man fragte eine Mutter: "Wie erziehen Sie Ihr Töchterchen?!"

"Ich lasse sie schlafen – –", antwortete diese Beste, Weiseste.

Die Frau stellt in ihrer "schönen Form" das dar, was der Künstler-Mensch in seinem "schönen Geiste" zum Ausdruck bringt. Die Genialität ihres Leibes ist gleich der Genialität seines Geistes. Ihr Leib ist sein "Materie gewordener" Geist. Sein Geist ist ihr entmaterialisierter Leib. Was er "denkt", "ist" sie!

Die überschüssigen Kräfte seiner Seele los werden können in Räuschen, in Ekstasen! Das ist die Hygiene der Herzen, welche – – an überschüssigen Kräften leiden.

Aber die zarte Frauenseele hat nur Träume. Träume sind keine Ekstasen. Träume sind keine Räusche. Es sind die – – Träume von Räuschen! Sie kann ihre überschüssigen Kräfte nicht los werden. Sie hat keine Hygiene. Sie bleibt überladen, krank. Die Hunde aber sagen: "Hysterisches Frauenzimmer!" Das ist ihre Rache für die Ekstasen, die sie nicht bereiten – –!

Wenn ich denke, rede ich – – – wenn ich liebe, begehre ich.

Sonst bleibe ich ewig stumm!

Das ist Menschentum!!

Menschentum ist: schweigen, wenn Geist und Seele nicht sprechen! Es ist tönender, ins Wort, in Begattung sich aussprechender, sich offenbarender, sich erlösender Geist! Das Wort, das ich spreche, der Kuss, den ich gebe, sind die heiligen Geburten des Geistigen in mir zu "lebendigem Leben", zu "physischer Tat"!

Treue ist das "Gesetz der Trägheit" der Seele.

Ah, treue Seelen, wie treulos seid ihr eurem Werden!

Die Frau ist ihre Sehnsucht!

Das, was sie nicht geworden ist, ist sie!

Dieses zweite geheimnisvolle Leben der Frau will zum Leben kommen, geboren werden, sein!

Indem sie eine Tochter gebiert, gebiert sie ihre "Sehnsucht" zu einem "lebendigen Organismus" aus und kann zur Ruhe kommen ihrer drängenden Kräfte. Die Frau ist ein Halb-Wesen. Sie und ihr Töchterchen zusammen sind erst Eines! In dieser will sie erst sich selbst erleben, die nie lebte!

 

Heilige Zwei-Einigkeit!! Der "Sehnsucht seiende" Mensch und seine "Mensch gewordene" Sehnsucht! Wehe dir, tochterlose Frau! Wo wirst du dieses ungeborne Leben "Sehnsucht" anbringen, dass es zur Welt komme?!

Eine junge Dame sagte einmal: "Niemand versteht A. K. – – – denn jeder Satz ist schon der achte Satz."

Die vorhergehenden sieben Sätze überlässt er uns! So eine Achtung hat er vor unserem Herzen, unserem Geiste. Wie mit "Mündigen des Lebens" verkehrt er mit uns. Wie ein Kapellmeister der Hof-Oper mit seiner Künstlerschar. Bescheiden sitzen sie an ihren Pulten, blicken vertrauensvoll hin und verstehen seine Intentionen.

Aber mit euch müsste er reden wie mit Schulbabys: "a, a, a, a, b, b, b, b.

Sehet! Wenn man mir am Klaviere die sieben Noten anschlägt: a, f, e, gis, a, ais, h, so spüre ich das ganze Liebes-Leid Isoldens!"

Glückliche Liebe?! Eine, die das Unglück hat, dass ihr der "heilige Weg" durch ein Ziel abgeschnitten wird.

Unglückliche Liebe?! Eine, die das Glück hat des "ewig Wandernden zur Sonne".

Auch Bewegung ist ein Rasten – – vom Rasten!

Auch die Dissonanz hat ihre Idee! Ihre Idee ist die Sehnsucht nach Erlösung in der Konso­nanz. Konsonanz?! Eine Dissonanz, die ihre Idee verloren hat.

Keuschheit?!

Organe, welche bisher Selbstherrscher, Cara­callas waren, in die heiligen und aus­schließlichen Dienste des Kaisers "Seele" zwingen!! Sie zu heiligen Vollstreckern kaiserlicher Befehle erhöhen!!

Christentum?! Heidentum?! Einen einzigen Menschen gab es bis heute.

In Keuschheit wurde Er geboren! Daher bekam Er nur Reines mit. Und konnte Liebe geben ohne Gegendienste!! Und um Liebe sterben, weil die "blöde Leidenschaft des Lebens" ihn nicht zeugte und sich nicht in seine Nerven grub!

Wandle seine Bahnen!

Dante Alighieri stand in einem Lorbeer-Walde 16 Jahre und wartete auf Beatrice – – –.

Diese Anderen aber warten einen Tag – – und gehen dann doch in die "Kleine Blutgasse; nicht läuten, klopfen"!

Vor dem Konkurse

Die Mutter sitzt mit ihren beiden Töchtern im Konzert-Garten.

Es ist kühl. Manches Mal rauschen die Platanen, brausen gleichsam auf.

Um den Springbrunnen stehen lila Schwertlilien, wiegen sich wie Pendel.

Die Töchter haben kurze Frühlings-Mäntel an aus brauner Moiré-Seide, braune Strohhüte mit weißen Schierlings-Dolden, "des fleurs françaises".

"Hast du der Näherin geschrieben, dem Klaviermeister – – –?!", sagt die Mutter.

"Ich habe vergessen – – –", sagt Marie. "Vergessen – – –?!"

"Ja, ich habe vergessen – –. überall schleppst du alles mit, Mama! Wir sind in einem Garten. Ich lasse alles zu Hause – – – – – –."

"Du – – –."

"Ja, ich. Sich loslösen können ist künstlerisch –!"

Die jüngere Schwester legt ihre Hand sanft auf die der "Künstler-Natur". Diese sagt: "Man könnte ein Gedicht machen: ,Die Schwertlilien im Parke'."

Der Vater kommt mit dem Sohne.

"Ohne überrock – –?!", sagt die Dame; "du bist leichtsinnig. Bist du denn ein junger Mensch, Papa?!"

"Ich wusste nicht, dass es kühl ist – –", sagt er.

Otto, zu den jungen Mädchen: "Wie schön ihr seid – – –!"

Marie: "Was ist es für ein Stück, das die Kapelle jetzt spielt?!"

Otto: "Du kennst es nicht?! Schäme dich! Manon ist es."

Sie: "Eine oberflächliche Musik – – –."

Pause.

Otto: "Dieser Konzert-Garten war so vor hundert Jahren. Ewig haben sie Potpourris gespielt. Maria Theresia, Kaiser Franz – – –. Man wird noch spielen Potpourris aus Martha, aus Lohengrin, es werden Leute dasitzen, die fliegen können, oder zehn­tausend Ziegelschlager – – –."

"Ich habe das nicht sehr gern – – –", sagt Marie. Die andere erhebt sich, setzt sich neben den Vater – – –.

"Du frierst – – –", sagt die Mutter zu diesem; "so leichtsinnig zu sein! Stelle wenigstens deine Füße auf das Tischbrett."

Die jüngere Tochter fühlt: "Er bebt, er friert nicht –."

Die andere sagt: "Wie kann man für Massenet schwärmen?! Er ist süßlich wie Bouguereau. Otto, warum sprichst du nicht mit mir über Massenet?! Hältst du mich für unwürdig?!"

"Lass ihn – – –", sagt die Mutter, "Monsieur ist schlecht aufgelegt, siehst du es nicht?!"

Otto erbleicht.

Es ist kühl. Manches Mal rauschen die Platanen, brausen gleichsam auf.

Die lila Schwertlilien um den Springbrunnen wiegen sich wie Pendel. Marie fühlt: "Ihr Schwertlilien im Parke – – –!"

"Soupieren wir – – –", sagt die Mutter.

"Ich nehme Brathuhn mit Marillen-Kompott", sagt Marie.

"Und du?!", sagt die Mutter zur jüngeren Tochter, "Ich weiß es nicht – – –."

"Und du, Papa?!"

"Ich nehme nichts – – –"

Otto: "Papa muss essen. Er hat Mittags nichts gegessen. Und überhaupt – – – – –."

"Ich nehme nichts – – –."

"Natürlich, wenn man friert – –", sagt die Mutter. Die jüngere Tochter fühlt: "Wenn man bebt –."

"So gehen wir alle nach Hause", sagt die Mutter, "und kaufen uns am Wege Schinken und Aspik; ich schicke den Diener zu Demel um Beignets, dann kannst du auch deine beiden Karten schreiben, Marie –."

"Hören wir noch dieses Stück an – –", sagt Marie, "es ist Ouverture Tannhäuser."

Der Kapellmeister ist ein blasser Mann von vierzig Jahren.

Marie denkt: "Möchtest du in der Hof-Oper auf dem Drehsesselchen sitzen, bleicher Mann, und dem Arnold Rosé gebieten – – –?!"

Die Ouverture beginnt.

Die weltentrückten Pilger kommen langsam durch den dunklen Tannenwald.

Die Violinen steigen in den Himmel, gleichsam in leuchtenden, leidenschaftlichen Spiralen, höher, immer höher, wo das Ewige wohnt – – –.

Es ist kühl. Manches Mal rauschen die Platanen, brausen gleichsam auf. Die lila Schwertlilien wiegen sich wie Pendel.

Maria lauscht – – – –. Die Violinen steigen in den Himmel, in leuchtenden, leidenschaftlichen Spiralen – – – – –.

Die andere hat ihre Hand auf die geliebte Hand des Vaters gelegt – – – – –.

Ein schweres Herz

Es steht mitten zwischen Wiesen und Obstgärten ein riesiges gelbes Haus. Es ist ein Mädchen-Institut der "Englischen Fräulein". Es gibt viele "heilige Schwestern" darin und viel Heimweh.

Manches Mal kommen die Väter an, besuchen ihre Töchterchen. "Papa, grüß dich Gott – – –."

In dieser einfachen Musik "Papa, grüß dich Gott – – –" liegen die tiefen Hymnen der kleinen Herzen. Und in "Adieu, Papa – –" verklingen sie wie Harfen-Arpeggien!

Es war ein regnerischer Land-November-Sonntag. Ich saß in dem lieben kleinen warmen Café und rauchte und träumte – – –.

Ein schöner großer Herr trat ein mit einem kleinen wunderbaren Mädchen.

Es war eigentlich ein Engel ohne Flügel, in einer gelbgrünen Samt-Jacke.

Der Herr nahm an meinem Tische Platz.

"Bringen Sie 'Illustrierte Zeitungen' für die Kleine", sagte er zu dem Marqueur.

"Danke, Papa, ich möchte keine – – –", sagte der Engel ohne Flügel.

Stille – – –.

Der Vater sagte: "Was hast du – – –?!"

"Nichts – – –", sagte das Kind.

Dann sagte der Vater: "Wo seid ihr in Mathematik?!"

Er meinte: "Sprechen wir über etwas Allgemeines. In der Wissenschaft findet man sich – – –."

"Kapitalrechnungen", sagte der Engel. "Was ist es?! Was bedeutet es?! Ich habe keine Idee. Wozu braucht man Kapitalrechnungen?! Ich verstehe das nicht – – –."

"Lange Haare – kurzer Verstand", sagte der Vater lächelnd und streichelte ihre hellblonden Haare, welche wie Seide glänzten.

"Jawohl – –", sagte sie.

Stille – – –.

Ich habe ein so trauriges Gesichterl nie gesehen! Es erbebte gleichsam wie ein Strauch unter Schnee-Last. Es war, wie wenn Eleonora Duse sagt: "Oh –!" Oder wenn Gemma Bellincioni es singt – – –.

Der Vater dachte: "Geistige Arbeit ist eine Ab­lenkung. Und jedesfalls, kann es schaden?! Man wiegt die Seele ein – –. Man muss das Interesse wecken. Natürlich schläft es noch – – –."

Er sagte: "Kapitalrechnungen! Oh, es ist interessant. Das war seinerzeit meine Force (ein Schimmer des vergangenen Kapitalrechnung-Glückes huschte über sein Antlitz). Zum Beispiel – – warte ein biss­chen – – zum Beispiel jemand kauft ein Haus.

Hörst du zu?!"

"Oh ja. Jemand kauft ein Haus."

"Zum Beispiel euer Geburtshaus in Görz. (Er machte die Sache spannender, indem er geschickt Wissen­schaft und Familienverhältnisse in eine ziemlich nahe Beziehung brachte.) Es kostet 20 000 Gulden. Wie viel muss er an Zins einnehmen, damit es 5% trage?!"

Der Engel sagte: "Das kann niemand wissen – –, Papa, kommt Onkel Viktor noch oft zu uns?!"

"Nein, er kommt selten. Wenn er kommt, setzt er sich immer in dein leeres Zimmer. Merke auf. 20 000 Gulden. Wie viel ist 5% bei 20 000 fl.?! Nun, doch jedesfalls soviel mal 5 Gulden, als hundert in 20 000 enthalten ist!? Das ist doch einfach, nicht?!"

"Oh ja – – –", sagte das Kind und begriff nicht, warum Onkel Viktor so selten komme.

Der Vater sagte: "Also wie viel muss er einnehmen?! Nun, 1000 Gulden ganz einfach."

"Ja, 1000 Gulden. Papa, raucht die große weiße Lampe im Speisezimmer noch immer beim Anzünden?!"

"Natürlich. Also hast du jetzt eine Idee von Kapitalrechnung?!"

"Oh ja. Aber wieso trägt Geld überhaupt Zinsen?! Es ist doch nicht wie ein Birnbaum?! Es ist doch ganz tot, Geld."

"Dummerl – – –", sagte der Vater und dachte: "übrigens, es ist Sache des Institutes."

Stille – – –.

Sie sagte leise: "Ich möchte nach Hause zu euch – –."

"No, du bist doch ein gescheites Mäderl, nicht –?!" Zwei Tränen kamen langsam die Wangen heruntergeschwommen.

Erlösung! Tränen! Schimmernde Perlen gewordenes Heimweh!!

Dann sagte sie lächelnd: "Papa, es sind drei kleine Mädchen im Institute. Die Älteste darf drei Buchteln essen, die jüngere nur zwei und die Jüngste eine. So diätetisch sind sie! Ob sie nächstes Jahr gesteigert werden?!"

Der Vater lächelte: "Siehst du, wie lustig es bei euch ist?!"

"Wieso lustig?! Uns kommt es so vor, weil es lächerlich ist. Das Lächerliche ist doch nicht das Lustige?!"

"Kleine Philosophin – –", sagte der Vater glücklich und stolz und sah an den feuchtglänzenden Äugen seines Töchterchens, dass Philosophie und Leben zweierlei seien.

Sie wurde rosig und bleich, bleich und rosig –. Wie ein Kampf war es auf diesem süßen Antlitz. Es stand darauf geschrieben: "Adieu, Papa, oh, adieu –."

Ich hätte dem Vater gerne gesagt: "Herr, schauen Sie dieses Marien-Antlitz an! Sie hat ein brechendes kleines Herz! – – –."

Er hätte mir geantwortet: "Mein Herr, c'est la vie! So ist das Leben! Es können nicht alle Menschen im Kaffeehaus sitzen und vor sich hinträumen – –."

Der Vater sagte: "Wie weit seid ihr in Geschichte?!"

Er dachte: "Man muss sie ablenken. Das ist mein Prinzip."

"Wir sind in Ägypten", sagte das kleine Mädchen.

"Oh, in Ägypten", sagte der Vater und machte, wie wenn dieses Land einen wirklich ganz ausfüllen könne. Er war geradezu erstaunt, dass man sich noch etwas anderes wünsche als Ägypten.

"Die Pyramiden", sagte er, "die Mumien, die Könige Sesostris, Cheops! Dann kommen die Assyrer, dann die Babylonier – – –."

Er dachte: "Je mehr ich aufmarschieren lasse, desto besser."

"So?!", sagte das Kind. Wie wenn man sagt: "Versunkene Völker – – –!"

"Wann habt ihr Tanzen?!", sagte der Vater. Er dachte: "Tanzen ist ein lustiges Thema."

"Heute – –."

"Wann?!"

"Gleich, wenn du weggefahren sein wirst. Dann ist Tanzen, von 7-8."

"Oh, Tanzen ist sehr gesund. Tanze nur fleißig –."

Als der Herr sich erhob, um wegzugehen, und mich freundlich grüßte, sagte ich: "Verzeihen Sie, mein Herr, oh verzeihen Sie mir, ich habe eine große, große Bitte an Sie – – –."

 

"An mich?! Was ist es?!"

"Oh bitte, lassen Sie heute Ihr Töchterchen von der Tanzstunde dispensieren."

Er sah mich an – – – und drückte mir die Hand. "Gewährt!"

"Wieso verstehst du mich, fremder Mensch?!" sagte der Engel zu mir mit seinen schimmernden Augen.

"Gehe voraus – – –", sagte der Herr zu dem Kinde.

Dann sagte er zu mir: "Pardon, halten Sie es für ein richtiges Prinzip?!"

"Jawohl", sagte ich, "was die Seele be­trifft, ist das einzige Prinzip, keine Prinzipien zu haben!"

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