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Buch lesen: «Neues Altes»

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Gewidmet Anna Konrad

Motto:

»Solche Männer und ihresgleichen sind einfach geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben nämlich eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind.«

Goethe, Gespräche mit Eckermann.

PA: Aber wie glücklich zu preisen sind die, die nur einmal jung zu sein brauchen, und dann ruhig absterben dürfen, während jene anderen Unseligen von ewigen inneren Räuschen gefoltert werden – .

»J’ai de mes tourments multiplié les causes – d’innombrables liens vont de mon âme aux choses!«

Baudelaire.

WIDMUNGEN IN MEINE BÜCHER

Fräulein H. M., immer und ewig werden die Dichter an dem fast absichtlichen »Unverständnis« geliebter, vergötterter Frauen zugrunde geh’n – . Du allein brachtest mir die volle Sicherheit, daß mein sonst so oft mißverstandenes Dasein von dir erkannt wurde, in Weisheit und in Milde, wie von Gott selbst – ! Heißt man das Liebe?! Gleichviel. Es ist die »Erlösung«, die eben keine andere bringen kann!

An Frau D. M., in unzerstörbarer Freundschaft.

Freundschaft, du immer und ewig mißbrauchtes, geschändetes Wort! Du bist »Erkenntniskraft des Gehirnes«, gemildert durch »des Herzens Wohlwollen«!

An Maria Maraviglia, spanische Tänzerin.

Leben, flüchtigstes, zerrinnendstes, kann ich dich nicht festhalten?! Ja! Durch Erinnerung, Melancholie und Ergebung ins Schicksal – .

Frau M. B. in Aachen.

Aus Fernen kam ein begeisterter Gruß – . Wie selig war ich – zwischen Aachen und Wien ist genügend Raum für die Enttäuschungslosigkeit zusammengehöriger Seelen geschaffen – !

An die Gemahlin des Herrn J. S.

Wie eine Aristokratin sehen Sie aus des 18. Jahrhunderts – . Augen voll ernster Ruhe und Noblesse, und dennoch wieder Augen der Sphinx und der Rheinnixen! Die Nase wie von urältesten Adelsgeschlechtern herstammend, sanft gebogen und dennoch stumpf abbrechend. Adlernase und Stumpfnase zugleich! So aus einer Zeit von vergangener Würde und Größe. Man sitzt neben Ihnen, betrachtet Sie, spricht ehrfurchtsvoll, wie mit keiner anderen. Man ist unter einem unerklärlichen Banne. Wie wenn man vorgestellt würde der »Kaiserin Marie Antoinette«. Man möchte zu Ihnen sagen: »Votre Altesse Royale – «. Aber man muß über die kleinen Ereignisse des Tages sprechen – . Und dabei blickst du wie eine traurige Fürstin – !

Für P. H., die »Romantikerin«.

Sie erwünschen es sich, daß ich Ihnen von meiner einsamen Landpartie im Vorfrühling Blätter ins Haus sende, in die enge Gasse der Vorstadt?! Nun, ich befestigte alles einzeln vorsichtig an silbernen Drähten, zarte, gelbgrüne Blättchen. Wie gleicht Ihr Herz doch der Vorfrühlingslandschaft – ! Man bedauert direkt, daß es bald zu greifbarer Blüte und Frucht ausreifen werde im Sonnenbrande des Lebens!

Für Gertrude Barrison, Tänzerin.

Kalt und hart scheinbar sind Sie im Leben, das alle zu leben, alle zu erleiden, alle zu ertragen haben! Aber hinter diesem »gewaltsamen Sein« schlummert den ewigen Schlaf, besiegt und längst abgestorben, die »vergrämte Idealistin«! Geschreckt von der Heimtücke des Daseins, traut sie sich nie mehr zum Vorschein – . Und nur des Dichters Auge blickt noch in Welten, über die der Sargschleier, alles verbergend, liegt – .

An Miß Bessie.

Ich hatte dich irrsinnig lieb und vergeblich – man hat immer nur irrsinnig lieb, wenn es vergeblich ist!

An Frau E. R.

Eine Welt von zärtlichster Zärtlichkeit mußte in mir ersterben, auf dein Geheiß! Auf deinen strengen unerbittlichen Wunsch! In späteren Tagen warst du sanftmütig und gütig zu mir; in späteren Tagen! Aber den »süßen Wahnsinn« hast du mir gemordet, wolltest durchaus meiner Seele endlose Welten auf ein erfaßbares Maß zurückführen; vergeblich! Stört euch »unser Wahnsinn«, so enttäuscht euch schließlich noch mehr die »normale Liebe« der anderen! Sind wir auch »übertrieben« in unserer Verehrung, sind die anderen allzu nüchtern in ihrer gesunden Gerechtigkeit!

An Else Wiesenthal.

Immer und überall im Leben vermißt man »Hoheit und Würde« und »edle Kindlichkeiten« zugleich! Aber in Ihrem Tanzen findet man es. Deshalb ist man so beglückt und erlöst und erleichtert. Was man an seiner geliebtesten Geliebten schmerzlich-melancholisch vermißt, findet man, erstaunt, gerührt, bei Ihnen! Unerbittlich und starr wird immer naturgemäß sogleich die Seele des Mannes, falls ein wertvolleres Bild vor seine Seele tritt! Ehebruch, Treuebruch, was seid ihr für nichtssagende Namen! Das »Zulänglichere« löscht einfach stets das »Unzulängliche« aus! Soll man weiter verehren, was der Verehrung nicht mehr wert ist?! Gehet von hinnen, Schwerfällige, wenn die »idealere Tänzerin« naht! Die »Gleitende« besiegt die »Schleichende«!

WESEN DER FREUNDSCHAFT

Ich kenne nur zwei Menschen, die mir freundschaftlich gesinnt sind, mein Bruder und A. R. Sie verstehen alles, was ich denke, empfinde, sage, geben allen Dingen die wohlwollendste Auslegung. Sie sind ganz ohne »Fallen-stellen-wollen«. Sie vernehmen nur das Wertvolle, überhören eventuelle Mißtöne, ohne zu zucken. Sie schöpfen vom geliebten Menschen den Rahm ab, beklagen sich nicht über die wässerige Milch, die darunter liegt, sondern erfassen es als ein Naturgesetz, daß der Rahm nicht bis zuunterst reichen kann – . Sie erläutern uns nach unseren in uns verborgen liegenden Idealen, nicht nach unseren allen augenfälligen alltäglichen Schwächen! Sie lauern auf unsere seltenen Höhepunkte, beachten nicht unsere Verkommenheiten. Sie sind noble Ausleger, Ausdeuter unseres wirklichen Wesens. Sie begreifen unsere Schwächen, sie achten unsere Stärke! Sie sind mit uns, wie man mit edelrassigen Kanarienvögeln, Papageien, Staren, Hunden, Affen ist. Man achtet ihre Eigenart, fordert von ihnen nichts Unmögliches. Man hält sich an ihre »besonderen« exzeptionellen Eigenschaften. Diese wohlwollend-sentimentale Art von Nervengutmütigkeit heißt: Freundschaft. Jede andere ist tief verlogen. Diese edle »ewige Gutmütigkeit« ist von Gottes Gnaden! Man hat sie zumeist erst mit Verstorbenen. Da kommt man erst zur Besinnung über besondere Werte, dringt tiefer ein in das Wesen desjenigen, dessen Lebendigsein uns nicht mehr stört. So lange er lebte, beging er die störende Ungeschicklichkeit, ein anderer zu sein an Denken und Empfinden als wir selbst!

WAS IST EIN DICHTER?

Er sah am »Gänsehäufel« ein fremdes junges Mädchen, ganz lang und schlank, goldbraune wehende Haare, lange, schmale Hände und Füße, ein ockergelbes seidenes Trikot an dem mulattenbraunen Leibe.

Er konnte sie nie, nie, nie mehr vergessen.

Er sah in einer japanischen Akrobatentruppe ein fünfjähriges Mäderl, gelber Teint, Stumpfnäschen, schwarze Haare wie eine Perücke. Lebendig gewordenes Kinderspielzeug!

Er konnte sie nie, nie, nie mehr vergessen.

Er las von einer wunderschönen Preisfechterin in Venedig, aus reicher, geachteter Familie, die ohne Grund, neunzehnjährig, sich aus ihrem Zimmer, drei Stockwerke hoch, aufs Pflaster stürzte und starb.

Er konnte sie nie, nie, nie mehr vergessen.

Er hatte neben sich eine, ganz, ganz neben sich, hart neben sich, bei Tag und bei Nacht.

Die konnte er aber vergessen, vergessen, vergessen!

BEKENNTNIS

 
Du gabst mir alles –  – und ich gab dir nichts!
Mein Aug’, mein Ohr, mein Denken und mein Träumen
gehörten vielleicht eher den dunklen Mädchen von den
Sundainseln, romantischen Gebilden fremder Welten,
die ihre stillen Wege gehn nahe dem Urwald –  – .
Du gabst mir alles –  – und ich gab dir nichts!
Wie Märtyrerinnen warst du aus der Vorzeit,
oder wie Krankenpflegerinnen fremder Menschen,
wie sie heut’ noch sind in Krankenhäusern und in
Klöstern –  – .
Belohnung war dein eigenes Gefühl in dir!
Im Geben nahmst du tausendfach zurück,
was du gespendet. Und davon lebtest du!
Nun bist du in dem Dienste deiner heiligen Seele
krank geworden –  —
der magische Schein der Selbstaufopferung verlischt –  —
du kannst nicht mehr grenzenlos ergeben sein!
Und weinend siehst du nun zum ersten Male deines
Lebens Not –  – .
Du gabst mir alles –  – und ich gab dir nichts!
Und dennoch traure ich verzweifelt am Sarge deiner
armen Seele –  – . Denn, glaube mir, sie starb!
 

ENTWICKLUNG

Es gibt zwei Arten von Genies. Die, die eine neue naturgemäße Sache entdecken, und die, die es gläubig erfassen und verwerten. Der Glaube an die Genialität des anderen ist die nächstfolgende Genialität. Glaube an neue Erkenntnisse ist bisher unterschätzt worden. Es ist ein zweiter Grad von Genialität. Die anderen sind Skeptiker, also ungenial. Dann gibt es noch die Mitläufer mit den Schwindlern und Hochstaplern. Das sind die ganz Ungenialen, die einem ebenso Ungenialen wie sie selbst sind, feige Kärrnerdienste leisten. Sie leben von der Hoffnung, man werde sie ernst nehmen, weil sie einem nicht ernst zu Nehmenden ernstlich Gefolgschaft leisten! Aber in Gottes Buche ist alles verzeichnet, und dieser riesigen unerbittlichen Buchführung über Reelles und Unreelles unterliegt schließlich alles! Alles wird aufgedeckt, die reellen und die gefälschten Ziffern, und man sollte eben deshalb schicksalsergeben sein. Entwicklungskonjunkturen ausnützen ist jedoch eine der feigsten Gemeinheiten. Wenn man für die »Frauenseele« zum Beispiel kämpft, muß man zeit seines langen schrecklichen Lebens in jeder Beziehung daran auch elend verblutet sein. Die jungen Gänseriche haben aber noch einfach ihre verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, ohne psychologische Mätzchen das Ihrige wie eh und je zu leisten. Der Entdecker leidet, und der Gläubige an ihn leidet. Aber der geschickte Ausnützer von Konjunkturen macht dabei seinen Rebbach.

Dasselbe findet in der Kunst statt. Gottes Pläne sind niemandem heilig, sondern man erstrebt es einfach, seiner eigenen verfehlten Organisation zum Durchbruche zu verhelfen! Freaks sind noch lange keine Genies, obzwar Genies oft Freaks waren. Sie waren es eben doch nur scheinbar. Denn hinter ihnen thronte Gott und die Natur, wenn auch ein wenig in allzu grotesken Formen. Es gibt Räusche, in denen man Symphonien dichtet; und es gibt Räusche, in denen man sich erbricht. Beides sind Räusche, Ekstasen, übertriebene Zustände. Aber Rausch und Rausch sind nicht gleich; und nicht jeder torkelnde Betrunkene schreibt dann in seinem einsamen Zimmer Schubert-Lieder!

SANKT-MARTINS-INSEL

Als der Arzt ihr mitteilte, daß sie vor den dunklen Toren der Tuberkulose stehe, sagte sie: »Na, na, dös tun mer net, mit achtzehn Jahren?!«

Und sie eilte nach Gravosa, und lag auf der Sankt-Martins-Insel mutterseelenallein, mit ihren Proviantvorräten, von sieben morgens bis sieben abends, und breitete splitternackt die Arme aus, um die Heilkraft der Natur zu empfangen.

Sie ließ sich mit Mentholfranzbranntwein täglich zweimal eine halbe Stunde lang einreiben und nahm einen halben Liter Kakao mit sechs eingesprudelten rohen Eidottern. Ferner Bouillons mit eingesprudelten rohen Eidottern und Seefischfilets in großen Mengen.

Als sie gesund wurde, kam der Ehrgeiz und die Lebenslust über sie, und sie fand ein Engagement in einem ganz kleinen Theater. Ihre erste Rolle war die französische Gräfin Laborde-Vallais. Sie wußte durchaus nichts damit anzufangen, aber ein junger Herr schickte ihr in die Garderobe seine Visitenkarte.

Sie hatte sich mutig dem Tode entzogen, und bemerkte nun bald, daß das Leben es nicht wert sei, sich so sehr darum bemüht zu haben. Sie war dieser Gefahr »Tod« entronnen – nun kam diese größere Gefahr »Leben«! Dem konnte man nicht mit Sonnenbädern, Kakao, gesprudelten Eidottern, Mentholfranzbranntwein entrinnen!

Später lernte sie zufällig den Dichter kennen. Sie verstand nicht, worin das bestehe, ein Dichter zu sein. Man schreibt Bücher, und man ist ein Dichter. Aber was stellt es vor, und wozu ist es?!?

Aber eines Tages sagte er zu ihr: »Wie war es auf der Sankt-Martins-Insel?!? Sie lagen da, gottergeben, und erwarteten von Wiese, Wald und Sonne Ihre Heilung – .«

Und jemand sagte zu ihr: »Hören Sie mir schon auf mit Ihrer faden Sankt-Martins-Insel! Jetzt sind wir Gott sei Dank hier!«

Da blickte sie hilfeflehend zu dem Dichter, und sie fand einen hilfsbereiten Blick – .

Da wußte sie, was ein Dichter sei und wozu er da sei – .

KONZERT

Du kamst aus dem Konzert, erfüllt von Liedern und den Liedertexten, die von Dichtern waren wie Stefan George, Richard Dehmel, Jacobsen, dem verstorbenen Dänen, der Musik in Worten machte.

Du warst schön und prächtig, gelb und gold war dein Gewand, und deine geliebten Augen blickten noch in Fernen, aus denen sie eben kamen. Ein Zwerg, ein Wurm, ein gekrümmtes armseliges Reptil erschien ich dir, ans Irdische dich feig gemahnend, die du aus hehren Fernen kamst, und meiner Liebe allzu gewohnte Seufzer verhallten in den Tönen deiner neuen Musikwelten.

Ich starb dahin vor Eifersucht auf das Konzert, und auf alles, was drum herum und dran hängt an Ablenkungen selbstverständlicher Art einer fanatisch geliebten Seele – . Ich starb dahin.

Du aber blicktest, gelb und goldig war dein romantisches Gewand, in Fernen, aus denen du soeben kamst, gleichsam von einer langen, langen, langen Reise – . Wo warst du, Frau?!?

Da senkte ich den Blick, der zuerst böse starrte, und ich ergab mich in das Schicksal – .

Du sagtest schlicht: »Es war sehr schön; man hat sehr viel gelernt; man blickte jedenfalls in Welten, die bisher verschlossen waren – .«

Da saß ich denn da und getraute mich nicht mehr, deine geliebten Hände zu berühren wie eh und je – .

Und du sagtest: »Was haben Sie?!?« Und ich sagte: »Nichts – .«

BUCHBESPRECHUNG

Er hatte zu ihr gesagt: »Nun habe ich dich, über allen Kitsch der Künstler hinaus, den Kunstwerken der Natur und des Lebens selbst allmählich näher gebracht, habe dich mühselig gelehrt, die Romantik des Daseins aus erster Hand zu genießen! Nun gebe ich dir einen allerbesten, spannendsten, aufregendsten, ergreifendsten, lehrreichsten Roman zu lesen: »Der Volkskrieg in Tirol 1809« von Oberleutnant Rudolf Bartsch.«

Und sie las es in einigen Stunden einer schlaflosen Nacht. Alle Menschen darin standen ihr nahe, und sie zitterte um eines jeden Schicksal! Erzherzog Johann, die Offiziere, die Diplomaten, die Bauernführer wurden ihr zu vertrauten Freunden. Sie begann das Getriebe der Welt zu erkennen und Freunde und Feinde in gleicher Weise zu verstehen! Sie sah die Schlachten zwischen Intelligenz und Herz im Menschen, zwischen Vorurteil und Urteil, zwischen Fernsicht und Nahsicht!

Sie gewann eine tiefe, tiefe Liebe zu Peter Mayr und Andreas Hofer, zu den reinsten der Reinen, den eigentlichen Idealisten in dem Buche.

Sie weinte bitterlich und stundenlang über ihre edle Art. Sie schrieb sich folgende Stelle auf ein Pergamentblatt heraus und ließ es einrahmen unter dem Titel: »So sind alle, die für die Kommenden von Wert sind!«

Diese Stelle lautete: Der geniale Hormayr verscherzte sich das Zutrauen vieler, namentlich der Bauern. Als er nach dem Bankrott der österreichischen Invasion aus dem Lande floh, schob so recht das ganze Volk von Tirol den gegen Hormayr einfältigen, aber sittenreinen Sandwirt an die höchste Stelle – ohne dessen Zutun.

Schob: dieses Wort bezeichnet viel in Hofers Wesen und Laufbahn! Der bedächtige Sandwirt war keine aggressive, ideenwälzende Natur wie Haspinger, kein genial tollkühner Unfried wie Speckbacher. Viele seiner Führer hatten weit größere Begabung als der bloß mit einem schlichten, gesunden Hausverstand ohne weiten Blick ausgerüstete Hofer. Gedrängt, unwiderstehlich gedrängt wurde Hofer zu allem, was er tat. Eine äußere, aber geheime Macht, deren Walten er wohl ahnte, der er nie zu widerstehen suchte und die er verehrte, trieb ihn: der Volksgeist von Tirol!

Diese Macht erhob ihn hoch – er blieb demütig und schlicht; diese Macht entriß ihm all seine Entschlüsse. Durch sie gedrängt, siegte er bei Sterzing, am Isel und bei Leonhard. Durch sie gehalten, vermochte er nicht zu fliehen, als die Besten des Landes das sinkende Schiff verließen – und geschoben, ja ganz verwirrt von dem Einfluß der Verzweifeltsten des ganzen Landes, brach er im Spätherbst 1809 zum erstenmal in seinem Leben das Wort, verleugnete seine Unterwerfung, erhob von neuem den Ruf zum Aufruhr, und erst als sein Körperliches gefangen und dem Tode geweiht war, da befreite sich seine Seele, eine tiefe Erkenntnis seines ganzen Lebenslaufes durchzuckte ihn, und da wuchs er ins Übermenschliche. Dieser weichherzige Mann, der so leicht die gutmütigen Augen voll Wasser bekam, nahm trockenen Auges Abschied von einer Welt, die sich schlechter erwiesen hatte als er.

Daß man Hofer so oft verkannt und in ihm den Führer und Kommandanten des Aufstandes gesehen hatte! Er war weniger und doch mehr. Er war seinem Volke, was dem Soldaten seine Fahne ist: Das Panier von Tirol!

Selbst unbeweglich, aber von den Kühnsten und Besten getragen, allen voran. Unbefleckt, rein, verehrenswürdig, ja wahrhaft geheiligt! Von der Religion geweiht, vom Paten Johann mit einem Wahlspruch belebt, vom Kaiser ausgezeichnet und geschmückt. In der höchsten Not entfaltet, als alle Kommandanten versagten, siegt diese menschliche vorausgetragene Fahne Andreas Hofer, dann sinkt sie – und mit ihr das Land Tirol. Er war eben der einfache, Mensch gewordene Idealismus, der embryonal in tausend Herzen, in tausend Gehirnen, in tausend Willenskräften verborgen lag!

Die edle Leserin machte die Hinrichtung Andreas Hofers mit, aber sie konnte nicht, wie er von sich selbst es sagte, sagen: »So leicht kommt mir sein Sterben an, daß mir die Augen davon nicht naß werden – .«

Sie aß wenig, sie sprach wenig durch viele Tage. Nur dem Freunde, der ihr diesen »Roman des wirklichen Lebens« anempfohlen hatte, blickte sie dankbarst in die Augen. Da sagte er denn zu ihr: »Dieser Oberleutnant Rudolf Bartsch ist vielleicht ein größerer Dichter als viele protokollierte Firmen dieser Branche. Denn er hat die in den Archiven des Lebens begrabene Poesie und Romantik der Menschheit zu lebendigem wirkendem Leben gebracht durch sein einfaches tiefes Buch!« Und die Dame reihte es ein in ihrer kleinen Bibliothek neben ihre Götter: Hamsun, Strindberg, Maeterlinck, Ibsen, diese Vermehrer des Bestandes der allgemeinen menschlichen Seele!

IDEALE

Ein fünfzehnjähriges wunderschönes Stubenmädchen stahl ihrer Herrin zwanzig Kronen.

Die Herrin schickte zur Polizei und machte die Anzeige von dem Diebstahl. Da nahm die Fünfzehnjährige, die ihrer Mutter zum Namenstag ein Geschenk hatte machen wollen, eine Flasche mit Spiritus, trank die Hälfte aus, übergoß ihre Kleider mit der anderen Hälfte, zündete sie an. Nach elf qualvollen Stunden verstarb sie im Wasserbett.

Einfache künftige Polizeivorschrift:

Anzeigen gegen Untergebene unter zwanzig Jahren wegen Diebstahls unter 100 Kronen werden zwar angenommen, aber sobald es sich um einen ersten Fall handelt, in den Papierkorb geworfen!

Man vertröste die anzeigende »Canaille«, daß sich der Fall leider »verzögert« habe – .

EIN BRIEF

Liebes Fräulein Marion Kaulitz, ich habe gestern in der Wiener Werkstätte, erster Bezirk, Graben 15, die Puppenausstellung besichtigt. Ich war ganz gerührt. Wie schrecklich sind doch diese Puppengespenster gewesen aus der Kindheit unsrer geliebten Schwestern und Cousinen! Wie starrten sie uns blöde herzlos an, erwiderten alle Liebe und Sorge mit einem nichtssagenden kretinartigen Grinsen, das unsre kleinen Herzen hätte lieblos machen müssen, wenn wir damals nicht so viel an selbstloser Liebe aufgespeichert hätten zu adeliger Verschwendung!

Aber nun schufen Sie, Fräulein, Puppen, die wie edle, zarte Menschenkinder blicken, träumerisch lächelnde, und solche, die sich anschicken zu weinen und es dennoch unterdrücken! Kleine, zarte Kindchen schufen Sie, nicht Puppen!

»Das Beste ist für unsre Kinder gerade noch gut genug«, sei der Wahlspruch von verständnisvollen Eltern. Eine meiner kleinen zartfühlenden Freundinnen, zwölfjährig, hat am Lande im Garten einen Zentralkäfig aus spinnwebdünnem Stacheldraht. Innerhalb ein kleiner ovaler Teich von Quellwasser, und blühende kleine Gesträuche. Dieser Käfig ist bewohnt von siebzig herrlichen Vogelarten. Hier genießt sie die Märchen der mysteriösen Natur aus allererster Hand, hat einen kleinen bequemen Fauteuil davor gerückt, sitzt stundenlang, beglückt und entrückt – .

Geradeso könnte man mit Ihren Püppchen sitzen, stundenlang, Fräulein Marion Kaulitz! Ich denke mir kinderlose zarte Damen, die dieselben sanft an ihr Herz drückten. Im Schlafzimmer sollten sie in Sofaecken kauern, wie kleine zarte Lebewesen! Es gibt einige darunter, die man direkt lieb gewinnt. Ich kann es mir vorstellen, daß eine alte Jungfer solche fünfzig ankaufte und so in ihrem Zimmer eine Welt erblühen ließe, die ihr im realen Leben versagt geblieben ist. Eine Welt von Poesie und ohne die Enttäuschungen. Eine ist darunter, dreißig Kronen, von der man es sich vorstellen muß, daß sie unbedingt eine weltentrückte Dichterin werden würde. Ich sagte zu der wunderbar schönen bleichen Verkäuferin mit den aschblonden Haaren und der sanftmütigen Stimme: »Melden Sie es mir seinerzeit, welche Dame diese scheinbar unscheinbare Puppe erstanden habe! Es wird jedenfalls eine ›innerlich Adelige‹ sein – .« Die bleiche Verkäuferin errötete und sagte: »Ein fremder Herr hat sie heute bereits von selbst für mich erstanden – .«

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
28 Mai 2017
Umfang:
130 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain

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