Das Grimmingtor

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Durch Flüchtlinge, kranke Soldaten, teilweise schon durch französische Patrouillen, welche auf Vormarsch und Streifzügen begriffen in weiterer Umgegend, hauptsächlich jenseits des Mitterberges, zu treffen waren, weil dortselbst die Poststraße vom Salzburgischen herein durch das ganze Ennstal führte, vernahmen die Öblinger eines Tages zu ihrem Schrecken, daß Kaiser Napoleon mitsamt seinen Generalen schon in Linz wäre.

Das begab sich zu Anfang Mai.

Zuerst liefen die Leut alle aus den Türen wie bei einem Erdbeben, stellten sich schockweise zusammen, und insbesondere die Weibsbilder zeterten bänglich. Die Kinder aber, wie dieses gemeinhin der Fall ist, empfanden ein Grauen, mit unsäglicher Lust vermischt, und Raimund Winkler hatte seine liebe Not mit ihnen. Wohlgemerkt, die älteren von ihnen, welche sich um ein paar Jahre zurückerinnern konnten, erzählten während der Schulstunde überlaut, wie es bei einem französischen Durchmarsch zugehe, und die blühende Einbildungskraft stattete solche Berichte ganz höllisch aus.

Winkler ging mit finsterem Gesicht zwischen den Bankreihen, hielt sein Stäbchen auf dem Rücken und dachte über die Beschwerlichkeiten des Lebens nach. In Stunden, wo es sich darum handelte, die kleinen Habseligkeiten und Ersparnisse zu beschützen, fehlte ihm seine selige Ehefrau noch mehr. Er bewegte sich hilflos durch das wachsende Geschrei und wußte augenblicklich nicht, gegen welche peinigende Anfechtung er sich wehren sollte. Es sang und surrte in der Stube wie ein Bienenschwarm. Und er riß das Fenster auf, wobei er seines sonnigen Gemüsegärtleins ansichtig ward und auch im Stall die graue Ziege meckern hörte; wie ihn deuchte, aus Angst um ihr zaundürres Leben. Da wußte er plötzlich klar, daß alles Eigentum ganz entblößt dastund, und daß die Franzosen, insofern sie kamen, an seinem schön geschichteten, auffallend weißen Fichtenholz, an seinen gelben Salatpflanzen, an Geiß und Ferkel sich vergreifen mußten.

Und jählings fuhr er mit dem spanischen Stäbchen zwischen die lärmenden Kinder, teilte Batzen aus, fürnehmlich seinen eigenen Sprößlingen, und hieß sie den ersten Glaubensartikel zur Straf und Buße auf der schwarzen Schiefertafel niederschreiben. Aber noch hatten die Flinksten damit nicht angefangen, als er sie sammentlich aus dem Häusel jagte.

Die Kinder hatten alsbald ihren Ranzen weggeworfen, und was nicht von besorgten Müttern oder Kindsfrauen rechtzeitig gefaßt und in der Schlafkammer eingesperrt wurde, rannte stracks nach Gstatt und Strimitzen, ja selbst auf den Mitterberg, und paßte; wie nun ein Busch im Winde rauschte und raschelte, wie von fern ein Mensch oder ein Pferd sich blicken ließ, schrien sie:

»Die Franzosen kömmen!«

Und so geschah es, daß der Pfleger von Gstatt des öftern einen Boten nach Öblarn sandte zur Warnung und Verständigung, und daß dieser Bot, laufend und schwitzend, schon den Feind hinter sich wähnte. Der Torschuster rief, von solcher Kunde aufgeregt, dem Bäcken durchs Fenster zu, übers Steffel marschiere ein ganzes Bataillon; und der Bäck schrie es dem Schlosser hinüber, daß der Franzos in kurzer Weil müsse bei der Ennsbrücke sichtbar sein. Da zeigten sich auch schon in den Dachluken des Verweserhauses etliche Knappen mit Pistolen und Vorderladern bewaffnet. Georg Staudacher ließ Pulver stampfen. Und der Pfarrer schloß alle Kirchentüren langsam und sorgfältig ab.

Im innern Dörfel, jenseits der Walchen, erfuhren sie es beinahe zu gleicher Zeit; als nämlich die Veitkramerin ein Schaff Wasser vom Bach holte, bedeutete ihr Raimund Winkler von weitem, sie sölle nur geschwind sich bergen, item der Feind wäre im Anzug.

Sie verstand es so halb und halb, weil der Bach spritzte und gluckste, aber sie schlug die Hände überm Kopf zusammen und lief, um einige Beihilf bittend, zum Nachbarn. Die Stralzin fing fast zu weinen an. Denn ihr Ehewirt ergötzte sich wieder einmal auf weitem Spazierwege. Und wenn nicht ihr Bruder Sebastian zur selben Stund gütlich gekommen wär und hätte den Bräuknecht und die Dienstboten geheißen, wie Häuser und Höfe zu verschanzen seien, es möchte ihr die Angst wohl geschadet haben.

Der ganze Nachmittag war angefüllt mit überstürzter Arbeit. Sie sammelten das Vieh, welches noch nicht auf die Alm getrieben war, und mancher arme Keuschler brachte seine Kuh zum Stralzen, zum Torbäcken oder Talmoar, weil diese einen festen Stall hatten. Kein Fuhrwerk rollte über die Gasse. Kein Mühlrad ging am Bach. Die Hausväter schritten ihren Besitz ab, Balken, Schlösser und Riegel prüfend. Die schöne Leinwand, in langer Winternacht gespunnen, in sauberen Maitagen gebleicht, war hinter die hohen Dachsparren gelegt. Die Butterstrutzen und das Selchfleisch lagen nunmehr in einem muffigen Kellerschluf. Und das Geld und Geschmeid war an einem versteckten Platze eingemauert.

Die Mutter Stralzin ging auch, als es dunkel wurde, mit einem Leuchter in die alte Rauchküche, gefolgt von Regina, so in eiserner Spatel die Silbergulden und Golddukaten, Ohrring, Halskette und das elfenbeinerne Kreuz von Jerusalem trug.

Die Frau Mutter sagte: »Bst!« und hob nach längerem Tasten einen Stein aus der Wand, legte den Schatz in das Loch, welches voll Asseln und Ohrwürmer und Spinnweben war, und sagte, dem Dirnlein ins Gesicht leuchtend:

»Rögerl«, sagte sie, »wann ich sterben sollt … so weißt es.« Ganz kalt und schaurig gruselte es über den Rücken des Kindes. In dem unschuldigen, aber von Not und Arbeit frühreifen Herzen fühlte es, warum die Frau Mutter so ernsthaft war, und wußte auch, was sie hiemit andeutete, zumal die Dienstleut über die natürlichen Dinge des Lebens unverhohlen diskurierten.

So nickte Regina, wagte aber dabei nicht, die Stralzin anzusehen. Und dieweil ein lieblicher Schatten ihr Gesicht färbte, hat sie sich nach dem Stein gebückt und selbigen in die Höhlung hineingeschoben. Alsdann schwärzte Frau Constantia alle Fugen mit Ruß, sagte nochmal »Bst!« und ging mit der kleinen Dirn leise fort.

In den Hausflur tretend, bemerkte sie, wie dusend es bereits geworden war. Die Viehmagd, welche soeben vom Melken kam und mit der einen Hand das halbvolle Schaff auf dem Kopfe hielt, mit der andern das schwere Tor abzuschließen versuchte, meldete, unter ihrem Steckkröpflein keuchend:

»Hiaza sind s’ da!«

Sie war, im Hof neugierhalber ein wenig ausspähend, eines Mannes mit Stock und Laterne ansichtig worden und hinter diesem eines lebendigen Gewühles von Gestalten und Stimmen, so laut und hell, daß es ihrem Herzen einen Stich gegeben hatte und sie geloffen war, bis die fette Milch in Güssen über ihre Achseln planschte.

Die Stralzin machte einen schweren Seufzer und das Dirnlein einen Schrei. Doch ein guter Schutzengel muß sie behütet haben, daß sie ansonst nicht allzusehr erschraken.

Es war niemand anderer als der Herr Vater …

Er ist, vom wunderbaren Maitag verlockt, über den blühenden Berg gegangen und hat an der Salza den Lebzelter von Gröbming angetroffen, so von der Obrigkeit als Dolmetsch hieher befohlen war, weil die Franzosen in der Sagmühl eine provisorische Untersuchung und peinliches Gericht abgehalten. Es ist ein subalterner französischer Offizier, welcher die Bataillonskassa in Obhut mit sich geführet, von unbekannter Hand erschlagen und beraubt worden. An der Wegscheid zwischen der Poststraße und dem Steinkeller lag die Leich seit zwei Tagen verscharrt.

Mit seiner gewohnten Ruhe, aber der ihm eigenen Hartnäckigkeit besprach und beleuchtete der Stralz das Vorkommnis von allen Seiten; welches, so muß beigefügt werden, auch später nicht völlig enträtselt wurde. Erst durch die Dämmerung gemahnt, trat er den Rückweg an. Dieser war nicht so schön wie der Ausgang, denn das Gehörte beschäftigte seinen Geist und beeinflußte mißfarbig das Bild des blauen Abends … Später stieß er auf Schulbuben, die sich immer noch in den Wäldern des Mitterbergs herumtrieben, aber bereits zu fürchten begannen und ihm schüchtern bekannten, daß sie seit dem Elfuhrläuten auf der Franzosenpaß lägen. Dies erheiterte ihn. Er pfiff sie alle zusammen, und sie folgten ihm gern, schon wegen der guten Lebzelten, die er bei Gelegenheit austeilte.

Als Pater Gabriel durch die Schießscharte des Schloßgemäuers schaute, wunderte er sich nicht wenig über den seltsamen Zug, reichte sodann geistesgegenwärtig eine Laterne heraus, sie höflich zum Gebrauche anbietend. Und so. kam der Stralz mit einem Licht und etlichen Lausbuben bis auf die Dorfbrücke. Dortselbst ging gerade sein Bräuknecht, der Blasel, und ohne daß dem Herrn Vater die schreckliche Angst der Öblinger wißlich gewesen wär, machte er sich den Spaß und sagte:

»Hiaza kömmen s’!«

Der Bräuknecht schmunzelte und kraulte sich das Haar.

»Ah ja …«, brodelte er gemütlich. »Ah ja. Die Franzosen!«

Die Kinder vollführten ein großes Spektakel, allein der Stralz trieb sie auseinander, und beide Männer warteten, bis das letzte ins Dunkel geschlüpft war. Dann ging der eine wie der andere seines Weges …

Nach diesem Tage, welcher glimpflich mit dem Schrecken abgelaufen war, trat als dessen Folgeerscheinung eine gewisse Gleichgültigkeit bei den Öblingern hervor. Sie gewöhnten sich allmählich an die Gefahr, um so mehr, als sich tatsächlich kein Feind im Dorfe blicken ließ. Nur ihre Schätze und Lebensmittel bewahrten sie, soweit es anging, im Versteck, und ihre breden Kinder hielten sie mit der häufigen Drohung im Zaum, daß auf die Nacht schon ein wilder Franzos kommen würd und sie allesamt mitnähm.

Der Ennshofer erschien selten und wählte aus reiflichen Gründen die abseits gelegene Fahrstraße über Alt-Irdning und Nieder-Öblarn. Auch die Post blieb aus, und von den Studenten hörte man gar nichts. Die Frau Mutter dachte ihrer besorgt, während sie im Garten die abgestandenen Krautpflanzen auszog, Nagel, Feigel und Rosenstöcklein vom Geschirr in die Rabatten setzte und vom Mistbeet die Fenster nahm. Denn seit der Frühe streifte der Wind warm und milde, so daß ein wohltätiger Regen zu gewärtigen war. Noch aber trübte kein Wölkchen die Sonne. Mit strahlendem Duft öffneten sich die blauen und violetten Fliedertrauben. Der Jasmin knospete noch.

 

An der Berghamm-Lacke war’s dunkelgelb von Dotterblumen, und die Enns abwärts leuchtete es ganz weiß von Narzissen. Wo das hohe Schilf in den Sumpfwiesen überhandnahm, wuchsen die Schwertlilien auf schlankem Stengel, sich hin und wider neigend. Kleine Mädchen, welche den Fronleichnamstag schon ungeduldig herbeisehnten, gingen oftmals hinüber und schauten nach, ob die Blumen dieweil nicht gar würden oder verwelkten. Und da prellte es den Boden unter ihren Füßen und schreckte sie. Dann wieder kam ein dumpfes Rollen von irgendwo, so undeutlich, daß sie kaum wußten, ob sie überhaupt etwas vernommen hatten.

Auch die Frau Constantia im Garten horchte auf. Der Bader Gasteiger, welcher beim Grillen zur Krankenvisite gewesen, behauptete, auf der Höhe erkenne man solchen Schall als Kanonendonner, und nach einer Weile hörte jedermann, daß im Murboden bereits der Krieg war. Und längst bevor der optische Telegraph das zehn Stunden währende Gefecht dem Kaiserlich-Königlichen Hauptquartier angezeigt hatte und die Kuriere in gehetztem, todesmutigem Ritt das Land durchquerend, erraten ließen, daß der Feind wahrhaftig mit Blut und Feuer eingebrochen sei, wußten es die Leut, fühlten es mit eigenem geschärftem Sinn und wichen von ihrem Posten nicht. Der Tauernpaß bei Radstadt, welchen Jellacic hatte freigelegt, sintemalen er durch Erzherzog Johann nach Grätz abberufen worden, der Paß also war nunmehr von der Bürgermiliz und den Bauern wehrhaft besetzt. In der Sölk, bis Sankt Nikolai hinein spürte man wachsam jedem Lüftchen nach, so von Süden wehte. Desgleichen gab es auch zu Donnersbach-Wald und im Bayreuth ein Häuflein Jager und Wilddiebe, welche, von der Not und Heimatliebe gedrängt, gemeinsam ihre Stutzen auf die Achsel nahmen.

Die Mutter Stralzin horchte in den nächsten Tagen beständig, ob kein unheimlicher Laut übers Tal zitterte, sinnierte und studierte hin und her … bis ihr solches zu dumm wurde und sie die Furcht gleich wie einen schweren Traumzustand abschüttelte; es gab ihr auf ja und nein einen Ruck. Sie kämmte mit nassem Kamm ihr goldblondes Haar zurück, band eine frische Schürze um und kaufte bei der Veitkramerin drei Wachskerzen, mit dickem blauem Vergißmeinnicht gar lieblich geziert; steckte sie in die Leuchter am Frauenaltar und, alsdann die Dochte entzündend, betete sie inbrünstig drei Vaterunser für die himmlische Gnade, welche ihr Gottvater, Gottsohn und Heiliger Geist erzeigt, als er das Benediktinergymnasium noch rechtzeitig von Leoben nach Admont versetzt hatte.

Der Stralz aber fand nichts Wunderbares im Hinblick auf seine Söhne. Er versuchte vielmehr, die Unklarheit der Zustände aufzudecken, und weil ihm der Marsch bekannt war, so General Jellacic sich durch das Ennstal oft zur Nachtzeit und auf Schleichwegen erzwungen hatte, mutmaßte er ganz richtig, daß dieser gegen die Palten und Liesing abgewichen und an dem Kampfe beteiligt gewesen sei. Er wußte freilich nicht, wie sehr; indem dessen Fähnlein nämlich, bei Sankt Michael gegen die Heere des italienischen Vizekönigs stoßend, fast aufgerieben worden war und so den Weg nach Wien hatte freigeben müssen …

Wie die Zeit also weit draußen dahinraste und einer den andern fragend ansah, hielt es der Veitkramer nicht länger mehr im Dorfe aus, packte in sein Buckeltuch just nicht das Wertvollste und ging hausieren, trotzdem sein Eheweib bei allen heiligen Nothelfern prophezeite, daß man ihn noch als Spion verdächtigen und strangulieren werde.

Es geschah ihm aber gar nichts. Nein, binnen zweier Tage kam er wohlbehalten wieder, noch dazu in der Kalesche des Herrn Matthäus Ennshofer, Moar zu Stainach. Das blaue Tuch, welches beim Ausgang vollgepfropft und beschwerlich gewesen war, lag gefältelt neben ihm auf dem Sitz. Er sprach nur hie und da ein feierliches Wort aus. Und der Moar zu seiner Rechten sagte überhaupt nichts. Jeder Öblinger, welcher die beiden anfahren sah, wußte, daß etwas geschehen sei, und machte sich ergeben und bereit für das Gute oder Böse, was zu vernehmen war.

Vor dem Torbäcken stieg der Veitkramer ab, inmaßen Matthäus Ennshofer nicht wie gewöhnlich zum Stralzen ins innere Dörfel fuhr, sondern das Roß an eine Planke band, im Verabschieden des Fahrgastes Hand drückte und beim Dank sagte, es wäre schon gut. Sodann schritt der Moar zum Pfarrhof, schellte an, daß es mächtig durch das Haus klang. Und als wieder ein Weilchen verflossen war, trat er hinein.

Der gute Michael Praßthofer, vulgo Veitkramer, den seine geschmierte Zunge selten im Stich ließ, wußte sich in dieser Stunde nicht zu helfen. War er zufolge seines Hausierhandels doch mehr mit Welt und Menschen, Leid und Kriegsjammer vertraut als mancher andere und darum auch zutiefst erschüttert. Er mühte sich nun vergeblich nach einer würdigen und dem Ereignis angemessenen Rede. Und als die Öblinger, kaum daß er seinen Laden betreten, von Neugier gelockt dortselbst sich einfanden und, einen Bettel kaufend, geduldig stehenblieben, bis ihm endlich der Mund aufginge, da verdroß es sein Eheweib, und sie sagte spitz:

»Gelt, Michael, hast nix Neues erfragt?«

Da blickte er sie insgesamt sehr ernsthaft an. Die Ergriffenheit würgte in seinem Hals. Die Hände zitterten, indem er sie auf die Budel legte. Alsdann sprach er mit einem Schnaufer:

»Guat ist’s gegangen, nix ist geschehen.«

Sie sollten das Nähere bald erfahren. Denn auf einmal läuteten alle Glocken wie zum Hochamt, obschon es Jausenzeit des Sankt-Angela-Tages und wohlgemerkt unter der Woche war. Ganz unversehens, schlecht gewandet und beschmutzt, eilten die Leute von der Arbeit fort, einer dem andern nach. Und weilen die Kinder als die ersten soeben beim Freithofstor verschwanden, gingen die Eltern, Knechte und Dirnen, die mühseligen Greise, die Großmütter und Einleger auch hinein, daß es ein langer, andächtiger Zug wurde wie hinter Hochzeitern oder Leichen. Sie wußten noch immer nicht, warum solches geschah. Doch die Glockenstimme bereitete ihrem Herzen einen wunderbaren Ton, so daß jedes Wort, jede Frage ganz von selbst verstummte. Unter den großen Torflügeln blieben sie in dichtem Gedränge stehn, weil es aus der Weise gewesen, sich mitten am hellichten Werktag in einen Betstuhl zu setzen. Nur ein paar Kindlein wagten sich weiter vor. Und ein Ministrant rasselte in der Sakristei mit dem Weihrauchfaß. Also befand sich der Pater Isidor schier einsam in der leeren, hallenden Kirche. Er hatte den schneeweißen Chorrock angezogen und nahm seinen Platz beim Hochaltar, in merklicher Scheu die Hände ineinanderschmiegend.

»Liebe Pfarrkinder …«, begann er leise und sich räuspernd, » … ein reitender Kürassier hat die Kundschaft auf dem Schloß Stainach vermeldet, daß eine lange, blutige Schlacht ist vor sich gegangen in Aspern, welches Dorf einige Wegstunden von Wien entfernt liegt und siebenmal verloren und achtmal erobert worden ist. Karl, unser erlauchter Generalissimus, hat sich im entscheidenden Augenblick selber fürangestellt und hat füglich mit andern Ungenannten den glorreichen Sieg verdienet und unser armes zertretenes Österreich befreit. Lasset uns darum dem Herrgott danken, so ihnen hülfreich und gnädig war, und lasset uns andächtig beten für alle lebenden, leidenden und im Tode abgeschiedenen Helden …«

»Amen«, sprachen die Öblinger dumpf.

Bei diesem starken Laut hob der Berghammer den Kopf, nahm den seidenen Vespermantel, der am Speisgitter hing, legte ihn bedächtig um die Schultern des Pfarrers und trug diesem alsdann einen Schemel herbei, damit er das Tabernakulum erreiche.

Der Schulmeister saß zusammengeknickt auf dem Orgelchor. Er dachte in dieser Stunde an Kaiser und Vaterland. Er dachte aber noch mehr an seinen Buben und seine Mägdlein, an den Gemüsegarten, den Holzzaun, das rosafarbene Ferkel und die graue Geiß; er wischte mit dem Rockärmel einen blitzenden Tropfen von der Tastatur und intonierte inbrünstig das Tedeum. Die Eltern, Großeltern, Knechte, Dirnen und Einleger fühlten einen Schauer durch den Leib rinnen. Sie preßten die Lippen zu. Und wieder nur die tiefe Glocke ging, und nur die Kinder sangen:

»Großer Gott, wir loben dich!

Herr, wir preisen deine Stärke;

Vor dir neigt die Erde sich …«

Wie alle Dinge durch den Lauf der Zeit wandelbar und vergänglich werden, so war auch die Glückseligkeit der Öblinger nur von kurzem Bestand. Der siegreiche Ausgang des Kampfes bei Aspern, der sie wie ein Wunder Gottes neu belebt und mit ruhiger Hoffnung erfüllt hatte, bedeutete für die obersten Feldherren keineswegs das Ende. Ja, Erzherzog Karl, nicht beeinflußt und verwirrt durch die augenblickliche Gunst des Schicksals und die Lobreden des ganzen Reichs, äußerte sich in einem französischen Briefe, so geheim an Albertus Kasimir von Sachsen gerichtet war, daß man letzter, vergeblicher Opfer müsse gewärtig sein.

Das einfache Volk jedoch, welches treuherzig gab, was es zu geben hatte, schier unbedingt gehorchte und den Berufenen die Ehre, den Kampf, den Tod mit Selbstverständlichkeit überließ und vertrauensselig den sicheren Erfolg voraussah … das einfache Volk war anfänglich wie vom Blitz getroffen, als im Hochsommer die Post ins Gebirge heraufkam: es wäre alles verloren.

»Was ist noch zu sagen …?« notierte Vater Stralz, eine leere Seite nach den Ausführungen betreffs des glücklichen Sieges übergehend …, »den Ennshofer und mich tut es bedauern. Wir hätten dem Generalissimus Karl einen Dank vergunnt, statt dessen nimbt er sein Abschied. Aber der Moar hatt dem Pfleger ausdrücklich seine Meinung gesaget, nämlich daß nur der Erzherzog Johann die Schuld traget an der gantzen Schinterey, indem daß er ist nach Wagram zu spat komen. Und mein Schwäher der Zedler hatt seine Faust wacker auf den Biertisch gewichst, daß die Krügel sind gehupfet. Item, der Veitkramer, so sich auch schon einen Rausch angetrunken, gab die alte Geschicht von Prohaska zum Besten. Jeder verschimpft ein andern. Aber heut, wo sie nüchtern sind, bemerken sie mit Genugthuhung, daß von denselbigen welche Österreich habent in Händen gehalten, nur Kaiser Franz und Fürst Metternich ist überblieben. Auf Gunst und Glück ist kein Verlaß nit. Es sollten Einen die Fehlschläg baß nicht Wundern, denn wohlgemerkt, es sind nur Menschen, denen wir uns anheimgestellt; so ihren Fahlern, nene Trutz, Ergeitz, Starrsinn und Kurtzsichtigkeit untherworfen, es sind oft warmblüthige Leuth, welche zu Folge ihres Mitgefühles oder Vätterlicher Lieb vor der Entscheidung und That schwach werdent, wankelmütig und unbrauchbar. Ob solches eine Schuld ist? Ob über den Zänkereyen der Welt vileicht die Ewige Ordnung der Dinge es unbegreiflich gebothen hatt? Mir wöllen nicht richten …«

Am Tage, als Vater Stralz diese Zeilen in sein Notizbuch schrieb, waren die drei Buben auf der Heimreise in die Sommervakanz. Der Herr Göd hatte sich mit seinem Landauer im Stifte eingefunden und bei einer Rücksprache mit Gotthardus und dem Präfekten Verschiedenes in Erfahrung gebracht. Erstens nämlich, daß Matthäus sich eines Nachts aus dem dritten Stockwerk entfernt, wie, das wüßt man nicht, und mit zwei kecken Jagern gegen Röthelstein gepürscht, daselbst kampiert habe und in grausiger Morgenfrühe auf einen Wolf losgegangen sei. Die Weidmänner, noch schlaftrunken und steif, hatten ihm assistiert und schon gemeint, es werde fehlschlagen. Allein durch Gottes Beihülf wär der Bursch an Leib und Leben bewahrt geblieben und trüge weiters keine Spuren als einen noch schwürigen Schurf am rechten Oberarm, so das Biest mit dem schäumenden blutigen Maul verursacht … Zweitens ging die Klag über den Markus, daß er ein verstockter Kerl, stinkfaul und indolent wäre, und obzwar er nie und niemandem einen positiven Schaden anrichte, im großen und ganzen jeder Verfeinerung sich begebe.

»Und der Lukas?«

»Ja …«, meinte Gotthardus, er habe sich erzählen lassen, vom Rektor sowie mehreren Scholaren, daß Lukas ein ausgezeichneter Rechenkünstler gewesen bis zur Stund, wo er plötzlich keinen Stift und Griffel mehr angerührt, bleich und verbissen herumgeschlichen und sodann nach Tag und Wochen im Refektorium hingesunken wär.

In aller Heiligen Nam! Was das bedeute? frug der Göd.

Item, so berichtete Gotthardus, es habe nunmehr schleunigst der Medikus hermüssen, und dieser sei durch ein peinliches Verhör mit viel Kreuz- und Querfragen draufgekommen, daß Lukas beim Läuten sich am Glockenstrang aufgezogen und im Schwunge an die Mauer geschleudert worden war. Solch heftiger Anprall hatte ihm das Schlüsselbein entzweigesprengt und das Übel wäre alsbald in Brand ausgeartet, wenn der Bub es nicht durch seine Ohnmacht verraten hätte. Jetzt sei er völlig in Genesung, trage aber vorsichtshalber den Arm noch in der Schlinge. Ganz merkwürdig …, schloß der Abt, ganz auffallend gestalte sich seit jenem Unfalle das häusliche Pensum der Brüder, schier … als wäre mit dem Schlüsselbein deren ergötzliche Eigenart aus dem Leim gegangen. Hiebei blickte er sie nachdenklich, ja mit leiser Ironie an, zeigend, daß er ein erfahrener Mann und wohl auch ein Menschenkenner war.

 

Der Ennshofer, wenig vertraut mit solcherlei Gedankenschlüssen, nickte nur, um sein Bedauern kundzugeben, dankte den beiden Ordensherren für ihre Obsorg, nahm die Rechnung in Empfang und bezahlte die Hälfte im Hinblick auf seine Gevatterspflicht, wobei er sich jedoch der Bemerkung nicht enthalten konnte, daß an den Stralzenkindern leider Chrysam und Tauf verloren wäre. Sodann befahl er seinen durch die Kirche Schutzbefohlenen, welche der ganzen Verhandlung stumm beigewohnt und ihre Blicke über die Stuckfiguren der Decke hatten wandern lassen, vom Hochwürdigen Prälaten sowie dem Herrn Präfekten sich zu beurlauben und deren Hand zu bussen.

Die Buben gehorchten. Matthäus, welcher mit seinen siebzehn Jahren die Männer an Größe schon überragte, bog ungeschickt und sehr flüchtig den Rücken, und seine Lippen küßten in die Luft. Gleichwohl war der Druck seiner derben Finger von verschämter Innigkeit, denn er fühlte, es geschah zum letztenmal.

Auf der Fahrt teilte der Göd ihnen treffliche Lehren aus, unterzog sich auch der Mühe, in der Gegend von Frauenberg abzusteigen. Und dieweil sie, an der alten Pestsäule vorbeibiegend, den beschwerlichen Weg zur Wallfahrtskirche hinanstiegen, erzählte ihnen der Göd eine seltsame kleine Legende:

Vor vierhundert Jahren und weniges darüber ist die Enns ungewöhnlich weit über die Ufer getreten. Und die Regenbäche, von den Bergen schießend, und das Grundwasser aus den Mooren, Lehm und Schotter haben sich in der Talenge verklaust. Immer mehr Bäume mit Wipfel und Wurz, Hütten, Zäune, Bloche und Brücken kamen angeschwommen und spießten sich am Ausgange des Stausees, so daß schließlich mancher Turm und Hügel untertauchte. Auf dem Kulmberg, welchen der Göd itzt zu viert bestieg, hauste damals ein mageres Bäuerl und frug sich, jeden Morgen ausspähend, ob ihm der Herr beföhle, eine Arche zu bauen, oder ob er sölle ersaufen. Einmal nun überspülte die Sintflut schon das Kämmchen, welches ihn nach Nord mit den höhern Gebirgen verband. Und er mußte also glauben, daß aller Zuweg gegen die Almen würd abgeschnitten. Seine Augen bedeckend, kniete er lange vor dem Haustor, bis sein Weib ihn ermahnte und sein Kind ihn kosete. Er schaute auf und gewahrte nun, wie ein großes Trumm Holz in kurzen Zeitläuften immer wieder mit den Wellen anschlug. Der Bauer ging hinein und holte einen Feuerhaken, maßen er das Stück aufzufischen gedacht. Denn nahezu auf einer Insula lebend, wußt er nit, wie bald ihm das Brennholz ermangeln werde, vorausgesetzt, daß er solches überhaupt noch brauchte.

Mit dem Instrumente tüchtig auslangend, zog er das Trumm heran, nachdem sein Eheweib und Kind ihm einen festen Strick um den Gurt gebunden und ihn beim Fensterkreuz angeseilt hatten, damit er in dem aufgeweichten Erdreich nit gleite und talab rutsche. Ein paar Hiebe trafen recht, aber das wilde Wasser entriß ihm die Beute. Letztlich aber faßte der Haken, und zu dritt zerrten sie das Bloch herauf. Die Bauersleute erkannten an der Form, trotzdem dieselbe von Schlamm und Unrat bedeckt war, daß sie etwas Besonderes vor sich hatten. Sie wuschen, wischten und putzten, bis sie zu ihrer Freude ein holdseliges Marienbildnis erblickten. Das Weib wollte es behalten.

Der Mann aber, den Untergang seiner Keusche befürchtend, trug’s über den umspülten Höhenkamm, über Alm und Hochhalde zum Stift Admont hinab. Die Benediktiner, welche keine Stunde vor dem Durchbruch der Klause sicher waren, haben hinwiederum mancherlei Wertgegenstände über das Gebirge nach Liezen zurückbefördert. Ob die Statue darunter gewesen, vermag niemand zu sagen. Sicher ist, daß dieselbe am nächsten Morgen abermals auf den Kulmberg zugeschwummen kam und vom armen Bäuerl herausgefischt ward. Indem er sie nämlich von der Lethe reinigte, erkannte er neben dem frischen Hieb des Feuerhakens noch ältere im Mantel der Lieben Frau. Ungeachtet einer weit größeren Lebensgefahr trug er auch an diesem Tage das Bildnis zu den Admontern. Aber sieh da! Am dritten Morgen, als er mit Weib und Kind von jeglicher Zuflucht abgetrennt war und sie jammervoll wehklagten, schlug eine brausende Welle die Haustür ein und warf das hülzerne Kunstwerk auf den Boden. Von diesem Augenblick an verlief sich das Hochwasser langsam. Der Regen gab nach. Und wie durch ein Wunder zerbarst die Klause nicht, sondern trug sich von selber ab, so daß dem unteren Ennstal, insonderheit dem Stifte Admont, von Wassersgewalt nichts Schreckbares geschah. Der Abt Hartnid Gleußer erbaute aus Dankbarkeit für solch göttliche Fügung noch in ebendemselben Jahr auf dem Kulmberg eine Wallfahrtskirche. So geht die Legende …

Indessen waren sie bis zur Kirche gelangt. Die Buben verhielten sich ehrfürchtig, strichen mit ihren Fingern die rauhen Fresken entlang, bestaunten das Steinmosaik, und als sie hinter dem Altar eine gotische Marienstatue entdeckten, frugen sie den Ennshofer, ob solche das angeschwemmte Bildnis wär.

Das alte ursprüngliche Bildnis sei nicht mehr da, sagte der Göd. In den Türkenkriegen hab es der Sohn von jenem Bäuerl verschleppt und geborgen, man wisse nicht, wo, sagte der Göd, warf einen Taler in den Opferstock, kaufte alsdann in der Taverne für jedes Kind ein rundes Bräverl und einen Kreuzerwecken. Und es läutete schon Mittag, als sie wieder unten im Kalesch saßen und gen Liezen kutschierten.

Die Luft ging träge und warm. Sie brachte den Geruch von Moorerde. Unzählige Birkenstämme leuchteten weiß und wiegten ihr zerfranstes, liebliches Krönlein. An der Berglehne wehte das Korn golden, und die sonnichten Wiesen standen schon saftig im zweiten Futter …

Bei den Weißenbäcker Wänden machten sie einen kurzen Halt, weil dortselbst, nur dem scharfen Auge erkennbar, ein Gams kletterte. Da äußerten sich die Buben gesprächig über Wild, Wald und Weide, über die Ortschaften und Schanzbauten, welche sie unterwegs gesehen hatten, und der Ennshofer fand verwundert, daß sie lange nicht so dumm waren, wie sie ausschauten.

Von Wörschach an, wo die Pferde schon den heimischen Stall witterten, ging es in noblichem Trab, und der Roßknecht hatte bei den vielen Büheln gerade genug zu tun mit dem Ein- und Ausdrehen der Schleife. Die drei hülzernen Koffer prellte es, und der feiste Ennshofer rutschte bei einer Kurve manchmal gröblich gegen den Matthäus; aber der Lackel hielt es schon aus.

Zwischen drei und vier Uhr erreichten sie Stainach, wo sie nach ausgiebigem Mahle, einer erbaulichen Lehr und kurzem Abschied ihrem Schicksal überlassen wurden. Mit dem Ältesten voran … so schritten die Brüder zum Posthalter Vasold und frugen nach einer Gelegenheit.

»Jawohl«, antwortete dieser schnaufend und aufgeregt, sie möchten nur warten, in einer schwachen halben Stund führen zwei Kutschen vor, sie sollten alsdann in die zweite einsteigen, maßen die erste für einen hocherlauchten Herrn bestimmt sei, welcher inkognito vom Markte Aussee nach Öblarn reise.