Spur in die Vergangenheit

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Spur in die Vergangenheit
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Paula Grandjean

Spur in die Vergangenheit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

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Worterklärungen

Anmerkung

Danksagung

Deckblatt

Impressum neobooks

1

Völlig ausser Atem schlüpft Elena wenige Augenblicke nach einem älteren Ehepaar zwischen den sich bereits schliessenden Türen in den Zug. Sekunden später setzt er sich ruckelnd in Bewegung und gewinnt schnell an Fahrt. Sie ist erleichtert, als sie ein freies Viererabteil im Grossraumwagen entdeckt, lässt ihren vollgepackten, dunkelblauen Rucksack auf einen freien Platz fallen und sinkt selbst in den Fenstersitz daneben. «Geschafft!», denkt sie erleichtert.

Im Zug ist es stickig und laut. Gesprächsfetzen in verschiedenen Schweizer Dialekten dringen an ihr Ohr. Hauptsächlich Walliser Deutsch, was Elena eigentlich nicht verwundert, ist sie doch unterwegs nach Brig im Kanton Wallis. Ein wirres Durcheinander über Verwandte, Enkelkinder, das Wetter und Fussballresultate. Elena findet es spannend, den einzelnen Dialogen zu folgen und dabei so manches über ihre fremden Mitreisenden zu erfahren. Die beiden Frauen im Nachbarabteil, Elena schätzt sie auf etwa fünfzig, scheinen sich lange nicht gesehen zu haben. Sie erzählen sich angeregt von ihrem Leben und lachen über frühere gemeinsame Erlebnisse. Es ist weniger der Inhalt der Gespräche, der Elena fasziniert. Es ist die Sprache, der melodiöse Klang des Walliser Deutsch, der Elena in seinen Bann zieht. In diesen Momenten wünscht sie sich, als Kind mehr Zeit bei ihrer Grossmutter im Wallis verbracht zu haben und den Dialekt besser zu beherrschen.

Während die Landschaft gleichmässig an ihr vorbeizieht und ihre Augen im Takt immer wieder ein neues Ziel anvisieren, wandern ihre Gedanken zurück zu den Geschehnissen des Vormittags.

Am Morgen hat sie sich auf die Suche nach einem alten Kinderbuch gemacht, das sie als kleines Mädchen sehr geliebt hatte. Am Abend zuvor hatte Elena die Geschichte den beiden kleinen Buben erzählen wollen, auf die sie regelmässig aufpasste. Da sie sich jedoch beim besten Willen nicht mehr an den Namen der Hauptperson erinnern konnte, stieg Elena auf den Estrich hinauf, um die Kiste mit den alten Büchern hervorzusuchen. Nach kurzem Hin- und Her-schieben der leicht modrig und muffig riechenden Kartons, fand sie den richtigen und öffnete vorsichtig den Deckel. Im Inneren befand sich genau das, was sie erwartet hatte - ihre Kinderbücher. Elena mochte Bücher. Sie war eine richtige Leseratte. Drum war es nicht verwunderlich, dass sich ihr Interesse jetzt nicht ausschliesslich auf dasjenige Buch beschränkte, das sie gesucht hatte. Sie erkannte es sofort. Es lag zufällig gleich zuoberst. Ihre Augen glitten weiter über zahlreiche andere Buchrücken und bebilderte Bucheinbände. Erinnerungen wurden wach.

Während sie gedankenverloren fast zärtlich mit ihren Fingern über die Bücher strich, fanden die ersten Sonnenstrahlen des Tages einen Weg durch das kleine, verdreckte Dachfensterchen und fielen genau in das Innere der geöffneten Bücherkiste. Und dieser Zufall wollte es, dass Elenas Blick im Lichtkegel der Strahlen auf die Ecke eines alten, unscheinbaren Büchleins gelenkt wurde, welches am Rande der Kiste schräg hineingeschoben worden war. Es kam ihr nicht bekannt vor, und da es nicht wie all die anderen Bücher ordentlich in die Kiste eingepackt worden war, musste es erst im Nachhinein darin verstaut worden sein. Elenas Neugierde war geweckt. Vorsichtig schob sie ihre Hand zwischen die Wand des Kartons und das Büchlein. Es fühlte sich an, als wäre es mit Stoff bezogen. Elena ertastete den unteren Rand und begann, es behutsam herauszuziehen. Als sie es schliesslich in ihren Händen hielt, musterte sie es eingehend: Es war nicht sehr gross, etwa 20 cm lang und 15 cm breit, nicht besonders dick und dementsprechend leicht. Von aussen war es tatsächlich mit einem ausgeblichenen, hellroten, leicht fleckigen, samtigen Stoff überzogen. An einigen Stellen schien er bereits recht fadenscheinig zu sein. Auch der Buchrücken, die Kanten und vor allem die Ecken wiesen deutliche Spuren von Abnutzung auf. «Es muss oft gelesen worden sein», dachte Elena. Beim Öffnen des Buchdeckels fiel ihr auf, dass die Farbe des Stoffs an den Rändern der Deckelinnenseite um einige Nuancen dunkler war. Sie klappte das Büchlein wieder zu und stellte sich vor, wie wunderschön bordeauxrot es gewesen sein musste, bevor es im Laufe der Jahre durch Lichteinwirkung und andere äussere Einflüsse seine Farbkraft verloren hatte. Elena öffnete das Buch auf einer zufällig gewählten Seite und betrachtete den Text. Sie staunte nicht schlecht: Er war von Hand verfasst. Das Schriftbild wirkte ungewohnt, irgendwie altmodisch, verschnörkelt, aber schön ebenmässig. Der Text war mit Tinte geschrieben. Hie und da waren einzelne Wörter verschwommen, als hätte der Verfasser oder die Verfasserin beim Schreiben geweint. Was sie mühelos lesen konnte, war, dass alle paar Seiten ein neues Datum und ein neuer Tag notiert waren. Elenas Herz begann vor Aufregung zu pochen: Sie hatte ein Tagebuch gefunden! Doch wem mochte es gehört haben?

Im Wohnzimmer setzte sich Elena auf das gemütliche, mit Kissen übersäte Sofa und begann, ein wenig in dem gefundenen Schatz herumzublättern. Etwas liess sie zögern. Sie traute sich nicht so recht, darin zu lesen, da sie wusste, wie persönlich derlei Aufzeichnungen sind. Sie beschloss, am Abend ihre Mutter danach zu fragen. Und gerade, als sie es aus der Hand legen wollte, fiel ihr ein Foto in den Schoss. Es musste zwischen die Seiten gelegt worden und nun durch die Bewegung herausgefallen sein. Es handelte sich um eine alte, leicht vergilbte Schwarz-Weiss-Fotografie im Hochformat. Das Papier war wesentlich dicker als bei modernen Fotos wie Elena sie kannte und auch die Grösse schien irgendwie merkwürdig zu sein. Sie erblickte zwei Personen: Einen gross gewachsenen, kräftig gebauten jungen Mann mit lockigem, schwarzem Haar und auffallend dunklen Augen. Er lächelte ihr entwaffnend entgegen. Seine Kleidung mochte für die Zeit, in der die Aufnahme gemacht worden war, nichts Besonderes gewesen sein. Er trug eine an den Knien leicht ausgebeulte Lederhose, die mit einer geflochtenen Kordel in der Hüfte zusammengehalten wurde. Dazu ein weites, weisses Leinenhemd. «Willkommen im Jahre 1940», murmelte sie grinsend, als ihr die Jahreszahlen des Tagebuchs wieder einfielen. Auf seinem rechten Arm trug der schöne Unbekannte ein etwa einjähriges Mädchen in einem leichten, geblümten Schürzenkleidchen. Die Kleine liess ihre nackten Füsse baumeln und schmiegte sich derart fest an den Oberkörper des Mannes, dass sie das Gesicht vom Betrachter abgewandt hielt und man nur einen wilden Lockenschopf wahrnahm. Ein aus Gänseblümchen geflochtenes Kränzchen zierte ihren Kopf. Im Hintergrund erhob sich eine imposante Bergkette mit verschneiten Gipfeln.

Elenas Augen wanderten aufmerksam über das Bild. Beim Anblick der linken Hand des Mannes stutzte sie. Zweifelsohne legte er seinen Arm um eine weitere Person, die neben ihm stehen musste, die aber auf der Fotografie nicht zu sehen war. Erst jetzt fiel ihr die Hand einer Frau auf, die auf seiner rechten Hüfte lag. Eine zierliche Hand, die offensichtlich an hartes Arbeiten gewöhnt war, wie sich unschwer an den Schwielen und Schürfungen erkennen liess. Elena verstand zunächst nicht. Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, weswegen ihr gleich zu Beginn das Format der Fotografie ungewöhnlich vorgekommen war: Was sie in den Händen hielt, war nur die Hälfte des ursprünglichen Fotos. Jemand musste die Aufnahme fein säuberlich auseinandergeschnitten haben. Verwirrt drehte Elena die Fotografie um, in der Hoffnung, dort einen Hinweis zu finden. Und tatsächlich: Mit gut leserlicher Schrift stand auf der Rückseite:

ür immer

ustav & Elisabeth

 

Die fünf Buchstaben «ustav» waren halbherzig mit einem anderen Stift nachträglich durchgestrichen worden.

«Elisabeth». Elena sprach den Namen einige Male langsam aus. Kannte sie eine Elisabeth? Sie überlegte und versuchte sich zu erinnern. Dabei wickelte sie völlig in Gedanken versunken eine ihrer roten lockigen Strähnen um den Zeigefinger. Eine Angewohnheit aus Kindheitstagen, die ihr geblieben war. Doch sie kam nicht weiter. Sie schaute sich das Mädchen genauer an. «Schade, dass ihr Gesicht nicht zu sehen ist», dachte sie betrübt. «Aber diese Lockenpracht! Es musste sich um jemanden aus ihrer Familie handeln», folgerte sie, während ihr Blick auf ihren umwickelten Zeigefinger fiel. «Natürlich!» Elena griff sich an die Stirn. «Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin!» Nach einer kurzen Kopfrechnung war sie sich ziemlich sicher, dass es sich bei der Kleinen um ihre Grossmutter handeln musste, die alle nur «Lisa» nannten. Elena hatte noch nie jemanden «Elisabeth» zu ihr sagen hören. Das Tagebuch konnte jedoch nicht von ihrer Grossmutter stammen. Elena vermutete, dass es entweder dem Mann auf dem Bild oder der Frau, die auf der abgeschnittenen Fotohälfte abgebildet sein muss, gehört hatte. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie mit dieser Erkenntnis endlich einen Hinweis auf das in ihrer Familie seit Generationen gut gehütete Geheimnis gefunden hatte, das zu lüften ihr bislang nicht gelungen war. Genau genommen handelte es sich nicht um ein Geheimnis, sondern eher um ein Ereignis, das sich vor vielen Jahren zugetragen hatte. Ein Ereignis, das, wie ihre Mutter es auszudrücken pflegte, nicht unbedingt «an die grosse Glocke» gehängt werden müsse. Und obwohl Elena ihrer Familie gegenüber stets beteuerte, nicht die Absicht zu haben, mit dieser Familiengeschichte an die Presse gehen zu wollen – insgeheim ging sie ohnehin davon aus, dass sich niemand für solch eine Geschichte interessieren würde – stiess sie auf vehemente Abwehr und ein Gebot des absoluten Stillschweigens.

Einmal blieb Elena so lange beharrlich und bohrte unnachgiebig weiter, bis ihren Eltern schliesslich der Geduldsfaden riss. Mit unmissverständlichen Worten und versteinerter Miene forderten sie Elena auf, die Vergangenheit ruhen zu lassen und alte Wunden nicht wieder aufzureissen. Sie müsse einfach akzeptieren, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gäbe, die sie nicht zu erfahren brauche. Punkt! Aber Elena war stur. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Wahrheit herauszufinden. Auch gegen den Willen ihrer Eltern. Zu gut erinnerte sie sich an den einen Tag, an dem sie mit ihrer Grossmutter das Grab ihrer Urgrossmutter Katharina besucht hatte.

2

Damals war sie etwa fünf Jahre alt und verbrachte alleine ein paar Sommertage bei ihrer Grossmutter in Bodma, einem winzigen Bergdörfchen im Oberwallis, das der Gemeinde Naters angehörte. Elena liebte ihre Grossmutter. Sie mochte ihr schlohweisses Haar, das sie jeden Tag kunstvoll zu einem festen Knoten flocht und unter einem hellen Kopftuch verbarg; sie mochte ihre kräftigen Hände, die wunderbar duftendes Brot buken, und sie liebte ihren zarten Duft nach Lavendel.

An jenem Tag wollte ihre Grossmutter, die von jedermann «Lisa» genannt wurde, a biz ga löifu. Elena war nicht sehr erpicht darauf, spazieren zu gehen. Viel lieber wäre sie zu Hause geblieben, um auf der Wiese vor dem Haus mit ihren Puppen zu spielen. Aber ihre Grossmutter bestand darauf, dass sie sie begleitete. Sie gingen in den dichten Lärchenwald, der unweit hinter ihrem Haus begann. Wie immer beschäftigte sich Elena unterwegs damit, Tannenzapfen, Moosstückchen, Flechten und kleine Lärchenzapfen zu sammeln. Sie trug die Teile eine Weile mit sich und tauschte sie gegen neue Fundstücke ein, die ihr noch besser gefielen.

Wenn Elena heute zurückdachte, ärgerte sie sich, dass sie damals nicht besser aufgepasst hatte, wo sie ihre Grossmutter hinführte. Sie war völlig in ihre Sammelei vertieft und folgte ihr blindlings. Darum bemerkte sie nicht, dass ihre Grossmutter vom Hauptweg abbog und einen schmalen, unscheinbaren Pfad ins dunkle Innere des Waldes wählte. Erst als ihre Grossmutter vor einem Erdhügel stehenblieb, sich davor niedergekniete und die Hände zum Gebet faltete, realisierte Elena, dass sie an einem Ort waren, den sie noch nie zuvor besucht hatten. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf. Sie mochte diesen Ort nicht. Am liebsten hätte sie sofort wieder kehrtgemacht. Der seltsame, mit Blumen bewachsene Hügel befand sich auf einer winzigen Lichtung, die von mächtigen, alten Arven umgeben war. Die Sonnenstrahlen vermochten kaum das Nadelwerk zu durchbrechen, was die Lichtung in ein diffuses Licht tauchte. Elena lief zu ihrer Grossmutter und ergriff ängstlich ihre Hand. «Grossmama», fragte sie zögernd, «Was ist das für ein Hügel? Warum gehen wir nicht weiter?» Die Grossmutter bekreuzigte sich mit gesenktem Kopf und erhob sich langsam. «Elena, dieser Hügel ist kein gewöhnlicher Hügel. Er ist ein Grab. Hier liegt deine Urgrossmutter Katharina begraben.» Elena wunderte sich. Sie wusste, dass die Verstorbenen für gewöhnlich unten im grossen Dorf Mund auf dem Friedhof begraben wurden. «Wieso wurde sie nicht wie all die anderen auf dem Friedhof beerdigt? Und wo ist der Grabstein mit ihrem Namen?», wollte sie wissen. «Deine Urgrossmutter hätte nicht gewollt, dass jeder weiss, wo sie begraben ist», antwortete die Grossmutter. Auf die Frage, weshalb sie das nicht gewollt hätte, reagierte die Grossmutter unwirsch und bat sie, mit der Fragerei aufzuhören und zu schweigen, um die Totenruhe nicht zu stören. Doch Elena verstand nicht. Wie konnte man die Ruhe eines Toten stören? Ein Toter war schliesslich tot. Den störte ohnehin überhaupt nichts mehr.

Sie war froh, als sie sich endlich auf den Heimweg machten und den unheimlichen Ort hinter sich lassen konnten. So klein sie auch gewesen sein mag, dieses Erlebnis hatte sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Mit den Jahren erfuhr Elena nicht viel mehr über Katharina. Ihr wurde erzählt, welch wundervolle, mutige und intelligente Frau sie gewesen sei. Aber nie wurde ein Wort darüber verloren, wie sie gestorben war. Man trichterte ihr ein, nichts Schlechtes über sie zu denken, was auch immer sie je über ihre Urgrossmutter zu hören bekäme. Diese Andeutungen weckten Elenas Neugierde. Sie begann, sich immer mehr für diese geheimnisvolle Frau zu interessieren. Sie versuchte, im Internet zu recherchieren, jedoch ohne Erfolg. Sie fragte die Dorfbewohner von Bodma, dem Dorf, in welchem ihre Urgrossmutter aufgewachsen war. Ohne Ergebnis. Es schien, als hätten sie Angst, auszusprechen, was geschehen war. Elena spürte ganz deutlich, dass sie etwas vor ihr verheimlichten. Sie erkannte Angst in ihren Augen. Meistens bekreuzigten sich ihre Gesprächspartner, sobald Elena den Namen «Katharina» aussprach, und verabschiedeten sich rasch wegen dringend zu verrichtender Arbeiten. Man legte ihr nahe, die toten Seelen und die Vergangenheit ruhen zu lassen, damit man den Hass der dunklen Mächte nicht auf sich zöge. Elena tat all dies als Aberglaube ab. Sie wusste jedoch, wie ernst es den Dorfbewohnern mit diesen Ängsten war. Ihre Grossmutter hatte ihr früher viele Geschichten und Sagen von Zwergen, Trollen und Feen erzählt. Zwar waren diese angeblich frei erfunden, doch der Kern der Geschichte, wie ihre Grossmutter beteuerte, war immer ein wahrer. Schliesslich hatte Elena genug. Sie hörte auf zu suchen und akzeptierte die Tatsache, dass ihr niemand etwas erzählen mochte. Sie beschäftigte sich mit anderen Dingen in ihrem Leben, die ihr wichtiger erschienen. Eines Tages würde sie es schon erfahren. Da war sie sich ganz sicher.

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