Masse und Mittelmaß

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Masse und Mittelmaß
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Masse und Mittelmaß

Paul Bäumer

Copyright: © 2013 Paul Bäumer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5931-5

Masse und Mittelmaß

I

Es ist wohl wieder einmal einer jener Tage, die mich an meine eigenen Grenzen stoßen lassen. Der Himmel ist wolkenverhangen, die Stimmung, ebenso wie das Licht, grau schimmernd. Eine trübe Stimmung ist es, die sich da in meinem Kopf verbreitet, ähnlich der, wie sie schon die längste Zeit in dieser Stadt, aus der ich komme, vorhanden ist.

Diese Stadt wird noch Stadt sein, wenn es mich und wenn es dich nicht mehr geben wird. Mich wird es bald nicht mehr geben und ich möchte mich nur noch verabschieden von denen, die mir einmal etwas bedeuteten.

Ich mochte die Menschen noch nie. Schon als kleines Kind war ich in mir drinnen gegen sie. Ich stellte mich gegen sie alle und ich merkte es schon bald, hatte kaum Chancen, dem Mittelmaß, in welches ich und im Übrigen auch jeder andere Mensch, hineingeboren wird, zu entkommen. Mittelmaß – welch Wort. Ich möchte erklären, worüber ich spreche, bevor manch Urteil zu schnell gefällt wird.

Mittelmaß bedeutet nicht eine Drei auf einer Skala von eins bis fünf. Das wäre viel zu einfach. Damit ist es nicht getan. Mittelmaß ist, was uns alle umgibt, wovon wir uns blenden lassen, worin wir leben und wogegen wir zu kämpfen verlernt und vergessen haben, da wir nichts anderes mehr kennen, ja nicht mehr kennen können, da uns allen, Mittelmaß als die einzige Wahrheit ständig vorgesetzt wird. Ununterbrochen wird suggeriert, es gäbe nur Mittelmaß und keine Alternativen. Doch es gibt sie, diese Alternativen, aber sie wurden von dem beherrschenden Mittelmaß verdrängt und an den Rand geschoben.

Am Rand ist es dünn, ständig bricht das Eis und sicher ist es auch nur in der Mitte der Scholle, dort wo sich alle tummeln und gegenseitig darin bestärken, wie schön sie es hätten. Diese Lemminge! Diese unglaubliche Arroganz der Masse. Dieses nicht zu besiegende Mittelmaß überall. Man könnte meinen, es sei zum Verzweifeln, doch das ist es nicht, nein das ist es nicht und war es auch noch nie. Verzweifeln der Tatsachen wegen lohnt sich nicht. Es wäre die pure und reinste Form der Selbstverletzung. Ich schreibe diese Zeilen nicht etwa, weil ich verzweifelt wäre. Ich bin des Lebens überdrüssig, aber das ist nicht dasselbe wie Verzweiflung. Ich setze ein, woran sich alle völlig erbärmlich und sinnlos klammern.

Mittelmaß gab es schon immer, noch nie hörte es zu existieren auf und immer wird es überleben können. Die Frage nach der Relation, nach der Gewichtung, welche Rolle Mittelmaß in der Gesellschaft einnimmt, ist die entscheidende. Diese Lemminge, obwohl so dumm und dem Tod von allem Anfang an versprochen, sind in der Überzahl. Sie fühlen sich wohl unter ihresgleichen. Sie kennen nur ihresgleichen und sie sehnen sich nicht danach Neues zu entdecken. Dies kennzeichnet sie. Die Zufriedenheit in ihrer grenzenlosen, überlegenen Dummheit ist beängstigend. Sie wissen nicht, was sie tun und sie w0llen es auch nicht hören. Sie wollen es nicht wissen. Sie sind vollkommen glücklich in ihrem Unvermögen.

Gäbe es die Lemminge um mich herum nicht, könnte ich nicht so sprechen, wie ich es eben tue. Ich brauche Sie. Durch sie erst kann ein Mensch, wie ich es bin, überhaupt erst existieren. Ich verachte sie also und zehre doch von ihnen. Ich beneide sie nicht, denn der Tod ist mir allemal lieber als heuchlerisch in ihrer Mitte zu stehen. Heuchler gibt es doch wahrhaftig genug. Die Welt kann auf sie verzichten und selbst die Mittelmäßigen bräuchten keine Heuchler unter ihresgleichen und doch tummeln sich gerade unter jenen viele von denen, die sie im Grunde ablehnen. Sie produzieren sie geradezu in einem unerschöpflichen Ausmaß, täglich und täglich, stündlich und stündlich.

Es gab auch in meinem Leben eine Zeit, in der ich in das System der Mittelmäßigkeit gut integriert gewesen bin. Ich wurde hineingedrängt, konnte mich nicht wehren, war noch viel zu schwach und zu klein um selbst auf eigenen Beinen stehen zu können. Der Mensch braucht so lange um sich selbst schützen zu lernen. Als Einzelner, als Individuum. Die meisten bevorzugen den Schutz der Masse, ja mehr noch, sie bilden sich ein von dieser Masse abhängig zu sein. Ich werfe dies niemanden vor, sondern halte nur vor Augen, dass dies der Weg des schalen Geschmacks ist, den man bereit sein muss zu verlassen, wenn sich dazu die Gelegenheit bietet.

Ich stellte mich nicht gegen Mittelmaß, etwa weil ich verstoßen wurde. Im Gegenteil, ich stellte mich gegen Mittelmaß, weil sie mich umringten und umzingelten, mich einengten und dabei schließlich erdrückten. Ich sehe keinen anderen Weg als den, den zu gehen ich bereit bin.

Alle um mich herum, weckten bewusst und unbewusst, absichtlich und unabsichtlich meinen Ekel und meine Scheu vor ihnen.

Ich denke, ich habe früh genug erkannt, wogegen ich zu sein habe. Die Lemminge sind ein grausames Volk. Nicht heute, nicht gestern, sondern viel mehr immer schon gewesen. Trotz der vorherrschenden Dummheit und Stumpfsinnigkeit in ihren Köpfen ist es den Lemmingen in der Masse weiterhin möglich zu wachsen. Der Punkt sie zum Stillstand zu bringen, ist verpasst worden und deswegen wird Mittelmaß unsere Katastrophe werden, unsere ureigenste. Mittelmaß gibt es überall und doch behauptet es von sich selbst, niemals in Erscheinung zu treten. Die Masse selbst ist der nicht zu falsifizierende Beweis meiner Aussage. All ihre Aussagen und Erscheinungsformen decken, ja bekräftigen meine Meinung und Aussage in diesem Punkt.

Ich konnte ihre Gesetze noch niemals verinnerlichen. Ich suchte all die Fehler, die ich an ihnen sah, tatsächlich auch bei mir und dies war wohl einer meiner größten Fehler gewesen. Ich suchte jahrelang, immer von dem Gefühl, der an mir nagenden Unwissenheit, begleitet. Ich zweifelte viele Jahre an mir selbst, immer in dem Glauben, sie hätten Recht mit ihren Behauptungen und Mutmaßungen.

Mein Weg, weg von den Massen, weg von den Lemmingen, ließ mich, je weiter ich kam, immer klarer sehen. Rückblickend gesehen, war es einfach zu gehen, sich abzuwenden von dem, wogegen das Herz und auch der Verstand sich insgeheim schon immer sträubten. Mit meinem Gang aus der Masse konnte ich schließlich all dem, was ich ablehnte, entkommen. All dieser Mittelmäßigkeit, all dem Schein, den vielen Lügen, all diesem falschen Gelächter und den falschen Sätzen, all dieser Gleichgültigkeit und dem vorherrschenden Stumpfsinn.

Endlich frei, ging ich mit mir oder viel mehr in mir selbst meinen Weg.

In einer Gesellschaft, in der man ein hohles Gegenüber braucht um überhaupt existieren zu können, in einer Gesellschaft, die so sehr in vermeintlichem Fortschritt vernarrt ist, obwohl man doch anhand eines jeden dicken Gesetzbuches erkennen könnte, wie unfähig und rückständig die Menschheit in Wahrheit als Gemeinschaft ist, wurde ich hineingeboren. Wozu brauchen wir all diese Gesetze, all diese Verordnungen und Maßnahmen, frage ich mich heute? Wozu brauchen wir all diese bis ins Unendliche hinein erweiterbaren Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders, wenn wir doch so fortschrittlich in unserem Denken sind?

Wir brauchen sie, denn in den meisten Menschen steckt nichts Gutes, nicht mehr und vielleicht war dies auch noch nie anders.

Die Paragrafen und hundert Verordnungen, die sich mittlerweile meterhoch in dicken Büchern stapeln lassen, zeigen doch eindeutig, wie weit wir von wahrhaftigem Fortschritt entfernt sind. Gesellschaftlich gesehen, stehen wir noch immer am Anfang. Hunderte von Jahren strichen vorüber, größtenteils wirklich spurlos.

Kriege wurden und werden geführt, es ging und geht um persönliche Vorteile einiger weniger, um Reibereien zwischen Machthabern und deren ungelöste Konflikte. Im Grunde genommen geht es immer ums Gleiche: Kapital, Geld, ein Stückchen Land, Ressourcen, um Macht ganz allgemein. An der Machtfrage sind schon so viele Menschen gescheitert. Streben nach Macht liegt in der Natur des Menschen. Denn die vielen Lemminge brauchen Führung. Ohne Führung wäre jedes Leben von Anarchie in seiner rohesten Form geprägt. Menschen können Macht jedoch nicht verwalten und deswegen bedeutet Macht irgendwann immer und unausweichlich Zerstörung. Im Falle der Menschheit bedeutet es schlichtweg Selbstzerstörung und ob langsam dahinsiechend oder bombastisch schnell, vollzogen in wenigen Sekunden, auch das ist in diesem Kontext, den Blick auf das Ergebnis gerichtet, schlichtweg einfach nur nebensächlich. An den Kriegen, großen und kleinen, erkennt man, wie viele Wahrheiten sich in diesem Universum parallel zueinander abspielen. Niemand zuckt mit der Wimper, wozu denn auch?

Es löst keine Bestürzung, ja noch nicht einmal geheuchelte Anteilnahme aus. Es löst nur Kenntnisnahme aus. Stille zur Kenntnisnahme in einer geselligen Runde. Stillschweigen bedeutet immer und konkret Zustimmung zu dem Geschehen und sei es auch noch so nebulös und geschickt getarnt. Doch die meisten tun so, als würde sie nicht einmal das etwas angehen und nicken einfach weiterhin brav mit ihren Köpfen.

Die Wirklichkeiten sind es dann auch, die uns in unser aller Köpfe zu schaffen machen und Probleme bereiten. Nichts anderes bedeutet es, wenn wir heute die Waffen gegeneinander erheben, um uns, aufgestellt in Reih und Glied, gegenseitig zu erschießen.

Macht, dieses banale Wort, mit solch einer Wirkung, lässt uns alle erzittern. Banalitäten stürzen Abertausende Familien in den Tod. Fortschritt kann auf einer Welt, wie der diesen, nur eingebildet sein. Wahrhaftiger Fortschritt ist eine Illusion, eine Farce, ja schlichtweg eine Lüge, die wir uns gegenseitig erzählen und an die wir glauben möchten. Seit Jahrhunderten sind die Probleme dieselben und deswegen ist es täglich zu beobachten, wie sehr die Menschheit als Gesamtheit auf der Stelle tritt ohne sich auch nur einen Meter vorwärts zu bewegen. Was nützt der technische Fortschritt alleine? Wir alle hinken nach, unfähig mit all jenen Dingen Schritt zu halten, die wir tagtäglich produzieren und neu erfinden. Die Technik um uns herum wird eines Tages nichtig werden und wie sollte es auch jemals anders kommen? Die vielen Knöpfe, die Möglichkeiten, die sich uns neu bieten, wir haben sie nicht unter Kontrolle. Fortschritt dient nur noch dazu, um ihn gegen uns selbst zu richten und obendrein, um von unserer Unfähigkeit in so vielerlei Belangen abzulenken.

 

Die Menschheit hat sich noch nicht einmal darauf einigen können aus der Geschichte zu lernen, dies ist einer der größten Schwachpunkte an der momentanen und zugleich leider immerwährenden Situation. Die einzige Möglichkeit ist sich auszuklinken aus dieser Gesellschaft, die so geblendet ist von sich selbst, dass jeder Tag für die, die nicht mehr wollen und auch nicht mehr können, erneut zu einer einzigen Qual wird.

Mein Leben lang schon litt ich unter meinen Sehnsüchten. So vieles, wonach ich suchte, so vieles, wonach ich mich sehnte.

Ich unterlag meinen Sehnsüchten inmitten von Menschen, die Gefühle, wie ich sie hatte, nicht kannten. Alle um mich herum, diese Lemminge, waren glücklich in ihrem Leben. Sie schienen mir im Vorteil. Ewig schon fühlte ich mich von ihnen im Stich gelassen und alleine ging ich umher, da ich nicht finden konnte, wonach ich suchte.

Meine ersten Lebensjahre waren wohl, wie in jedem anderen Leben auch, die entscheidenden. Mein Vater verließ mich bereits in einem Stadium meines Lebens, in dem ich ihm noch nichts vorwerfen konnte, da es mir unmöglich war aus dem Leib meiner Mutter mit ihm zu kommunizieren.

Später, so denke ich, erwartete er aus einer Haltung, die mir bis heute unverständlich ist, eine Art der Verzeihung meinerseits. Ich, damals noch jung und vital, er alt und gebrechlich, konnte jedoch nicht verzeihen. Es gab nichts zu verzeihen, da ihm jede Einsicht fehlte.

Seine Handlungen waren Zeit seines Lebens die eines Feiglings gewesen. Er fiel nicht auf, dies war wohl die einzige Eigenschaft, die er mir vererbt hatte und es war gut so.

Die Schnitte, die er mir mit seinen Handlungen verpasste, die mein Herz als kleiner Mensch hinnehmen musste, sie sind mit dem Älterwerden schließlich nur gewachsen, niemals aber verheilt. Letztlich aber war mein Gewebe unter diesen Schnitten abgestorben, tot. Ich konnte an diesen Stellen nicht mehr empfinden, eine Verzeihung ausgesprochen von mir, wäre daher etwas Erfundenes gewesen.

Ich fand mich früh damit ab ohne Vater aufzuwachsen. Vaterlos bezeichnete ich mich in Gedanken häufig und ich wusste, es würde der Realität entsprechen. Denn obwohl ich als kleiner Mensch adoptiert wurde, wie mir meine Mutter erzählte, so hatte ich dennoch nie einen Vater, der mich an der Hand nahm.

Von dem, der mich dann später adoptierte, weiß ich ebenso nicht viel zu berichten. Meine Erinnerungen sind nur sehr vage, was ihn betrifft. Ich sah ihn nur wenige Male in meinem Leben und ehrlich gesagt, kenne ich ihn kaum. Er schlief selten an jenem Ort, den ich mein Heim, mein Zuhause nannte und kurz vor seinem ewigen Fortgang, daran kann ich mich noch erinnern, schliefen er und meine Mutter in getrennten Zimmern, in getrennten Betten.

Ohne Vater aufzuwachsen war vielleicht mein Glück. Alles andere um mich herum nahm seinen geregelten Lauf, überall. All diese Institutionen mit ihren schon angedeuteten Gesetzen und Regeln, Riten und Hausordnungen nahmen mich unter ihre Fittiche. Dieses Geregelte, immer und überall, dieses Gemaßregelte verstand ich noch nie. Ich versuchte zu verinnerlichen, was auf all diesen Papieren und Zetteln stand, versuchte zu verstehen mit meinem Kopf, versuchte zu fühlen mit meinem Herzen, was sie mir alles eintrichtern wollten. Ich betete jeden Tag, dass es ihnen allen gelingen würde aus mir ein funktionierendes Mitglied des Mittelmaßes zu machen. Ich betete, da ich nichts anderes kannte und ich mich sehnte, so zu sein, wie alle anderen um mich herum es auch gewesen sind.

Die Angestellten der verschiedensten Häuser und staatlich geförderter Einrichtungen bemühten sich redlich um mich. Mittelmaß hat jedoch die Eigenschaft zu beschränken. In vielerlei Hinsicht und mein Glück war es, dies relativ schnell zu erkennen. So konnte ich lernen meine bis dahin einzig in Erscheinung getretene Fähigkeit zu nutzen. Ich fiel nicht auf. Wo immer es nur ging, schwamm ich mit in meiner Umwelt und wurde so zu etwas nie Gesehenem.

Rückblickend lache ich sie noch einmal alle aus. Sie erkannten ja noch nicht einmal meinen inneren Widerstand gegen sie! Wie konnte ich sie da auch nur ernst nehmen? Freilich, als kleiner Junge war ich jeden Tag aufs Neue darauf gefasst, entdeckt zu werden, aufzufliegen, meine Tarnung preisgeben zu müssen. Mein Widerstand wäre rasch gebrochen gewesen, dessen bin ich mir sicher, auch heute noch. Ich hatte ja nur mich und ich zweifelte damals wahrlich genug an mir selbst. Niemals konnte ich mir sicher sein, ob sie, die Lemminge und all diese Pädagogen und Parteigänger um mich herum, nicht doch Recht hatten mit all dem, was sie um mich herum forderten und wofür sie vorgaben einzustehen.

Meine Mutter und auch deren Mutter, obwohl sie schon so alt war, die gute Frau, führten mich einige wenige Male auf diesen Hügel inmitten der Stadt. Es gab nicht viele, die sich auf den Hügel wagten. Berg, so nannten ihn die Mittelmäßigen. Ich nannte dieses Gebilde inmitten der Stadt, schon lange bevor ich Mittelmaß entfloh, in mir innen drinnen schon immer nur Hügel. Die Welt war höher und weiter als Mittelmaß zuzugeben bereit war. Daran glaubte ich fest, still und heimlich, viele Jahre schon, bevor ich es tatsächlich wusste.

Dass Glaube dem Wissen überlegen ist, daran halte ich seit damals fest. Glaube kann im Gegensatz zum Wissen niemals bewiesen werden und Glaube stellt sich diesem weltlichen Zwang noch nicht einmal in den Weg. Glaube ist etwas gänzlich anderes als Wissen. Der Glaube ist dem Wissen überlegen, gerade weil er nicht bewiesen werden muss. Daraus schließlich bezieht er all seine Sprengkraft und gewinnt all seine Anhänger.

Meine Mutter gab mich schon in jungen Jahren in ein Internat der Mittelmäßigkeit.

Mit vier Jahren schon trug ich eine Uniform. Meine erste und viele weitere sollten noch folgen. Diese Uniform, sie zwickte und juckte mich an allen möglichen Körperstellen.

Uniformen prägen diese Stadt. Jede Funktion in dieser Stadt trägt eine Uniform. Die Funktionen, das waren die Menschen, das waren wir alle damals gewesen. Meine Uniform, die eines vierjährigen Kindes, bestand aus einem braunen Leinenhemd, welches aus einem sehr groben Stoff bestand und aus einer Hose, welche im Sommer zu warm und im Winter zu kalt gewesen ist. Hemd und Hose, beides in derselben Farbe. Das Hemd durfte niemals über der Hose getragen werden. Es wurde versucht die Hosen passgenau auszugeben. Selbst bei uns Kindern achteten sie penibel auf die Passgenauigkeit der Hosen. Etwas Unpassendes, das wollte Mittelmaß von Anfang an verhindern.

Den Einheitsbrei der Masse konnte ich damals noch nicht erkennen. Ich war wie sie, einer von vielen. Die Lehrer und Lehrerinnen lasen uns oft stundenlang aus dicken Büchern vor. Wir mussten dabei still sein und durften keinen Laut von uns geben. Sie erzählten uns etwas über unser Volk. Über die vielen Mütter und Väter, die es im Laufe der Geschichte, seit Anbeginn dieser Stadt schon gegeben haben soll. Ob einige von ihnen fühlten und dachten, wie ich dies später tat? Damals als kleiner vierjähriger Mensch litt ich noch nicht unter meinen Gedanken. Es waren wohl meine guten Jahre unter den Lemmingen.

Kurze Zeit nach meinem sechsten Geburtstag wechselten wir in den zweiten Stock des Internats. Die Lehrer und Lehrerinnen erstellten auch eine neue Sitzordnung. Ich ging in der Masse unter. Ich saß exakt in der Mitte der Klasse. Mein neuer Sitznachbar hieß Hendrik. Eine Woche später wurden wir dann auch im Internat in dasselbe Zimmer eingewiesen. Weder er noch ich dachten uns etwas dabei. Wir waren uns gegenüber noch gleichgültig gewesen.

Da wir im Klassenzimmer niemals miteinander sprechen durften und auch sonst kaum eine Gelegenheit bestand, sich näher kennen zu lernen, blieb im Normalfall nur das eigene Internatszimmer, das man sich in jedem Falle mit jemand teilen musste, als Ort um sich mit einem Menschen näher zu unterhalten. Hendrik lernte ich also nach und nach näher kennen. Die meisten anderen aus meiner Klasse sind in meiner Erinnerung gänzlich verblasst. Einfach so, weder sie noch ich trugen etwas dazu bei.

Mir gefiel es in der Mitte des Raumes. Die Masse um mich herum schützte und deckte mich. Die vererbte Eigenschaft meines Vaters, nämlich nicht aufzufallen, verhalf mir zu einem sicheren Platz inmitten der anderen.

Ich wusste damals noch nicht, dass in jener Stadt, in die ich hineingeboren wurde, nichts dem Zufall zu überlassen versucht wurde. Ich saß in der Mitte, da ich den Einschätzungen der Lehrer und Lehrerinnen nach gänzlich Mittelmaß entsprach. Ich musste weder besonders gefördert, noch speziell beobachtet werden. In den ersten beiden Reihen waren diejenigen, auf welche die Lehrer und Lehrerinnen besonders achteten. Eine latente Andersartigkeit attestierten die Pädagogen den Menschen in den ersten beiden Reihen. In den beiden hinteren Reihen waren die Lieblinge aller Institutionen. Sie verlangten den Lehrkräften am wenigsten Arbeit ab, ihr Augenmerk galt ihnen zuletzt. Hinter mir saßen all jene Personen, denen eine glänzende Karriere in der Stadt der Mittelmäßigkeit bevorstand. Hinter mir war es meist ruhig, niemand sprach, es fanden selten geflüsterte, verbotene Gespräche in den beiden letzten Reihen statt. Angeödet und fasziniert gleichermaßen blickten die jungen Menschen hinter mir auf die Pädagogen und Pädagoginnen um ihnen zu folgen, wo immer deren Wege sie hinführen sollten. Und ich? Ich tat es ihnen, gedeckt von der mich umgebenden Masse, gleich.

In der ersten Reihe saß ein Mädchen. Täglich hörte ich ihren Namen, wenn die Lehrer und Lehrerinnen die Klassenlisten vorlasen um unsere Anwesenheit zu kontrollieren. Helena. Ich wusste nicht, ob ich mich täuschte oder Recht mit meiner Vermutung hatte, sie schon aus vergangenen Kinderjahren zu kennen. Ich war seit über zwei Jahren schon in den Gemäuern dieser Institution, genauso wie all die anderen jungen Menschen um mich herum auch. Meine verschwommene Erinnerung an sie ließ mir keine Ruhe mehr.

Helena gefiel mir und ich hörte aufmerksam zu, wenn sie kleine, ausgesuchte Texte vor der ganzen Klasse vorlesen musste. Die, ihr von den Lehrern und Lehrerinnen attestierte Andersartigkeit konnte ich niemals an ihr feststellen. Nichts mir Fremdes strömte da aus ihrem Inneren. Erst später dann, haben sie sie mir genommen. Nach Jahren und Jahrzehnten schien es, als würde ich einer mir Fremden ins Gesicht blicken.

Ich wusste damals natürlich nicht, dass sie den Lehrern und Lehrerinnen als eine galt, die man speziell fördern müsste, damit sie ihr Glück in Mittelmaß finden könne.

Hendrik, mein Sitznachbar und Zimmerkollege, saß meist stumm und still neben mir. Erst mit dem rückwärtigen, auf die Vergangenheit gerichteten Blick, wird mir wirklich klar, wie sehr er sich schon damals von den anderen unterschied. Obwohl sein Blick klar gewesen ist, wirkten seine Augen schon in jungen Jahren manches Mal schwer dabei und doch schienen seine Augen dabei stumpf zu glänzen, der Schwere scheinbar zum Trotz. Ich beobachtete ihn oft aus meinen Augenwinkeln heraus. Er arbeitete zielstrebig mit, er beherrschte schnell alle Grundlagen, die sie uns beibrachten.

Wir fingen an, jedes Mal vor dem zu Bett gehen zu diskutieren. Über den gemeinsamen, dabei aber doch sehr einzeln, erlebten Tag. Wir verstanden uns gut und aus der Gleichgültigkeit wurde eine gelebte Gewohnheit, die Jahre später in Respekt und Freundschaft umschlagen sollte. Bis es soweit war, besprachen wir die Schulaufgaben, korrigierten uns gegenseitig bei der Aussprache der gelesenen Texte und bildeten oft ein Zweierteam, wenn Leibesübungen auf dem Tagesprogramm standen. Die Monate vergingen und mit ihnen mein anfängliches Unwissen gegenüber den Massen und Mittelmaß.

Endlich, mit acht Jahren sah ich meine Mutter und auch deren Mutter wieder. Das erste Mal aus den Institutionen entlassen, genoss ich die paar Wochen, die wir hatten um uns zu Hause, im Kreis der Familien, auf den nächsten Abschnitt vorzubereiten.

 

Zwischen dem achten und dem zwölften Lebensjahr kamen wir in die nächste Institution um dort weitere Lektionen der Mittelmäßigkeit zu erlernen. Doch bis dahin hatte ich noch sechs Wochen Zeit. Ich genoss es anfangs in unserer Wohnung die braune Uniform abzustreifen. Ich schätzte und verzehrte mich gleichermaßen nach der Fürsorge der zwei Menschen um mich herum und versuchte dabei zwanghaft die Tage zu genießen.

Ich hatte mich verändert und war erstaunt darüber gewesen es tatsächlich als Letzter registriert zu haben. Ich konnte mich nicht mehr an dem Nichts, das doch zugleich auch alles darstellte, erfreuen. Das Internatsleben gestattete uns kaum eine freie Minute. Nur am Abend durften wir wir selbst sein. Eingesperrt in unseren Zimmern, durften wir die wenigen Augenblicke vor dem Einschlafen uns selbst widmen. Dies konnten sie bislang noch nicht verhindern, doch wenn sie es könnten, so würden sie es tun um uns mit ihrer Lethargie weiter zu infiltrieren.

Ich wusste nichts anzufangen mit meinen freien Tagen zu Hause. Ich hatte es verlernt und war ein anderer geworden. Ich las zu Hause weiterhin in meinen Schulbüchern, als gehörte dies zu meinen täglichen Pflichten. Ich versuchte den Rhythmus aus dem Internat nach Hause zu übertragen. Ich wollte um dieselbe Zeit essen, mich waschen und sogar meine braune Uniform zog ich nach einigen Tagen wieder an.

Ich war ein kleiner achtjähriger Mensch geworden, glücklich in der Masse unterzugehen. Ich fühlte mich mächtig und gleichermaßen stolz, mit meiner Uniform meine Zugehörigkeit demonstrieren zu können.

Nach zwei Wochen fing ich an, nach dem Mittagessen, welches ich nur noch wie im Internat auch um Punkt 12.20 Uhr einnahm, spazieren zu gehen. Im Internat durften wir unsere Runden auf dem weiten Gelände, welches nicht sichtbare Grenzen hatte, drehen. Ich schlenderte die Straßen in meiner näheren Umgebung auf und ab. Die Leute, die mich kommen sahen, behandelten mich besonders freundlich. Ein junger Mensch in Uniform, ein beliebtes Fotomotiv dieser Zeit. Die Erwachsenen schätzten es, wenn sie ihren Nachwuchs so heranwachsen sahen.

Eines Tages sah ich aus der Ferne, am anderen Ende der Allee, die ich täglich beschritt, eine Person, deren Habitus mich kurz inne halten ließ. Kein Zweifel. Je näher ich dieser Person kam, desto klarer konnte ich Helena erkennen. Ihre dunklen Haare, ein tiefes Braun, welches sogar ihre dunklen Augen verblassen ließ, fielen mir sofort auf. Helena zog mich von Anfang an in ihren Bann.

Es gab nicht viele dunkelhaarige Frauen zu jener Zeit. Die meisten, taten wie Mittelmaß es vorschlug, und trugen blond gefärbte Haare in den verschiedensten Nuancen. Aschblond, weißblond, wasserstoffblond, platinblond, dunkelblond, die Masse bot an, was Frauen zu brauchen glaubten.

Dunkelhaarig fiel automatisch auf in der Masse der Blondgefärbten.

Viele Jahre später verhielt es sich genau umgekehrt. Immer schon war es in dieser Stadt möglich gewesen an den Frauen der Masse einen vollzogenen Wechsel unter den Stadtvätern auszumachen.

Sie war größer als ich gewesen und in dem Fach Leibesübungen lief sie meistens auch schneller als ich. Hendrik konnte knapp mit ihr Schritt halten, er war jedoch auch der weitaus zähere Typ von uns beiden gewesen. Immer schon. Auch damals.

Wir kamen uns auf dieser Allee immer näher. Ich war stolz in Uniform zu sein und ich hoffte so Eindruck auf sie machen und mit ihr ein Gespräch beginnen zu können. Lächelnd ging ich schnellen Schrittes auf sie zu, jederzeit bereit einige ihrer Wörter zu erwidern. Auch ihr Schritt wurde immer schneller, immer zielstrebiger ging sie auf mich zu, um schließlich einfach an mir vorbei zugehen.

Sie gab mir kein Zeichen des Erkennens. Ich blieb etwas verdutzt stehen, roch noch an ihrem Windhauch, den sie verursachte, und sah ihr nach. Das war sie also: meine erste Begegnung mit Helena außerhalb der Institution. Zumindest konnte ich jetzt sicher sein, mir nicht nur eingebildet zu haben sie schon in der Nähe meines Elternhauses gesehen zu haben. Sie ging den Weg nach Hause, während ich mich davon entfernte. Im Weitergehen musste ich lächeln. Wagte sie es denn nicht mich anzusprechen, da ich gänzlich Mittelmaß war? Ich nahm mir fest vor, sie das nächste Mal zur Rede stellen zu wollen. Plötzlich traf mich etwas am Rücken. Ich blieb erschrocken stehen und sah einen kleinen Stein auf dem Boden liegen. Helena ging noch immer weiter, jetzt schon mehr als 15 oder gar 20 Meter von mir entfernt. Sie konnte nicht geworfen haben.

Denjenigen, der mich adoptierte, wie ich von meiner Mutter erfahren hatte, sah ich in dieser Zeit kaum noch. Er reiste viel herum, wie man mir mitteilte. Die Bezirke riefen ihn und er folgte den Rufen. Es gab nur noch wenige, wirklich essenzielle Arbeiten zu verrichten, da die meisten Verrichtungen und Arbeiten mehr dazu dienten das Volk in Bewegung zu halten. Dieser Mann, der mich als kleinen Menschen adoptiert hatte, war laut Erzählungen meiner Mutter allerdings wirklich ein geschäftiger Mensch gewesen. Er arbeitete in der gesamten Stadt. Er muss sehr strebsam gewesen sein, stelle ich mir vor, denn er arbeitete unentwegt. Jedes größere Vorhaben, dessen Verwirklichung er umzusetzen hatte, bot anfangs Hunderten Lemmingen Arbeit. Zu Beginn brachte er an jedem Ort, in jedem Bezirk der Stadt, den er aufsuchte, die Wirtschaft zum Florieren. Er benötigte die Arbeitskräfte um seine Maschinen aufstellen zu lassen.

Die Menschen von Mittelmaß glaubten nicht an die Vorstellung ersetzbar zu sein. Doch immer wenn eine Maschine mehr den Dienst übernahm, den doch gerade sie selbst erst vor wenigen Stunden versehen hatten, wussten sie, wie dumm sie wieder einmal gewesen waren. Viel schlimmer noch, sie nahmen dies als gegebenen Umstand hin.

War nach Wochen und Monaten des Schuftens die Arbeit erledigt, meist dann, wenn die Lemminge sich an den regelmäßigen Verdienst gewöhnt hatten, zog er weiter, den nächsten Rufen folgend und um die nächsten täuschen zu können. Die materielle Verarmung der übrig gebliebenen Lemminge, die immer auch eine Verarmung und schließlich eine Verrohung der Seelen nach sich zog, nahm er kaum zur Kenntnis. Dies entzog sich seinem Blick, den er stets immer nur auf die vor ihm liegende Arbeit gerichtet hatte.

Die Stadt unterstützte die vielen Lemminge in ihren kleinen Ein-Zimmer-Wohnungen, die sie zu mehrt bewohnen mussten. Die Masse also ließ sich täuschen und anstatt aufmüpfig zu reagieren, anstatt die Welt der Arbeit auf den Kopf zu stellen, dankten sie es den Parteimitgliedern, indem sie ehrfurchtsvoll jedwede, auch noch so kleine Unterstützung gierig an sich nahmen. Sie begaben sich in Abhängigkeit, ohne dies auch jemals als solche zu begreifen, ja schlimmer noch, sie begriffen diese Abhängigkeit als Großzügigkeit und gelebte Solidarität. Ihre Wahlstimmen galten immer der Partei, eine andere Abzweigung, ein anderer Weg, eine Alternative bedeutet nichts, außer die große Angst vor dem Unbekannten.

Der Mann, der durch die Täuschung anderer sein Geld verdiente, ich sah ihn kaum in meinem Leben und er kümmerte mich auch nicht weiter. Als dieser mir fremde Mann dann einmal starb, es ist schon recht lange her, da wunderte ich mich, mit welchem Zufall wir alle auf dieser Welt, in diesem System zueinander finden. Die Würfel im Universum, die über uns entscheiden, wem mögen sie nur gehören?

Die sechs Wochen vergingen schnell und ich freute mich schon auf die nächste Institution in meinem Leben. Ich dachte an Hendrik und hoffte darauf wieder mit ihm in ein Zimmer eingeteilt zu werden. Was er wohl so treiben würde, wie er die Tage verbringen würde, fragte ich mich manches Mal. Wir hatten einen guten Kontakt zueinander aufgebaut, doch damals in den Ferien kam mir zum ersten Mal deutlich in mein Bewusstsein, wie wenig ich eigentlich von ihm kannte. Noch nicht einmal seine Adresse wusste ich. Ich kannte damals niemanden. Meine Mutter und deren Mutter waren im Grunde genommen die einzigen Menschen, die ich näher kannte. Dieses Gefühl ließ mich innerlich ein klein wenig erschaudern. Doch ich schob es beiseite, immerhin konnte ich mir sicher sein, die Massen um mich herum zu kennen. Wir alle waren eine Bewegung und als Teil des Ganzen zu sehen.

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