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Eine Stunde später packten sie das Angelzeug zusammen, verabschiedeten sich von ihrem neuen Anglerfreund und stiegen ins Auto. Unterwegs bat der Sohn um Erlaubnis, zu einem einige Meilen entfernten Park zu radeln, wo sich ein paar seiner Freunde trafen. Um seine Sicherheit besorgt, hatte sie ihm das bisher verboten. Heute jedoch hörte sie ihm aus einem neuen Blickwinkel zu. Am Pier erlebt zu haben, wie er eine für sie fremde Sprache meisterte und damit so leicht einen neuen Freund gewann, ließ sie erkennen, dass sie vielleicht ihr eigenes Urteil überdenken sollte. Also teilte sie ihm während des Gesprächs ihre Sorgen mit. Sie bat ihn, einige Sicherheitsregeln zu beachten, und er war damit einverstanden. Daraufhin erlaubte sie ihm, in diesen Park zu radeln, wann er wollte. Zu Hause angekommen, war ihr Sohn guter Laune und ja, auch er änderte sein Verhalten. Er räumte aus freien Stücken die Küche auf, etwas zuvor nie Dagewesenes. Die Mutter wollte ihn von nun an nie mehr als „ihren kleinen Jungen“ betrachten und versprach bald eine Wiederholung der Wunschzeit.

Wenn Sie regelmässig Wunschzeit anbieten

Sobald Sie Ihrem Kind regelmäßig Wunschzeit ermöglichen, werden Sie es besser kennenlernen. Es zeigt Ihnen seine Sicht der Welt und wie es sich fühlt. An folgenden Zeichen werden Sie vermutlich erkennen, dass sich Ihr Kind in Ihrer Gegenwart sicherer fühlt:

Vielleicht werden Sie auf die Probe gestellt. Ihr Kind sucht sich vielleicht Spiele aus, die Sie langweilig oder lästig finden. Dabei ist ihm schon irgendwie bewusst, dass es Sie damit aus Ihrer Komfortzone holt. Aber wenn Sie mitspielen, wird Ihr Kind sehr ermutigt. Sie können mit Ihrem Widerwillen konstruktiv umgehen, indem Sie zum Beispiel auf humorvolle Weise protestieren. Angenommen, Ihr Kind verspritzt Wasser auf dem Küchenboden, dann können Sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und rufen: „Huch! Hier regnet’s ja! Was ist denn da los?“ Ihr Kind wird lachen, weil Ihre Reaktion seine Anspannung reduziert, und das Spiel geht nun erst richtig los! Das Vergnügen Ihres Kindes angesichts Ihres heraussprudelnden Gezeters wird die zwei Minuten Trockenwischen nach dem Timer-Signal voll aufwiegen. Vielleicht wird es dann sogar mithelfen. In Kapitel 6, Ganz-Ohr-Spiel, erfahren Sie mehr darüber, wie Sie Ihr Kind mit spielerischem Protest zum Lachen bringen können.

Ihr Kind erkundet vielleicht neue Beschäftigungen oder ein neues Gebiet. Geborgen in der Anwesenheit eines aufmerksamen Erwachsenen, testen Kinder beispielsweise gerne ihre körperlichen Fähigkeiten. Es probiert vielleicht, wie man auf verschiedene Arten aufs Bett springen kann, quetscht sich ins winzigste, noch auffindbare Versteck, läuft so weit wie noch nie oder watet bis zu den Knien in ein nahe gelegenes Schlammloch. Ihr Einverständnis ermutigt es zu intensiven Ganzkörper-Lernerfahrungen.

Ihr Kind wirft vielleicht wichtige Themen auf. Ihre herzlich entspannte Haltung ermöglicht es dem Kind, sich in geborgener Atmosphäre unangenehmen Erlebnissen zu stellen. Wenn es zum Beispiel kürzlich eine schmerzhafte Spritze bekommen hat, gräbt es in der Küche vielleicht die Bratenspritze aus und verpasst Ihnen im Spiel eifrig eine Spritze nach der anderen. Wurde Ihr Kind in der Schule ausgeschimpft, spielt es vielleicht „Lehrer“, bestimmt über Sie und schickt Sie ins Time-out. Sie können spielerisch um Gnade flehen, wenn Ihr Kind die mächtigere Rolle einnimmt. Seien Sie nicht zu ernst – schließlich ist es ein Spiel! Und sobald Ihr Kind herzhaft lacht, baut es eifrig Spannung ab.

Ihr Kind erweist Ihnen vielleicht größere Zuneigung. Ihnen fallen vielleicht einige positive Veränderungen auf wie wachsende Zuneigung, Zuversicht und Lebensfreude, auch erzählt Ihr Kind vielleicht öfter, was es denkt, und zeigt, was es kann. Vielleicht wünscht sich Ihr Kind sogar noch mehr von Ihrer heilsamen Aufmerksamkeit. Daher muss ich Ihnen leider auch sagen, dass Abhängigkeitsgefühle oder scheinbar überwundene Ängste Ihres Kindes erneut auftauchen können. Vielleicht ärgern Sie sich im Glauben, das wäre ein Rückschritt. Aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall! Inzwischen fühlt sich Ihr Kind bei Ihnen so geborgen, dass es Sie bittet, ihm bei noch Unerledigtem zu helfen.

Ihr Kind reagiert vielleicht am Ende der Wunschzeit aufgebracht oder kurz danach. Sich bei Ihnen geborgener zu fühlen heißt auch, dass verdrängte Gefühle leichter an die Oberfläche steigen. Rechnen Sie damit. Wenn Sie theoretisch eine halbe Stunde für Ihr Kind freihalten können, bieten Sie ihm erst einmal zehn Minuten Wunschzeit an. Falls es am Ende völlig am Boden zerstört ist, weil die Zeit abgelaufen ist, zeigen Sie ihm Ihre Liebe über Ihr Zuhören. Versuchen Sie nicht, das Problem zu lösen. Tatsächlich braucht Ihr Kind diese kleine Enttäuschung, um lang angestaute Gefühle loszuwerden. Wenn Sie Ihrem Kind mehrmals zugehört haben, wird sein seelischer Nachholbedarf geringer und es wird fähig, das Ende der Wunschzeit ohne Protest zu akzeptieren.

Allmählich werden Sie mit Hilfe der Wunschzeit die Körpersprache und Signale Ihres Kindes genauer deuten lernen. Hier schildert eine Mutter, welche Veränderungen ihr auffielen, als Sie die Wunschzeit in ihr Familienleben integriert hatte:


Als ich gerade damit angefangen hatte, mochte ich die Wunschzeit überhaupt nicht – ich empfand es als eine lästige Pflicht. Doch mit der Zeit gefiel mir die Wunschzeit mit meinen Mädchen immer besser.

Ich erkannte häufiger bestimmte Muster in ihrem entgleisten Verhalten. Fast konnte ich vorhersagen, wann und weswegen es Zoff geben würde. Ich fühlte mich auf völlig neue Weise in meine Kinder ein. Es war einfach schön.

Besuchten wir beispielsweise Veranstaltungen, bei denen die Mädchen mit anderen Kindern spielten und wir Erwachsenen uns unterhielten, bemerkte ich, dass die Kinder austickten, sobald alles vorbei war. Aber während dieser Treffen spielten sie fröhlich und ausgelassen. Bevor wir die Wunschzeit kennen lernten, hatte ich ihre anschließenden Wut- und Heulanfälle nie einordnen können. Aber bald erkannte ich, dass die Mädchen während dieser Veranstaltungen zu uns Eltern die Verbindung verloren. Es leuchtete ein, dass sie sich von uns abgetrennt fühlten, da wir uns mehrere Stunden meist ohne sie unterhielten. Zwar hielten wir uns augenscheinlich „gemeinsam“ am selben Ort auf, taten aber eben nichts Gemeinsames.

Also schob ich vor und nach solchen Festen oder Unternehmungen mit vielen Menschen wenige Minuten Wunschzeit ein. Das hatte auf unsere gemeinsame Zeit nach den Veranstaltungen große Auswirkungen! Eigentlich ganz einfach - und doch war mir diese Lösung lange nicht eingefallen.

Zeit für die Wunschzeit erübrigen

Die Zeitfrage trifft bei Eltern eine empfindliche Stelle! Fast jeder von uns erlebt sich unter Druck. Aber es gibt keine Regel, die vorschreibt, wie lange die Wunschzeit dauern soll, oder wie man sie in einer Familie mit mehreren Kindern durchführt. Wenn Sie sich verzweifelt fragen, wie Sie diese Zeit erübrigen sollen, dann suchen Sie sich einen guten Zuhörer. Das wird Ihnen helfen. Sprechen Sie mit ihm darüber, was in Ihrem Leben gut läuft und was schwierig ist. Lassen Sie Gefühle zu, und wenn Ihnen danach ist, dann fluchen und schimpfen Sie über Ihren Stress. Wenn Sie das Gefühl haben, dass niemand Ihre schwierige Situation versteht, fällt das Probleme-Lösen nicht leicht. Ihren Gedanken und Gefühlen in Anwesenheit eines herzlichen und aufmerksamen Zuhörers freien Lauf zu lassen, wird dagegen einiges bei Ihnen in Gang bringen und die daraus folgenden Erkenntnisse sind Ihre eigenen – kein noch so kluges Buch kann einen aufmerksamen Zuhörer ersetzen! Und Sie bekommen die Sauerstoffmaske zuerst aufgesetzt. Dann und nur dann können Sie Ihrem Kind beistehen.

Abgesehen davon, bieten manche Eltern jeden Morgen fünf Minuten Wunschzeit an und wecken dafür ein Kind früher als die anderen auf. Manche planen Wunschzeit samstags oder sonntags ein, wenn sich ihre Lebensgefährten um die übrigen Kinder kümmern können. Ich als Alleinerziehende lud ein- oder zweimal pro Woche nach der Schule einen gemeinsamen Freund meiner Söhne ein. Der spielte abwechselnd mit einem meiner Jungs, während der jeweils andere seine Wunschzeit bekam. Nachdem meine beiden Söhne mit Wunschzeit versorgt waren, konnten sie gut miteinander spielen, während nun der Freund ebenfalls in den Genuss derselben Wunschzeitdauer kam. Das machte ihn fast zu einem Familienmitglied.

Eine Mutter mit zwei Arbeitsstellen sagte zu Ihrem Kind: „Wenn wir zum Kindergarten laufen, darfst du machen, was du willst! Das ist deine Wunschzeit.“ Dann strahlte sie ihr Kind an und ihm fiel jeden Tag Neues ein, um von ihrer Aufmerksamkeit zu profitieren. Zwischen den beiden wuchs das Gefühl der Verbundenheit im gleichen Maße wie die Kooperation des Kindes. Was für eine elegante Lösung bei extremem Zeitdruck! Regelmäßige Wunschzeit ist einerseits der Schlüssel zu Aufbau und Pflege einer engen Verbundenheit zu Ihrem Kind, andererseits kann sie immer auch strategisch zur Erleichterung bei besonderen Problemen eingesetzt werden. In Teil III, Lösungen für Herausforderungen im täglichen Leben, lesen Sie von Eltern und Kindern, denen bei folgenden und vielen ähnlichen Problemen Wunschzeit zum Segen wurde: zum Beispiel bei Trennung, Aggression, Angst, Zank unter Geschwistern und Kooperationsthemen. Diese Erfahrungsberichte werden Sie ermutigen und dennoch wird Ihre Erfahrung einzigartig sein. Ihr Kind hält Gutes für Sie bereit. Also legen Sie los. Schlagen Sie das Buch zu und geben Sie der Wunschzeit eine Chance!

KAPITEL 4


Bleib-Ganz-Ohr

 

Wir Eltern wünschen uns wohl mit am meisten, es zum Besseren wenden zu können, wenn die Kinder harte Schläge einstecken müssen. Wir wollen wirklich helfen, wenn sie verletzt sind. Und versuchen es auch. Was wir dann aber tun, beendet nicht immer den Schmerz. Wir beschwichtigen unser Kind und bringen die Dinge in Ordnung, aber es bleibt oft trotzdem betrübt. Oder wir versichern ihm vielleicht, dass es keine Angst zu haben braucht, aber unser Kind kommt einfach nicht dagegen an.

Bleib-Ganz-Ohr heißt ganz einfach, dem Gefühlsausbruch Ihres Kindes von Anfang bis Ende zuzuhören. Sie begegnen Ihrem Kind aufgeschlossen und halten mit ihm so lange durch, bis es sich wieder erholt. Indem Sie ganz Ohr bleiben, ermöglichen Sie Ihrem Kind, Resilienz aufzubauen. Ihr Zuhören wird ihm nach einem herben Schlag helfen, wieder die Fassung zu gewinnen: Wenn der Hund die neue Marienkäfer-Tasche zerfetzt hat; wenn die Freundin sagt, sie möchte heute mit einem anderen Kind spielen; wenn Ihr Kind vom Rad stürzt und nicht mehr aufsteigen will. Bleib-Ganz-Ohr wird allmählich auch jenen ermüdenden Alltagsknatsch reduzieren, der an Ihrem Seelenfrieden nagt. Wenn Sie ganz Ohr bleiben, nehmen Sie Abstand von schnellen Lösungsvorschlägen. Stattdessen trauen Sie Ihrem Kind zu, dass es sich wieder erholt und die Sache selbst in Ordnung bringt. Auch halten Sie sich mit Belehrungen zurück: Sie unterstützen Ihr Kind beim Auflösen seiner Erregung, sodass seine Psyche besser funktioniert als vorher. Sie werden zuhören, weil es Verbundenheit schafft und Ihr Kind Ihre Fürsorge spüren kann. Sie werden merken, dass Zuhören ein wirkungsvolles Heilmittel ist, wenn Ihr Kind weint, einen Wutanfall hat oder vor Angst außer sich ist.

Wenn Sie ganz Ohr bleiben, dann segeln Sie mit Ihrem Kind durch seine von Gefühlsstürmen aufgewühlte See. Sein kleines Boot wird hin- und hergeworfen, Sie steigen zu und lassen Ihre Hand ruhig auf dem Steuerruder liegen. Ihr Kind fühlt sich verloren, Sie aber raunen ihm zu, dass bald der sichere Hafen auftaucht. Sie bleiben in der Nähe und sorgen dafür, dass ihm nichts geschieht, während in ihm der Aufruhr tobt. Wenn Ihr Kind sich ausgeweint oder seinen Wutanfall beendet hat, wird es merken, dass Sie schon die ganze Zeit bei ihm waren. Durchdrungen von einem tiefen Zugehörigkeitsgefühl, wird es sich entspannen. Die Heilung der Gefühle, die Ihr Kind aus der Fassung gebracht haben, wird zu einem Gemeinschaftswerk werden.

Bleib-Ganz-Ohr wird Ihnen das Setzen vernünftiger Grenzen erleichtern. Es ist eine hochwirksame Strategie für jene Momente, in denen das Kind auf Ihr „Nein“ weiterhin mit hartnäckigem „Doch“ reagiert. Mit seiner Kraft werden die giftigen Gefühle aufgelöst, die Ihrem Kind einreden, Sie stünden nicht auf seiner Seite, taugten nichts als Eltern und wären die schrecklichsten Eltern überhaupt.

Was zeichnet Bleib-Ganz-Ohr aus?

Verständlicherweise reagieren Eltern auf Weinen oft ungehalten und versuchen, ihr Kind mit allem Erdenklichen zur Ruhe zu bringen. In meiner Familie hieß die Standarddrohung: „Wenn du nicht gleich mit dem Geheul aufhörst, gebe ich dir Grund dazu!“ Dies wurde durch Prügel bekräftigt. Andere Eltern überlegen vielleicht kurz, ob ihnen das Weinen begründet erscheint, und wenn nicht, darf geschimpft werden.

Am eher nachsichtigen Ende des Elternspektrums werden die Kinder gewiegt, geschaukelt oder auf dem Arm gehalten, bis die Tränen versiegen. Dann gibt es noch den Dauerbrenner: Time-out. Oder dem Kind wird eingeredet, dass es gar keinen Grund zum Weinen hat. Ganz annehmbar finden es die Kinder, wenn sie mit einer attraktiven Beschäftigung oder Süßigkeiten abgelenkt werden. Und schließlich die kostspieligste Möglichkeit: Das Gewünschte, Verlorene oder Unbefriedigende wird einfach ersetzt.

Leider funktioniert keine dieser Strategien sehr gut. Zwar schlagen wir uns irgendwie damit durch, aber oft erleben wir mit unseren Kindern dann Tag für Tag „immer dasselbe Theater“. Über die Jahre zermürbt uns das.

Bleib-Ganz-Ohr ist insofern einzigartig, weil Sie mit der angeborenen Neigung Ihres Kindes, zu weinen, wütend zu werden und angsterfüllt zu schreien, zuhörend mitgehen. Weshalb? Weil genau das Ihnen beiden hilft, sich miteinander zu verbinden, und erst dann kann Ihr Kind die innere Balance zurückgewinnen!

Ich stellte die Strategie Bleib-Ganz-Ohr in einem Einführungskurs für Eltern von Kleinkindern vor. Da meldete sich eine Mutter: „Ich habe mein Kind so satt, ich mag heute Abend nicht mal nach Hause gehen. Seit Monaten gibt es Zoff! Schon morgens nach dem Aufstehen mag sie ihr Frühstück nicht. Sie zieht sich nicht an. Täglich komme ich zu spät zur Arbeit, weil sie wegen jedem Dreck Theater macht. Bevor ich sie ins Auto setzen kann, muss ich ihr die Finger gewaltsam vom Gartentor lösen, an das sie sich festgekrallt hat. Beim Abholen ist es das Gleiche. Gejammer und Bocken bis zur Schlafenszeit. Da werde ich ihrem Geheul doch nicht zuhören! Davon habe ich schon genug.“ Sie wirkte unglücklich, als sie den Kurs verließ.

In der Woche darauf kehrte sie jedoch zurück und erzählte: „Hätten Sie mir letzte Woche gesagt, meine Tochter würde sich in einen Engel verwandeln, hätte ich Sie ausgelacht. Aber am Freitag bekam ich die Grippe. Weil ich sowieso zu Hause war und nicht die Kraft hatte, mich das ganze Wochenende mit ihr herumzuärgern, dachte ich mir, ich könnte genauso gut diesen Bleib-Ganz-Ohr-Kram ausprobieren. Und das tat ich. Das ganze Wochenende saß ich im Schlafanzug herum. Jedes Mal, wenn sie aufgebracht war, setzte ich mich mit ihr auf den Boden und hörte ihr zu. Für irgendetwas anderes war ich zu krank. Samstag und Sonntag weinte sie sich ein paar Mal bei mir aus. Dann, am Montagmorgen, hüpfte sie zum Frühstück herein, aß es auf, zog sich an und konnte kaum die Abfahrt abwarten. Beim Abholen ging es ihr noch immer gut. Heute Morgen genauso! Küsse und Umarmungen! Ich fasse es nicht!“

Bereits diese eine Veränderung – die heftigen, auffälligen Gefühle Ihres Kindes willkommen heißen und unterstützen - kann für Sie und Ihr Kind eine riesige Wirkung haben. Ihr Kind wird allmählich besser schlafen, essen, abwarten, bis es an die Reihe kommt, besser mit seinen Geschwistern spielen und große und kleine Widerstände überwinden. Die traditionellen Methoden brauchen Sie nicht mehr.

Und langfristig wird sich Ihnen Ihr Kind vermutlich selbst in der Adoleszenz noch nah fühlen. Es wird seine Welt erweitern, aber Sie werden auch einen Platz darin bekommen. Ihr Kind wird viele Male getobt und dabei schlechte Gefühle aus seinem System gejagt haben und wird somit stabiler sein und weniger dazu neigen, risikoreich zu leben oder zu rebellieren.

Wenn Sie ganz Ohr bleiben, definieren Sie schließlich auch Fehlverhalten neu. Jemanden schlagen, verletzen, etwas grapschen, bocken und Süßigkeiten aus dem Küchenschrank mopsen, rechtfertigt weiterhin das Setzen einer Grenze. Aber Weinen, Wutanfälle und hässliche Worte während des Abschüttelns negativer Gefühle landen nicht mehr im Topf schlechten Benehmens. Sie bekommen ihren eigenen strahlenden Behälter mit der Aufschrift: Heilungsprozess. Dem fügen Sie nur noch das Zuhören bei. Da kommen Sie dann ins Spiel.

Viele Eltern erstaunt es, dass das Hören der leidenschaftlichen Gefühle Ihrer Kinder kein schlechtes Benehmen fördert. Vielmehr wird dadurch die Spannung aufgelöst, die schlechtes Benehmen erst entstehen lässt. Durch das Zuhören wird dem Kind sozusagen ermöglicht, seine Emotionen „auszuscheiden“, eine Chance, übriggebliebene Gefühle aus verletzenden Situationen hinauszubefördern. Dem Kind diese Systemreinigung zu gestatten, wird seine Resilienz fördern und das Gefühl der Verbundenheit zu Ihnen stärken.

Zwar toleriert dieser Ansatz das Freisetzen von Emotionen, erlaubt aber kein entgleistes Verhalten. Sie werden lernen, rasch einzugreifen, wenn Ihr Kind zeigt, dass es sich nicht mehr regulieren kann. Ruhig werden Sie dazwischengehen, um Inakzeptables zu verhindern. Das könnte heißen, die Hand auf den Arm des Kindes zu legen, sobald es ihn zum Werfen erhebt, oder ihm den Arm um den Leib zu legen und es von der Schwester wegzuziehen, wenn es sie an den Haaren zu zerren versucht. Das ist keine Bestrafung. Damit machen Sie nur die Situation für alle Beteiligten sicher und hören anschließend Ihrem Kind zu, damit es seine eigenen Gefühle wahrnimmt und sie loslassen kann. Eine sinnvolle Grenze gefolgt von Bleib-Ganz-Ohr unterstützt das Kind darin, wieder ins Spielen zurückzufinden und seine Emotionen regulieren zu können. Und mit der Zeit wird das Übermaß zurückgehaltener Gefühle in ihm abgebaut, sein Selbstbewusstsein schnellt nach oben und es glänzt mit Kreativität und Forschergeist.

Wann ist Bleib-Ganz-Ohr angebracht?

Wenn Sie die Wahl haben, dann versuchen Sie diese Strategie des Zuhörens erstmals, wenn Sie sich mit Ihrem Kind allein in einer geschützten Umgebung aufhalten. Denn Erwachsene sind ja nicht gerade für ihre Toleranz gegenüber weinenden Kindern bekannt. Sie werden sich aber die Freiheit wünschen, dem Kind Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, und dabei wahrzunehmen, wie es Ihnen selbst die ersten Male geht.

Hier folgen einige Situationen, in denen Bleib-Ganz-Ohr nützlich ist:

• Wenn Ihr Kind wegen eines blauen Flecks oder Kratzers weint.

• Bei einem tränenreichen Abschied.

• Wenn es weint, weil ihm etwas verwehrt wird.

• Wenn es etwas schaffen will und dabei plötzlich einen Wutanfall bekommt.

• Wenn es vor lauter Angst in Tränen ausbricht.

• Wenn es angespannt und ärgerlich ist.

• Wenn seine Gefühle verletzt wurden.

Das sind längst nicht alle affektbeladenen Situationen in denen Bleib-Ganz-Ohr von Nutzen ist, aber bestimmt haben Sie verstanden, worum es geht.

Der Bericht einer stellvertretenden Schulleiterin zeigt, wie Bleib-Ganz-Ohr bei einem jungen Menschen sogar in schulischer Umgebung große Veränderung bewirken kann. Sie arbeitet schon lange in einer einkommensschwachen, seit Generationen von Bandenkriminalität gebeutelten städtischen Gemeinde.


Eineinhalb Jahre hatte ich mit einem Schüler der Junior Highschool gearbeitet, der schon mehrmals wegen kleinerer Verhaltensauffälligkeiten zu mir geschickt worden war. Jedes Mal machte er völlig dicht und bezeichnete sich als einen „schlechten“ Jungen. Ich glaube nicht an so etwas, also versicherte ich ihm immer wieder, dass mir viel an seinem schulischen Fortschritt lag und ich von seiner Leistungsfähigkeit überzeugt war.

Bei nahezu jedem Besuch in meinem Büro hatte er etwas zu beweinen. Eines Tages fragte ich, was ihm wirklich zu schaffen machte, und weil ich mit Hilfe von Bleib-Ganz-Ohr allmählich sein Vertrauen gewonnen hatte, gestand er mir seine Befürchtung, niemand würde ihn lieben, und zählte angebliche Beweise dafür auf. Ich hörte ihm zu und beteuerte, er sei wertvoller, als er selbst es wüsste. Auch traf ich mich mit seiner Mutter und hörte ihr zu. Als sich die Gelegenheit ergab, erklärte ich ihr die Wunschzeit und ermutigte sie, damit zu experimentieren, was sie auch tat. Bis zum März letzten Jahres hatte sich bei der Mutter viel getan. Sie hatte eine positive Einstellung gewonnen, die auf den Jungen abfärbte.

Nach einigen Bleib-Ganz-Ohr-Sitzungen mit mir und Wunschzeit mit seiner Mutter konnte der Jugendliche spüren, dass er geliebt wurde, und erreichte gute Schulleistungen. Im März dieses Jahres erzählte er mir stolz, dass er seinen Notendurchschnitt deutlich verbessert hatte. Auch seine Körperhaltung hatte sich verändert. Statt missmutig mit hängenden Schultern dazustehen, begann er sich aufzurichten und zu lächeln. Ab und zu umarmte er sogar einen Lehrer.

Im Juni erfuhr er, dass er zum Jahresabschluss eine sehr begehrte Auszeichnung bekommen würde, die pro Jahrgangsstufe nur einem Schüler oder einer Schülerin für „besonders gute Fortschritte“ verliehen wurde.

Es dauerte anderthalb Jahre, doch mit einer großen Portion Bleib-Ganz-Ohr meinerseits und Wunschzeit mit seiner Mutter gelang es uns, Vertrauen herzustellen und eine sehr positive Entwicklung in Gang zu bringen. Dies führte zu bleibender Veränderung bei diesem jungen Mann, der nun eine weitaus vielversprechendere Zukunft vor sich hat.


Wie geht Bleib-Ganz-Ohr?

 

Das Ziel besteht darin, Ihr Kind in seinem aufgewühlten Zustand mit freundlicher Aufmerksamkeit und Unterstützung zu umgeben. Es wird Ihnen zeigen, wenn es so weit ist. Ihr Kind wird in Tränen oder einen Wutanfall ausbrechen, vor Angst schreien oder vor Zorn beben. Vermitteln Sie Ihrem Kind Halt, während es vor Emotionen überquillt. Hören Sie zu. Vertrauen Sie darauf, dass Ihr Kind gerade genau das Richtige tut, um wieder zu sich kommen zu können. Die ersten Male wird es sich wie die verrückteste Idee anfühlen, die Sie jemals ausprobiert haben. Aber konzentrieren Sie sich auf Ihr Kind und bieten Sie ihm Ihre liebevolle Zuwendung an. Seine Psyche funktioniert; es hat einen gesunden Instinkt! Hier folgt genauer, was zu tun ist:

Nähern Sie sich und gehen Sie in Augenkontakt. Wendet sich Ihr Kind ab, so hören Sie weiter zu und bieten ihm nach einer Weile nochmals Augenkontakt an. Erinnern Sie es sanft an Ihre Anwesenheit: „Ich bin genau hier, mein Schatz. Schau, ein Küsschen für die Finger.“ Sie brauchen nicht drängen. Wenn es Augenkontakt aufnimmt, aber noch nicht fertig ist, wird es jetzt heftiger weinen. Sie zu sehen ist beruhigend und verstärkt den emotionalen Heilungsprozess.

Stellen Sie sich auf eine längere Sitzung ein. Bleib-Ganz-Ohr ist oft zeitaufwändig. Große Gefühle tauchen geballt auf, und es dauert, bis sie sich aufgelöst haben. Wenn Bleib-Ganz-Ohr für Sie völlig neu ist, wird Ihr Kind wahrscheinlich einiges an Gefühlen durchzuarbeiten haben.

Sprechen Sie in sanftem Tonfall, auch dann, wenn Ihr Kind Sie als schlechteste Mutter, schlechtesten Vater der Welt beschimpft. Vertrauen Sie einfach darauf, dass Sie genau die richtige Person an der Seite Ihres Kindes sind, während es diese schrecklichen Gefühle loswird.

Hören Sie zu. Sagen Sie wenig. „Mir tut leid, dass es so schwer ist“ oder „ich bin hier für dich da“ oder „Schätzchen, ich merke, dass du ganz aufgewühlt bist“, mag zwar hilfreich sein, das Zuhören ist jedoch der Schlüssel. Kim John Payne schreibt in seinem Buch Simplicity Parenting: „Je mehr Sie sagen, umso weniger hören Sie zu.“ Das sehe ich ebenso. Doch wenn Ihr Kind um sich schlägt, wird eine leise Litanei beruhigender Worte während seines Kampfes mit unsichtbaren Kräften zu seinem inneren Halt beitragen.

Sanfte Berührungen können hilfreich sein. Probieren Sie es aus. Kinder unterscheiden sich stark in ihrem Wunsch nach Berührung. Ist sie hilfreich, werden dadurch wahrscheinlich die Gefühle verstärkt. Ist sie eher fehl am Platz, hören die Kinder mit dem Weinen auf oder reagieren ärgerlich. Sie müssen Ihre Aufmerksamkeit nicht über die Berührung oder Umarmung zeigen, obwohl Ihr Kind beim Freisetzen seiner Emotionen allmählich mehr Nähe suchen wird.

Falls Ihr Kind einen Wutanfall hat, ist es meist am besten, ohne Tuchfühlung näher zu rücken, es sei denn, Sie müssen es davon abhalten, sich selbst zu verletzen. Lassen Sie Ihr Kind toben. Es braucht die Bewegung. Wenn Ihr Kind es mag, können Sie es in den Arm nehmen, wenn es fertig ist. Arbeitet es sich durch Ängste hindurch, dann wird das Im-Arm-Halten zu einer Herausforderung. Vielleicht braucht es Gerangel und Kampf mit Ihnen.

Sorgen Sie für seine und Ihre Sicherheit. In den Fängen tiefsitzender Ängste reagieren die Kinder manchmal wild und mit dem Impuls, zu verletzen. Weil Sie zuhören, macht Sie das zum Hauptangriffsziel. Der Umgang mit diesen stürmischen Reaktionen ist nicht einfach. Nützliche Hinweise bekommen Sie in Kapitel 11, Ängste auflösen, und Kapitel 12, Aggressionen überwinden.

Lassen Sie Ihr Kind entscheiden, wann es fertig ist. Die kindlichen Gefühle sind von einer Größe und Tiefe, die Sie weder ermessen noch vorhersagen können. Manchmal genügt dem Kind ein dreiminütiges Ausweinen, um hinterher fröhlich und klar zu sein. Besonders wenn Bleib-Ganz-Ohr für Sie neu ist, werden anfangs die Ausbrüche Ihres Kindes wahrscheinlich länger dauern, da es seit seiner Geburt einiges an Heilung aufzuholen hat.

Ihrem Kind zu erlauben, sich ganz und gar auszuweinen, lässt sich damit vergleichen, es ausschlafen zu lassen. Beim Weinen wie auch beim Schlafen ist die Psyche mit wichtiger innerer Arbeit beschäftigt, sozusagen mit Hausputz. Alles wird ordentlich aufgeräumt, die Batterie wird aufgeladen. Das Gehirn sortiert Informationen und speichert sie ab. Und dieser Prozess vollzieht sich in einem bestimmten Tempo, das weder Ihr Kind noch Sie bewusst steuern können. Wenn Sie Ihr Kind vorzeitig wecken, werden Sie einen aus dem Gleichgewicht geratenen kleinen Griesgram vor sich haben, der Sie den ganzen Tag immer wieder an Ihren Fehler erinnern wird. Dasselbe gilt fürs Weinen. Wenn Sie Ihrem Kind nicht bis zum Ende seines inneren Aufruhrs zuhören können, hat es zunächst keine weitere Möglichkeit, die schwierigen Gefühle aus der Tiefe seiner Psyche zu entsorgen. Diese beeinflussen jetzt das Verhalten des Kindes und signalisieren, dass in ihm nicht alles in Ordnung ist.

Falls nötig, können Sie Bleib-Ganz-Ohr dennoch kurzfristig abbrechen. Sobald Sie selbst aus der Fassung geraten, sollten Sie sogar unbedingt damit aufhören. Sagen Sie dann einfach Ihrem Kind, dass Sie zwar momentan nicht länger zuhören können, aber dafür ein anderes Mal. Danach versorgen Sie Ihr Kind mit einem Imbiss, einem Bad oder einer seiner Lieblingsbeschäftigungen. Zwar wird es dann nicht in Bestform sein, aber Sie brauchen eine Pause und die Möglichkeit, sich Ihrer eigenen Gefühle zu entledigen. Ihrem Kind wird bald etwas Neues einfallen, um die unterbrochene Heilung neu anzustoßen.

Wie können Sie sichergehen, dass Bleib-Ganz-Ohr keine Form seelischen Zwanges ist? Während Sie seinem inneren Aufruhr zuhören, spürt Ihr Kind das Schlimmste, was es an Gefühlen in sich trägt! Hat es sich schon einmal bedroht, in Panik, in der Falle, hilflos, verlassen, manipuliert oder entsetzt gefühlt, dann wird es genau diese Gefühle erneut erleben, während es die schwierigen Momente in der Geborgenheit Ihrer Anwesenheit verarbeitet. Wie vermeiden Sie, Ihr Kind dabei unabsichtlich zu verletzen?

Vier Empfehlungen werden Ihnen dabei helfen, damit Bleib-Ganz-Ohr wirklich zu einer heilsamen Partnerschaft zwischen Ihnen und Ihrem Kind führt.

Lassen Sie Ihr Kind selbst Zeit und Ort wählen. Entweder wird es Ihnen signalisieren, dass es aus dem Lot ist, indem es eine Grenze herausfordert, die den Heilungsprozess auslöst, oder es bricht ohne äußeren Anlass in Tränen oder Wut aus. All dem begegnen Sie mit Zuhören, bis Ihr Kind wieder im Einklang mit sich selbst ist.

Halten Sie zwischen sich und Ihrem Kind ein gesundes Kräftegleichgewicht aufrecht, indem sie Bleib-Ganz-Ohr mit etwa ebenso langen Phasen an Wunschzeit und Ganz-Ohr-Spiel ausgleichen. Diese Strategien, in denen das Kind führt, überlassen ihm wieder die Zügel der gemeinsamen Beziehung.

Laden Sie eigene Gefühle regelmäßig bei einem einfühlsamen Zuhörer ab. Dies vertieft Ihre Erkenntnisse, Sie entwickeln sich selbst weiter und vermeiden, Bleib-Ganz-Ohr dann einzusetzen, wenn Sie sich nur halbherzig mit Ihrem Kind verbinden können. Gehen Sie vor allem jeder Versuchung aus dem Weg, Bleib-Ganz-Ohr als Strafe oder Drohung einzusetzen.

Beenden Sie Bleib-Ganz-Ohr, sobald Sie ärgerlich werden. Wie Ihnen die Erfahrungsberichte in Teil III zeigen werden, erleben Eltern, die Bleib-Ganz-Ohr mit den anderen vier Strategien des Zuhörens ausgewogen kombinieren, bei Ihren Kindern beispiellose Verhaltensänderungen. Ein vierjähriger Junge, der nicht für sich selbst einstehen konnte, weist auf einmal ein viel älteres Kind zurecht; eine Siebenjährige entwickelt Großzügigkeit gegenüber der kleinen Schwester. Kleinkinder und Vorschulkinder gehen direkt auf Menschen oder Situationen zu, die Ihnen zuvor Angst eingejagt hatten; ein Kind fährt nach einem schmerzhaften Fahrradsturz weiter und versucht noch einmal, den herausfordernden Berg zu bezwingen, und eine Fünftklässlerin schneidet hervorragend in einem Lernprojekt ab, obwohl sie zunächst überzeugt war, es nicht zu schaffen. Solche Veränderungen stammen nicht von jungen Menschen, die sich von Erwachsenen beherrscht fühlen. Sie stammen von Kindern, die von Spannung befreit sind und reichlich gelassene Unterstützung genießen durften.