Der gefesselte Dionysos

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IV

Am nächsten Abend im Musikzimmer musste Dionysos all seine Kräfte mobilisieren um nicht aus dem Takt zu kommen. Sophia tanzte in der Mitte des leer geräumten Saals zu der feierlichen Melodie die er spielte. Bisher hatte man schlicht ein Tonband verwendet.

Sophia hatte die Rolle der unglücklich Verliebten. Ihr Schwarm war durch einen Hinterhalt im Gefängnis gelandet. Man beschuldigte ihn des Betrugs, obwohl er nur der unwissende Mittäter eines viel größeren Komplotts war. Der Hauptdarsteller war der, der die dunklen Machenschaften aufdeckte und den zwei Verliebten schließlich das gemeinsame Glück ermöglichte. Das Lied, das nun von Dionysos an den Tasten begleitet wurde, bildete das Ende des Theaterstücks und hatte das Wiedersehen des zu unrecht Verurteilten mit seiner Geliebten zum Thema.

Trotz dessen, dass es Dionysos’ erste Probe war, beherrschte er die Noten perfekt. Es war nicht sonderlich kompliziert. Zu Hause klappte es nach dem dritten Anlauf. Da er aber viel zu nervös und aufgeregt war um etwas anderes produktives zu tun, spielte er das Stück den ganzen Nachmittag.

Nun verfolgte er jede von Sophias graziösen Bewegungen, die wie ein Fluss aus ihr heraus zu fließen schienen. Ihr Gesicht hatte einen rötlichen Ton angenommen und eine Strähne ihres nach hinten gebundenen Haars klebte an ihrer Wange. Kaum jemand im Raum sah auf ihren Tanzpartner, der seine Sache nichtsdestotrotz ebenfalls sehr gut machte.

Pythagoras war begeistert. Er war nicht nur der Musiklehrer der Schule (und der einzige den Dionysos mochte), sondern leitete ebenfalls jedes Jahr die weihnachtliche Theatergruppe. Im Takt, seitlich mit Kopf und Oberkörper hin und her wippend, beobachtete er das Tanzpaar und die langen grauen Büschel seines lichten Haares flogen durch die Luft.

„Ahhhh, ganz ausgezeichnet! Jetzt ist es Zauberei!“, rief er klatschend aus als das Stück zu Ende war. „Mit Ihnen am Flügel hat das Lied erst seine Vollendung gefunden. Sehr schön, Dionysos! Ach, diese Musik, diese Musik … Aber auch Sie beide“, wandte er sich an Sophia und ihren Tanzpartner. Wild mit den Händen gestikulierend suchte er nach Worten.

„Unglaublich! Eigentlich brauchen wir gar nicht mehr zu proben … So, na dann bis nächste Woche ihr lieben Kinder. Anastasia und Sophia, ihr beiden denkt bitte an die Liste mit den Kostümen und der Deko. Aber was rede ich denn? Ihr vergesst sie ja sowieso nicht!“

Alle Schüler verkniffen sich ein Lachen über den stets überschwänglichen Pythagoras. Doch auch Dionysos war in euphorischem Zustand. Nie hätte er sich erträumt, dass Sophia eines Tages zu seiner Musik tanzen würde. Er fühlte sich wie auf einer Wolke gleitend und ihre Blicke begegneten sich. Sie atmete immer noch schwer vom Tanz und ihr Antlitz war voller Freude. Den ganzen Rückweg unterhielt er sich angeregt mit ihr und Anastasia, der Freundin die ebenfalls auf dem Schulhof dabei gewesen war, über den kommenden Auftritt einen Tag vor Heiligabend.

Über Nacht hatte es noch mehr geschneit und ganz Delphi war in eine dicke, weiße Schicht getaucht. In den Gärten und Hofeinfahrten blinkten Lichterketten die kleinen Weihnachtmänner und Engel an. So wanderten sie gemächlich im Schein der Straßenlaternen. Dionysos war extra einen Umweg gegangen um länger mit den beiden zusammen sein zu können; und überhaupt froh sich wieder einmal ausgelassen zu unterhalten. Die Nervosität in ihrer Gegenwart verschwand immer mehr und nur das wohlige Gefühl blieb übrig. Als sie schließlich laut lachend und übermütig vor Sophias Haus angekommen waren, drückte sie zum Abschied ganz sanft und flüchtig seinen Arm. Wie wundervoll und schön sie war als sie durch den Schnee zu ihrem Haus hüpfte. Träumte er wirklich nicht? War das gerade wirklich geschehen? Wie konnte sich ein hoffnungsloses Leben so schnell in ein glückliches verwandeln?

Die Frage wieso Sophia nach all den Jahren der Stille und der Trauer nun doch, und sogar so überraschend schnell, vielleicht seine Gefühle ein wenig erwidern würde, kam ihm nicht in den Sinn. Wieso sie auch stellen? Für ihn war es die Hauptsache, dass es so war!

Er sah ihr immer noch nach als sie bereits längst durch die Haustür verschwunden war.

„Kommst du?“ Anastasia war schon ein Stückchen weiter gegangen und blickte sich nach ihm um.

Wieder erfasste ihn ein Gefühl der endlosen Leichtigkeit wie er es auch auf dem Schulhof in sich gespürt hatte. Nichts und niemand, so schien es, konnte ihm im Moment etwas anhaben oder sein Leben irgendwie verschlechtern. Den Rest des Weges hörte Dionysos Anastasia kaum zu, die immer noch über das Theaterstück sprach. Erst als Sophias Name fiel, lauschte er ihren Worten.

„… und das Theater tut ihr jetzt auch sehr gut. Es lenkt sie ab.“

„Ablenken? Wovon?“ Er meinte die Antwort bereits zu kennen.

„Na von ihrer Trennung. Von Apollon. Weißt du das noch nicht?“

„Nicht so wirklich, aber man hört und sieht ja so manches. Was ist denn genau geschehen?“

Die Frage war vielleicht ein wenig zu intim und Anastasia warf ihm einen scharfen Seitenblick zu.

„Seit Monaten läuft’s nicht richtig bei den beiden. Sie liebt ihn nicht mehr. Und vor ein paar Wochen hat sie dann einen Schlussstrich gezogen.“

„Da werden die alten Leute hier aber traurig sein, wenn sie auf dem Sommerfest nicht mehr von dem perfekten Pärchen schwärmen können.“

Anastasia lachte: „Fast genau dasselbe hat Sophia auch gesagt.“

Als Dionysos selbst daheim ankam, ereignete sich noch eine äußert interessante Begebenheit vor seinem Haus, die einige Wochen lang bei den Einwohnern von Delphi für Gesprächsstoff sorgte.

Er stieg den Dodona-Hügel hinauf, immer noch bis in die Fingerspitzen hinein euphorisch.

Am liebsten hätte er durch die ganze Straße gebrüllt und jedem gesagt, dass Sophia seinen Arm berührt hatte; jedem gezeigt wie glücklich er war und welch ein Wunder das Leben hier auf Erden sein konnte. Alles lachte ihn an: der sternenklare Winterhimmel, die warme Beleuchtung in den Häusern; sogar die kahlen Bäume und Sträucher.

Vor dem Nachbarhaus hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Eine Frau mittleren Alters hatte Geburtstag gefeiert und man war gerade dabei die Gäste zu verabschieden.

Sie schreckten auf als wie aus dem Nichts ein junger Mann an ihnen vorbei sprintete, in die Luft sprang und sich mit einem verrückt klingenden Jubel-Schrei in den riesigen Schneehaufen vor seinem Haus fallen ließ.

Petros hatte, wie immer, den Hof geschippt und die Schneemassen neben der Einfahrt aufgetürmt. Darin lag Dionysos nun und wälzte sich lachend umher. Als er den großen Haufen erblickte, kamen ihm unmittelbar die Bilder aus seiner Kindheit ins Gedächtnis. Jeden Winter hatte er sich allein nur deswegen auf den Schnee gefreut um genau das zu tun. Heute wie damals. Wie wunderbar weich und kühl der Schnee war. Genau das Richtige für jemanden der bis zum Bersten mit Energie und Liebe geladen war.

„Ja, dass ist der Älteste von unseren Nachbarn“, erklärte das Geburtstagskind entgeistert und peinlich berührt ihren Besuchern. „Der war schon immer ein wenig … mmhh … eine eigene Natur.“ Ein falsches Kichern ertönte; alle standen sie da und niemand vermochte ein passendes Wort zu finden.

V

„In der Bäckerei haben sie mich heute gefragt, ob bei uns alles in Ordnung ist. Wahrscheinlich hat die ganze Straße gestern Abend aus dem Fenster geschaut. Du machst mir Sorgen, mein Junge …“ Xenia lächelte ihren Sohn trotzdem an.

„Ist doch nicht schlimm was ich getan habe, oder?“

„Nein, auf keinen Fall“, sagte sie mit gespielt gleichgültiger Stimme, während sie in den Schränken eine Vase für ihre neuen Blumen suchte. „War das Normalste von der Welt was du getan HUAAA … hör auf!“ Während sie gesprochen hatte, war Dionysos von hinten an sie heran geschlichen und hatte ihre Arme gepackt.

Noch immer war er überglücklich, doch an diesem Tag stand das gefürchtete Gespräch mit Sophisto an. Jeder Schüler der Abschlussklasse musste vor den Weihnachtsferien ein sogenanntes Orientierungsgespräch mit dem jeweiligen Klassenlehrer, also immer mit Sophisto, führen. Man besprach die Stärken und Schwächen der einzelnen Fächer und, was noch viel wichtiger war, die Zukunftspläne. Zuvor hatte man ein Dokument auszufüllen in dem das künftige Studienfach sowie die dafür in Frage kommenden Akademien definiert wurden. Ob man an einem der Etablissements zugelassen wurde hing in hohem Maße von der Empfehlung des Lehrers ab, die letzterer im Grunde hauptsächlich nach persönlichem Ermessen verfasste. Der offizielle Weg für den Zugang zu einer Akademie war zwar eine reguläre Bewerbung, doch kursierten im Hintergrund weiter fröhlich die Empfehlungsschreiben.

Dionysos hatte keine Angst vor einer negativen Bewertung (die er zweifellos bekommen würde). Ein Studium kam für ihn ohnehin nicht in Frage. Sein näherer Plan war im Musikgeschäft in Tartaros zu arbeiten. Hier muss ich anfügen, dass es sich dabei lediglich um den „offiziellen Plan“ handelte. Was er wirklich tun wollte wusste er nicht. Aber noch einmal jahrelang in einen bürokratischen Apparat eingebunden sein, der nicht nach Talenten suchte, sondern nur den Fleiß trainierte und den eigenen Willen unterdrückte, kam ihm mit Sicherheit nicht in den Sinn. Dennoch, Empfehlungsschreiben hin oder her; eine weitere Stunde in Sophistos Gegenwart versprach nichts gutes.

Um zwei Minuten vor zehn machte er sich auf zum Büro des Direktors das im ersten Stock lag. Als er die Pausenhalle im Erdgeschoss durchquerte und gerade den ersten Fuß auf die Treppe setzte, ertönte hinter ihm eine bekannte Stimme.

 

„Hab gehört du spielst jetzt mit meiner Schwester Theater.“

Es war Alastor. Wie Sophia war er gutaussehend und hatte die selben braunen Augen. Doch im Gegensatz zu ihren lag darin weder Wärme noch Güte. Meist übermütig klein zusammengekniffen ließen sie ihn in Verbindung mit seinen teuren Hemden und der dunklen Hose mit den Bügelfalten wie einen arroganten Pfau, Sprössling einer dekadenten Adelsfamilie, erscheinen; jemanden der stets nur Verachtung für seine Umwelt übrig hat. Genau diesen Blick hatte er auch jetzt aufgesetzt. Dionysos aber drehte sich um und stieg weiter die Treppe hinauf. Plötzlich wurde er am Pullover festgehalten und zurück gerissen.

„Ich sag dir das jetzt nur einmal.“ Alastor hielt ihn gepackt und war nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. „Mach ja nichts falsches oder ich mach dich so richtig fertig, hast du verstanden? Ich reiß dir deine Finger einzeln raus, dann kannst du für den Rest deines Lebens mit den Füßen Gitarre spielen … Ja, auch ich weiß von dem lächerlichen Brief, den du ihr damals geschickt hast. Ach Sophia, wie schön du bist …“ äffte er seinen damaligen Wortlaut nach. Unendliche Wut stieg in Dionysos auf. Seine Finger krallten sich in Alastors Schultern und er stieß ihn mit aller Kraft ans Treppengeländer. Der Schubser war so stark, dass Alastor beinahe hinüber gefallen und einen halben Stock in die Tiefe gestürzt wäre.

„DIONYSOS!“

Sophisto stand an der Spitze der Treppe. Und etwas in dessen Augen ließ Dionysos wissen, dass er in gewaltigen Schwierigkeiten war. Tätliche Auseinandersetzungen konnten, wenn die Umstände schwerwiegend waren, zum Schulausschluss führen und ihm war nicht klar ob Sophisto die ganze Szene oder nur seinen Stoß gesehen hatte. Vielleicht war es auch egal wie viel er gesehen hatte. Vielleicht würde er einfach die Gelegenheit nutzen und Dionysos für immer des Schulgeländes verweisen.

„Hören Sie sofort auf! Wissen Sie, dass Sie gerade jemanden in Lebensgefahr gebracht haben?“

Die meisten anderen Lehrer fahren in solch einer Situation aus der Haut und überhäufen den Übeltäter mit Schimpftiraden. Nicht jedoch Sophisto. Wie gewohnt sprach er leise und stieg ganz langsam die Treppe hinunter.

„Sind Sie in Ordnung Alastor?“

„Ja, ich denke es geht.“ Alastor tat so als sei er außer Atem und hätte gerade etwas schier traumatisches erlebt.

„Gut, dann können Sie weiter gehen. Dionysos? Sie kommen mit in mein Büro. Wir sind sowieso schon leicht in Verzug. Wir kommen dann auch direkt auf ihre Strafe zu sprechen, dann können wir uns den bürokratischen Aufwand das Empfehlungsschreiben betreffend gleich schenken.“

Naja, eigentlich war es egal. Dann warf man ihn eben gleich heute von der Schule.

„Verzeihung, Herr Direktor? Darf ich auch noch ein Wörtchen sagen?“

Pythagoras stand plötzlich am Fuß der Treppe. Ein Zucken huschte über Sophistos Gesicht. „Sicher. Natürlich dürfen Sie das.“

„Nun, ich glaube ich habe die beiden Herren länger beobachtet als Sie und nach meiner Einschätzung hat sich Dionysos lediglich gegen den anderen jungen Mann verteidigt. Alastor hat ihn nämlich zuerst bedroht und anschließend tätlich angegriffen, so dass Dionysos Schubser nur eine Verteidigungsmaßnahme, sozusagen in Notwehr, war.“

Sophisto verzog keine Miene.

„Ist das so? Nun, dann kehren Sie den Rest der Woche den Hof, Alastor. Danke … Pythagoras (Anm.: Man erinnere sich daran, dass es ein Freitag war).

Und wir gehen nun endlich in mein Büro. Wir sind nun bereits sieben Minuten in Verzug.“

Dionysos drehte sich nochmals um. Pythagoras sah ihm nach und zwinkerte ihm zu.

Das Horrorverhör, dass er erwartete, blieb jedoch aus. Schweigend folgte Dionysos Sophisto bis zum Ende des Gangs, an dem sein Büro war. Nur das Knarzen der Holzdielen unter ihren Füßen war zu hören. Normalerweise fand Dionysos Gefallen an den alten Steinwänden, doch in diesem Moment fühlte er sich wie ein Gefangener, der durch den Kerker geführt und von einem sadistisch lächelnden Henker in das dunkelste, tiefste Verließ geworfen wird.

Der Direktor öffnete die Tür, trat zur Seite und überließ Dionysos den Vortritt. Gleich würde die Tür ins Schloss fallen und der einzige Kontakt zur Außenwelt aus einem 10 x 20 Zentimeter großen Loch bestehen; für alle Ewigkeit.

Obwohl er, wie der Leser sich mit Sicherheit denken kann, bereits des Öfteren mit Sophisto aneinander geraten war, hatte er noch nie sein Büro betreten. Die steinernen Wände waren dieselben wie überall im Gebäude. Doch während der Rest der Schule stets mit sich wechselnden Plakaten, Bildern und anderen Kunstwerken geschmückt wurde, war man hier nur von grau umgeben. Der Rest des Büros war ähnlich spartanisch eingerichtet. Ein Schreibtisch mit jeweils einem Stuhl davor und dahinter; ein riesiger Schrank, der die komplette linke Zimmerseite einnahm in dem unter anderem die Akten der Schüler untergebracht waren – mehr nicht. Sophisto zog einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete den Schrank. Neben den Bergen an Aktenmappen stand außerdem ein massiver Tresor darin.

„So …“ Der Direktor nahm auf seinem Stuhl Platz. Er forderte Dionysos nicht auf sich ebenfalls zu setzen.

„Ihre Noten geben kein Zeugnis von einem engagierten, fleißigen oder ordentlichen Schüler ab. Einzig in Musik und Kunst können Sie punkten; zwei Fächer, die aber nicht ich unterrichte. Dementsprechend kann ich sie nicht wirklich in meine persönliche Wertung mit einfließen lassen.“

Er blätterte mit kalten Augen angewidert durch die Akte als würde er jeden Moment darauf spucken.

„Nun, an welcher Akademie möchten Sie denn studieren? Geben Sie mir das ausgefüllte Dokument.“

„Ich habe nichts ausgefüllt. Ich will nicht studieren.“

„Dann ist damit unsere Beratungsstunde zu Ende. Sie können gehen. Und nehmen Sie sich zusammen für die restlichen Monate die Sie hier sind. Wenn ich auch nur den kleinsten Anlass dazu finde werde ich sie der Schule verweisen.“ Sophisto sprach mit ihm ohne ihn anzusehen.

Dionysos, glücklich so glimpflich davon gekommen zu sein, eilte aus dem Büro und wäre um ein Haar in Pythagoras hinein gelaufen der vor der Türe wartete. Seine Miene war ungewöhnlich ernst, hellte sich aber ein wenig auf als er seinen Schüler sah.

„Nur nicht zu flink junger Mann, sonst bekommen Sie das schönste nicht mit …“, sagte er und ging mit einem vielsagenden Blick an Dionysos vorbei.

„Herr Direktor, dürfte ich auf ein Wörtchen eintreten?“

„Sie dürfen, Pythagoras“, ertönte Sophistos leicht genervte Stimme und die Tür wurde geschlossen. Dionysos dachte noch angestrengt über den Sinn von Pythagoras’ Worten nach doch das Gespräch im Inneren des Büros schien um einiges interessanter zu sein …

„Herr Direktor … ich habe vorhin mitbekommen wie Sie die ganze Auseinandersetzung zwischen den beiden Herren beobachteten und frage mich nun wieso Sie so hart zu dem jungen Dionysos sind …“

Dionysos presste seine Ohrmuschel gegen die Türe und atmete so leise wie möglich.

„Er hat einen anderen Schüler tätlich angegriffen und wenn Sie nicht gewesen wären hätte er jetzt schon für immer das Schulgelände verlassen. Solch ein Verhalten kann ich nicht tolerieren.“

„Bei einem anderen Schüler wären Sie nicht so streng gewesen. Schon häufiger meine ich gemerkt zu haben, dass Sie gegen ihn eine besondere Abneigung hegen … und ich frage mich nun, wieso? Er ist talentiert und schlau. Mit den richtigen Methoden wäre er genau so gut wie ein Apollon.“

„Für ihn gibt es keine richtigen Methoden …“ Sophisto schnaubte stark aus. „Ok, Sie wollen wissen warum ich so hart zu ihm bin? Dann werde ich es Ihnen sagen, sofern ich ihr Wort habe, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.“

„Sie haben mein Wort.“

„Dionysos ist eine Gefahr für jeden der etwas aus sich machen und im Leben erreichen möchte. Nicht weil er ein hirnloser Clown ist, sondern weil er, wie Sie sagen, schlau und talentiert ist. Clowns werden nur ausgelacht, aber ihn bewundert man. Wenn man einen Clown nur lange und oft genug bestraft, dann ist er entweder irgendwann kalt gestellt oder er verliert sich selbst so sehr in diesem Übeltat-Strafe-Kreislauf, dass er etwas anstellt wofür man ihn dann endgültig von der Schule werfen kann. Das wissen auch die anderen Schüler und deswegen ist der Clown keine Gefahr, sondern nur einer der den Unterricht stört.

Bei Menschen wie Dionysos läuft das ein wenig anders. Oh, ich kenne ihn … ich kenne ihn genau, auch wenn Sie denken es sei nicht so. Keine Strafe der Welt würde irgendetwas bei ihm ändern. Aber gleichzeitig ist er so intelligent nichts zu tun, wofür man ihn der Schule verweisen könnte. Er ist verführerisch. Ich lasse ihn eine ganze Woche im Winter den Hof kehren; eine für die meisten Menschen erniedrigende Arbeit. Jeder soll sehen können, was mit jemandem wie Dionysos geschieht; welches Schicksal ihn erwartet wenn er nicht nach den Regeln der Gesellschaft spielt. Strafe vor allem zur Abschreckung. Und was tut Dionysos? Er kehrt, leert die Müllsäcke, läuft mit Eimer und Zange herum und lächelt und singt dabei als würde er im Frühling über eine Promenade spazieren. Die anderen Schüler schauen ihm zu, lauschen seiner schönen Stimme, sind fasziniert von seinem Gleichmut und seiner Willensstärke. Im Unterricht kann ich ihn demütigen, wie ich will; mit einem Satz zerstört er die Anstrengungen einer ganzen Stunde. Wenn die Schüler das Zimmer verlassen, denken Sie nicht mehr daran was ich ihnen beibringen wollte, sondern wie Dionysos meine Anstrengungen mit Leichtigkeit zunichte gemacht und den ganzen Unterricht ad absurdum geführt hat.

Ja, die Schüler beginnen dann nachzudenken ob nicht ich sondern vielleicht er recht hat. Sie fangen an die Sinnfragen zu stellen. Sie haben noch keine Ahnung was es bedeuten würde wenn er recht hätte, aber einigen von ihnen wird die Möglichkeit durchaus gefallen und viele davon sind schon Menschen wie ihm gefolgt und daran zugrunde gegangen. Diese Bewunderer wissen nicht, dass auf sie ein Leben des Kampfes, der Anarchie, des Schmutzes und der Niedertracht wartet. Das ist das Leben das Dionysos erwartet. Vielleicht übertreibe ich ein wenig aber – ehrlich gesagt – … ich habe schon einige von seiner Sorte kennengelernt; in jedem Jahrgang gibt es solche doch mir ist noch niemand untergekommen der so heftig zu verführen versteht wie er. Wenn Dionysos eine Strafe bekommt sagt er kein Wort. Er beklagt sich nicht, er rechtfertigt sich nicht, er versucht mich nicht zu beschwichtigen Entscheidungen zu überdenken oder an mein Mitleid zu appellieren. Ich starre immer nur in seine offenen, blauen Augen und das unschuldige, reine Gesicht. Ja, vielleicht mag ihm ein Leben in Schmutz und Anarchie gefallen und vielleicht ist er sogar jemand der solch ein Leben genießen kann … das ist mir egal; von mir aus kann er nackt zu den Wildschweinen ziehen, in seinen eigenen Exkrementen leben, fröhlich weiter singen und Waldhasen mit seinen bloßen Händen fangen; er soll tun was er nicht lassen kann. Aber ich werde nicht zulassen, dass er Menschen zu diesem Leben verführt, die dem nicht gewachsen sind. Und genau das trifft auf seine Bewunderer zu. Vielleicht denken Sie, ich rede Unsinn … ist mir egal. Man schmäht ihn ja hier in Delphi in manchen Kreisen, spricht schlecht und lacht über ihn. Aber nur öffentlich! Der Clown wird auch im stillen Kämmerchen belächelt; nicht jedoch Dionysos. Man bewundert ihn, glauben Sie mir. Vielleicht ist ihm das Ausmaß seines Einflusses noch nicht wirklich bewusst geworden aber das ist vollkommen gleichgültig. Wichtig ist nur, dass es mir bewusst geworden ist. Er mag im Dreck glücklich werden, jedoch nicht seine Bewunderer. Die werden rauben, plündern, Aufstände und Revolutionen anzetteln. Diese Menschen werden an ihrem eigenen Vorbild zugrunde gehen. Denn eigentlich wollen sie nur Sicherheit, Geborgenheit, einen annehmbaren Beruf, einen warmen Ofen und eine üppige Mahlzeit; das ist alles. Seine Bewunderer sind Menschen die immer nur den einfachsten Weg gehen. Über Jahrhunderte hinweg haben wir mühevoll solch einen einfachen Weg aufgebaut und so gut wie jeder, eine winzig kleine Minderheit vielleicht ausgenommen, kann ihn gehen. Dazu aber müssen die Menschen erst einmal in meiner Schule lernen, wie sie sich zu verhalten haben; wie sie mit ihren Mitmenschen, ihren Vorgesetzten, Untergebenen, ihrer Familie usw. umzugehen haben, dass alles schön so weiter laufen kann. Dann können wir sogar die wenigen, die zu gar nichts zu gebrauchen sind, mitversorgen. Man muss seine Pflichten kennen und die wenigen Anforderungen erfüllen, die wir stellen. Nur dann kann weiterhin Sicherheit in unserem Teil der Erde bestehen bleiben.

 

Den Weg den er geht ist deswegen verführerisch und gefährlich, weil er noch einfacher ist als der, auf den wir seine Bewunderer vorbereiten. Zumindest macht es den Anschein. Sein Weg mag jetzt in der Schule einfach und anziehend erscheinen, aber später hält ihn kaum ein Mensch mehr aus. Die Bewunderer müssen sich nun eingestehen, dass sie eine Illusion ihrer Gedanken gelebt haben. Und meine Aufgabe ist es sie vor ihm zu schützen; auch deswegen bin ich Direktor … ich erziehe die jungen Menschen zu anständigen Bürgern und Dionysos ist ein hoffnungsloser Fall. Glücklicherweise sind nicht alle Menschen so blind wie seine Bewunderer. Auch viele andere, sogar in seinem Alter haben erkannt was für ein Teufel er ist. Das sind die Leute, die ihn hier in Delphi öffentlich verunglimpfen und sie haben Recht damit!

Eigentlich gehört er unter Fackelschein mit Mistgabeln und Knüppeln aus der Stadt gejagt. Ja, ja, ich weiß … sagen Sie nichts, Pythagoras … Dionysos kann nichts dafür wie er ist und jeder hat dieselben Chancen verdient usw., usf. Ich weiß, dass ich Dionysos als Mensch gegenüber schuldig bin aber was die Gesellschaft anbelangt, bin ich im Recht. Sie erwähnten vorhin Apollon … er ist der der belohnt werden muss damit hier alles weiterhin funktioniert; Apollon steht für Verstand und Ordnung … nicht so Dionysos … er ist das leidenschaftliche, menschliche Herz, das seit jeher für sämtliche Unglücke der Erde verantwortlich war.

Ich hätte ihn niemals hier zum Unterricht zulassen dürfen. Und aus all diesen Gründen werde ich ihn jetzt, bei der kleinsten Unannehmlichkeit die er mir bereitet, sofort von der Schule werfen. Ich hätte ihn jetzt bereits der Schule verwiesen, wenn Sie nicht zufällig sein Helfer geworden wären.“

Es folgte ein längeres Schweigen.

„Und wenn sie nun nichts weiter dazu zu sagen haben, dann würde ich jetzt gerne in Ruhe zu Mittag essen.“

„Ich habe nichts weiter dazu zu sagen, Herr Direktor. Nur so viel, dass ich froh bin nächstes Jahr meinen Ruhestand antreten zu dürfen. Auf Wiedersehen!“

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