Moloch Unsterblich

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Unter ihrem Fuß wackelte ein Dielenbrett.

Sie war wie elektrisiert. Das war es, wovon jeder Entrümpler träumte. Ein Versteck zu finden, in dem ein Schatz verborgen war. Solche Geschichten las man in den Zeitungen immer wieder: Ein armer Mann, der von Brot und Wasser lebte und in dessen Sofapolster ein Vermögen eingenäht war. Oder die Klofrau, in deren Garage Kleingeld im Wert von mehreren Millionen lagerte. Swetlana hatte es sich oft ausgemalt, wie dieser Moment sein würde. Und jetzt war er vielleicht gekommen: Eine Planke wackelte unter ihrem Fuß. Das konnte die Eintrittskarte in das Leben sein, das sie sich immer erträumt hatte.

Mit aller Kraft schob sie das Bett weiter von sich, kniete sich hin und probierte, das Brett zu entfernen. Doch das gestaltete sich als schwierig. Mit den Fingernägeln krallte sie sich durch das dünne Plastik der Handschuhe in den Spalt, um die Seite anzuheben, rutschte aber jedes Mal ab. Als ein Nagel abbrach, fluchte sie durch die Zähne. So hatte es keinen Zweck.

Wie war die alte Frau an das Versteck herangekommen? Schon um das Bett wegzuschieben, hätte sie ein Herkules gewesen sein müssen. Vermutlich war es doch nur eine Diele, die sich mit der Zeit gelockert hatte. Trotzdem. Sie konnte jetzt nicht aufgeben, sie musste sichergehen.

Schwer stützte sie sich auf die Matratze, erhob sich ächzend und zog das eng sitzende T-Shirt über dem Bauch glatt. Abwesend schob sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah sich nach einem geeigneten Werkzeug um. Lang, schmal und stabil musste es sein. Natürlich! Ein Messer. Da hätte sie gleich drauf kommen können. In der Küche prüfte sie das Besteck und entschied sich für ein Brotmesser. Es war von minderer Qualität, der Griff aus verblichenem, abgestoßenem Plastik, aber die Klinge schien stabil zu sein.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie die Schneide in den Spalt schob und langsam zur Seite hebelte. Die Klinge bog sich gefährlich weit durch, doch endlich hob sich das Brett ein Stück.

In dem ungeheizten Schlafzimmer herrschte Eiseskälte, ihr floss der Schweiß nur so von der Stirn. Sie krallte die Finger in das Holz, zog so stark sie konnte und stocherte mit dem Messer nach.

Endlich drehte sich das Brett, fiel mit lautem Klonkern auf das Parkett und gab den Blick auf einen Hohlraum frei.

Sie beugte sich vor und schob die Haarsträhnen, die an ihrer feuchten Stirn klebten, zur Seite, um besser sehen zu können.

„Yes!“

In dem Versteck lag etwas.

Vor Aufregung zitterten ihr die Finger, als sie den Gegenstand herausnahm. Doch was sie in den Händen hielt, war nicht das, was Swetlana sich erhofft hatte. Es war ein Heft, Din-A-5, wie man es in der Schule benutzte. So verstaubt und angegilbt, wie es war, schien es lange dort gelegen zu haben. Sie legte es zur Seite und tastete den Hohlraum erneut ab. Doch das Versteck war ansonsten leer.

„Fuck!“

Ihre Euphorie wich grenzenloser Enttäuschung.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und stützte den Kopf in die Hände. Ein Tagebuch oder sonst so ein Mist. Damit konnte sie nichts anfangen. Es war wertloser Scheiß, auch wenn es der alten Frau, oder wer auch immer das geschrieben hatte, so wichtig war, dass es unter den Dielen versteckt worden war. Am liebsten hätte sie sich eine Zigarette angezündet und den Frust zur Decke gequalmt. Aber dann würde ihr Vater sofort merken, dass sie vor ihm da gewesen war. Das durfte sie nicht riskieren.

Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass sie sich bereits seit einer Stunde hier aufhielt. Sehr viel länger würde sie nicht bleiben können, sonst nahm man ihr den Arzttermin nicht ab. Sie passte das Brett wieder in den Boden ein und rückte das Bett zurück.

Das Heft konnte sie in irgendeine Schublade zu anderen Papieren stopfen. Keinem würde es auffallen. Ohne großes Interesse blätterte sie durch die Seiten: Notizen, Aufzeichnungen, eingeklebte Zeitungsartikel und Fotos.

Zuerst schien sich ihr Kopf gegen die Erkenntnis zu wehren, wollte nicht wahrhaben, was das alles bedeutete. Doch dann traf es sie wie ein Blitz.

Sie hielt den Jackpot in den Händen.

5 Detektei

Der Wind pfiff eisig und die von einem vorbeifahrenden Auto entfachte Böe wirbelte ihr die Haare um den Kopf und machte sie für einen Moment orientierungslos. Amarant Domberger kniff die tränenden Augen zusammen, blieb vor dem Gartentor stehen, zog das Handy aus der Jackentasche und prüfte mit einem Tap auf das Display die Uhrzeit. Neun Uhr fünfundzwanzig. Fünf Minuten zu früh. Genau wie sie es geplant hatte. Pünktlichkeit war ihr wichtig. Es machte sie nervös, wenn sie der Zeit hinterherlaufen musste, das konnte ihr den ganzen Tag verderben. Es gab in ihrem Leben bereits zu viele Dinge, die schief liefen. Wenigstens die Zeit wollte sie im Griff haben. Sie steckte das Telefon zurück und warf einen Blick in den Vorgarten: Ein altes Herrenrennrad lehnte an der Ziegelmauer, die das Grundstück vom Nachbargarten trennte, und eine schwarze Katze saß auf den Stufen vor dem Eingang und ignorierte sie. Sie drückte die Klinke herunter, schob das quietschende Tor auf, sah sich um, ob ihr jemand gefolgt war, und ging dann auf das Haus zu.

Die Gegend gehörte zu den wohlhabenderen Wohngebieten Bad Godesbergs, der Villa sah man das nicht an. Die letzte Renovierung schien länger her zu sein, an einigen Stellen war der Putz abgeplatzt und ein tiefer Riss zog sich quer über die Fassade. Das Modernste war ein Messingschild, das neben der Haustür angebracht war und auf dem in geschwungenen Lettern der Name einer adeligen Rechtsanwältin stand. Doch die war nicht ihr Ziel. Sie wollte zu der Detektei, von der sie in der Zeitung gelesen hatte. Die die großen Fälle gelöst hatte. Die hatten das Zeug, um mit ihrer Misere klarzukommen.

Natürlich war sie zuerst zur Polizei gegangen. Aber die hatten sie abgewimmelt. Geradezu mitleidig hatten sie sie betrachtet, als sie ihnen das Video gezeigt hatte. Und hatten ihr kein Wort geglaubt. Sie spürte wieder die Panik in sich hochsteigen. Die würden sich erst bewegen, wenn es zu spät war. War es denn nicht deren Job, Katastrophen zu verhindern? Aber sie hatten nur mit den Schultern gezuckt. Bedauernde, mitfühlende Mienen aufgesetzt. Und waren sicher erleichtert gewesen, als die Tür hinter ihr zugefallen war.

Aber sie brauchte Hilfe. Dringend. Ihr Leben war in Gefahr. Jeder Tag konnte der Letzte sein. Und ihr konnte nur jemand helfen, der es schon mit Mördern und kriminellen Vereinigungen aufgenommen hatte. Wie die Detektei Peters.

Entschlossen drückte sie die Klingel und stemmte sich, als der Summer ertönte, gegen die Tür.

...

Gilda öffnete die Tür und Friedi schoss durch ihre Beine hindurch ins Treppenhaus.

„Friedi, bleib hier. Entschuldigen Sie bitte, Friedi! Friedi!“ Sie beugte sich vor und klopfte auf ihre Oberschenkel. Doch der Dackel beschnüffelte erst ausgiebig die Schuhe des Neuankömmlings, bevor er ohne Eile zurückkam und sich unter dem Garderobenständer auf seinem Kissen einrollte.

Gilda begrüßte die neue Klientin. „Immer hereinspaziert. Ich bin Gilda Lambi von der Detektei Peters. Kann ich Ihnen die Jacke abnehmen?“

Das Erste, was ihr an der Frau auffiel, war der silberne Piercingring in der Oberlippe. Und die große Brille in dem schmalen, blassen Gesicht.

Die Besucherin nickte, sah sich im Vorraum, in dem Gildas Schreibtisch stand, um, dann wickelte sie einen Schal vom Hals und schlüpfte aus dem Parka. „Ich bin Amarant Domberger. Wir hatten Kontakt über ihre Webseite.“ Sie schlang die Arme um den dünnen Körper, als wüsste sie nicht wohin mit den Händen.

Gilda nickte lächelnd. „Stimmt. Möchten Sie einen Kaffee? Oder vielleicht sogar einen richtig guten, italienischen Caffè? Es gibt nichts Besseres bei diesen Temperaturen.“

„Gern.“

„Kommen Sie mit in die Küche? Da können wir beim Kaffee über ihr Anliegen sprechen.“

Amarant Domberger folgte ihr und nahm an dem Bistrotisch Platz.

„Erzählen Sie mir, warum Sie hier sind. Was können wir für Sie tun?“ Gilda griff nach der Metallkanne, schraubte sie auf und füllte sie mit Wasser.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ Die Klientin spielte mit dem Zeigefinger an dem Piercingring herum und sah an die Decke.

„Einfach irgendwo“, half Gilda und löffelte Pulver in den Blechfilter.

„Ich werde verfolgt. Jemand will mich ermorden.“

Gilda fiel der Filter aus der Hand, das Kaffeepulver verstreute sich über den Boden. „Mist. Entschuldigung. Jemand will Sie ermorden?“

„Ja.“

„Wer? Warum?“

„Ich habe keine Ahnung. Wirklich nicht. Ich weiß nur, dass es so ist.“

„Es fällt Ihnen keiner ein, den Sie gegen sich aufgebracht haben? Niemand?“

„Nicht, dass ich wüsste. Privat habe ich keine Feinde. Ich bin mit niemandem zerstritten. In der Uni ist alles in Ordnung. Es läuft sogar sehr gut. Meine Bachelorarbeit habe ich mit dem Assistenten besprochen und den Prof kriege ich auch noch überzeugt, der sperrt sich gerade noch ein bisschen. Keine Ahnung, warum.“ Amarant Domberger zeichnete eine kaum sichtbare Linie auf der steinernen Tischplatte nach.

Gilda bemerkte, dass ihre Hand zitterte.

„Ansonsten engagiere ich mich gegen Klimawandel und für Tierrechte. Aber nicht radikal. Ich bin keine von den Verrückten, die in Legebatterien einbrechen und die Hühner befreien. Und ich besprühe auch keine Frauen in Pelzjacken mit Farbe. Manchmal gehe ich zu Demos oder unterzeichne Petitionen. Das ist alles.“

 

„Ok. Was ist denn passiert, dass Sie glauben, jemand möchte Sie töten?“ Gilda füllte die Metallkanne erneut mit Kaffee und stellte sie auf den Herd.

Amarant Domberger starrte aus dem Fenster in den kahlen Wipfel des Walnussbaums. „Es fing damit an, dass ich mich beobachtet fühlte. In der Mensa, auf dem Nachhauseweg, abends in der Kneipe. Aber ich war mir nicht sicher. Da war niemand. Jedenfalls keiner, der mir auffiel. Doch dann wurde ich eines Nachts überfallen, als ich durch den Hofgarten an der Uni ging. Ich kam aus einer Bar, die dort in der Nähe ist. Es war noch relativ früh, vielleicht elf Uhr. Ich war an dem Abend müde, hatte den ganzen Tag in der Unibib gelernt und mir schwirrte der Kopf, deshalb bin ich nach Hause gegangen. Allein. Vor den anderen. Ich weiß noch, dass da ein Geräusch war, doch es war zu spät. Plötzlich lag ich auf dem Boden, jemand warf sich auf mich. Ich wurde geschlagen und getreten. Ich konnte nichts tun, habe nur versucht, meinen Kopf zu schützen. Es mussten zwei Männer gewesen sein. Der eine lag auf mir, der andere trat auf mich ein.“

„Furchtbar, du Ärmste.“ Gilda, die das Kaffeepulver auffegte, hielt in der Bewegung inne und gluckste. „Ups. Wie unprofessionell.“ Sie schlug die Hand vor den Mund.

„Ist in Ordnung. Das Siezen kommt mir eh komisch vor. Macht man doch eigentlich nie. Außer bei alten Leuten. Nenn mich Mara. Amarant klingt immer so, als hätte mich meine Mutter dabei erwischt, dass ich wieder was ausgefressen habe.“

Gilda zwinkerte ihr zu, füllte Kaffee in zwei Tassen und setzte sich zu der Klientin an den Tisch. „Wie bist du entkommen?“

„Ich glaube, sie wurden gestört. Vielleicht Geräusche von der Straße. Ich weiß es nicht. Jedenfalls sind sie plötzlich abgehauen.“

„Hast du die Typen angezeigt?“

„Natürlich. Obwohl der eine mir noch ins Ohr gezischt hat nix verraten, sonst tot. Komisch eigentlich.“

„Man hat die Männer nicht gefunden, nehme ich an? Sonst wärest du ja nicht hier.“

Mara nickte. „Ich konnte sie nicht beschreiben. Es war dunkel und sie kamen von hinten. Aber es waren Schwarze. Da bin ich mir absolut sicher. Ich habe es gerochen.“

„Du kannst die Hautfarbe riechen?“ Gilda zog die Augenbrauen hoch.

„Ja. Weiße Männer haben einen anderen Geruch. Ich habe ein Auslandsemester in Südafrika verbracht. Seitdem weiß ich das.“

„Sorry, wenn ich das so sage, aber das klingt total rassistisch.“

„Ich weiß“, Mara nahm es nicht übel. „Es ist aber so. Der Schweiß riecht süßlicher, stechender, ich kann es nicht genau beschreiben. Vielleicht liegt es an der Ernährung. Essen beeinflusst den Körpergeruch. Aber Hormone oder Krankheiten auch.“

„Und die Angreifer haben schwarz gerochen?“, nahm Gilda skeptisch den Faden wieder auf.

„Ja. Hinzu kam aber auch dieser ... animalische Gestank. Ich habe es wahrgenommen in dem Augenblick, bevor ich attackiert wurde. Wie eine Warnung: Es roch nach Gefahr. Als lauerte ein Raubtier in nächster Nähe. Ich wollte sofort fliehen.“

„Hm“, Gilda presste die Lippen zusammen und stellte die Tasse heftig auf den Tisch zurück. „Ich kann verstehen, dass die Polizei nichts mit deiner Beschreibung anfangen kann. Einzig vom Geruch auf die Hautfarbe zu schließen ist“, sie suchte nach der richtigen Formulierung, „extrem politisch unkorrekt. Um es vorsichtig zu sagen. Aber warum soll ich vorsichtig sein? Du bist es ja auch nicht. Der Überfall auf dich ist schrecklich, das will ich nicht kleinreden. Aber wenn du ein Nazi bist und möchtest, dass wir dich bei deinem rassistischen Verfolgungswahn unterstützen, bist du hier falsch.“

Mara hob abwehrend die Hände und rutschte auf ihrem Stuhl herum. „Spinnst du? Ich bin kein Rassist. Und erst recht kein Nazi. Warum glaubst du, habe ich in Südafrika studiert? Ich interessiere mich für andere Kulturen und habe viele Freunde überall auf der Welt. Nach meinem Studium möchte ich in die Entwicklungshilfe gehen. Du hast einen völlig falschen Eindruck von mir.“

„Ist das so?“ Gilda musterte Mara von oben bis unten, dann nickte sie. „Ok. Ich glaube dir. Aber du musst zugeben, dass es ziemlich abgedreht klingt, was du mir erzählst.“

Mara zuckte die Achseln. „Ich wollte dir halt alle Informationen geben. Wenn ihr den Auftrag annehmt, müsst ihr doch wissen, dass ich von zwei Schwarzen verfolgt werde. Vermutlich Afrikanern.“

Gilda verdrehte die Augen und sparte sich eine Antwort.

„Soll ich gehen?“

„Nein. Ich weiß es nicht. Erzähl erst mal weiter. Glaubst du, dass die beiden noch hinter dir her sind? Du hast gesagt, dass sie dich umbringen wollen, aber sie haben es nicht getan.“

„Ja, aber sie werden es tun. Deshalb bin ich ja hier. Sie verfolgen mich. Zuerst habe ich es nach dem Überfall nicht gemerkt. Ich dachte, der Angriff wäre ein Zufall. Dass ich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Doch dann hat man mir das Video geschickt.“ Mara nahm einen Schluck und Gilda bemerkte, dass sie die Tasse kaum halten konnte, so sehr zitterten ihre Hände. „Darauf sind zwei Afrikaner. Und ein weißes Mädchen. Ich kenne sie. Kitty. Ich habe mit ihr in Johannesburg studiert, wir waren befreundet. Und die Männer kenne ich auch. Ich bin sicher, dass sie es sind, die hinter mir her sind.“

„Kannst du mir den Film zeigen?“

Mara nickte.

„Aber der ist schlimmer als alles, was du je gesehen hast.“

...

Gilda warf Mara, die neben ihr am Schreibtisch saß, einen fragenden Blick zu, dann klickte sie mit dem Mauszeiger auf das nach rechts zeigende Dreieck und das Video lief los.

Sofort wurde ihr klar, dass Maras Warnung berechtigt war.

Ein Mädchen wimmerte, streckte den Arm abwehrend aus, taumelte rückwärts. Gilda hielt den Film an und betrachtete das Standbild. Braune Haare bis zu den Schultern, ein ärmelloses, blaues Top, rote Shorts, nackte, blasse Beine und weiße Sneakers. Anfang zwanzig. Höchstens.

Etwa so alt wie Mara und sie.

„Das ist deine Freundin?“

„Ja, das ist Kitty.“

Gilda lief ein Schauer über den Rücken. Sie ahnte, dass das, was jetzt folgte, ihr Albträume bereiten konnte und zögerte, das Video weiterlaufen zu lassen. Stattdessen studierte sie die Umgebung auf dem Standbild. Um sich eine Pause zu gönnen und zu wappnen vor dem, was bevorstand.

Maras Freundin befand sich in einem Park oder in der freien Natur. Im Hintergrund waren Büsche zu sehen, auf dem erdigen Boden wuchsen vereinzelt bräunliche Grasbüschel. Gilda machte einen Screenshot, um später herauszufinden, um welche Pflanzen es sich handelte. Ob dieses Video wirklich in Südafrika gedreht worden sein konnte. Zögernd bewegte sie den Cursor wieder auf das Play-Symbol. Ihr Zeigefinger verharrte über der linken Maustaste. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie war stark genug, um das zu sehen, was jetzt passieren würde. Es war ihr Job als Detektivin. Sie straffte die Schultern und klickte.

Die Schreie setzten wieder ein.

Ein schwarzer, sehniger Arm hob sich in die Kamera, Muskeln und Adern zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Die Klinge eines langen Messers blitzte in der Sonne auf, fuhr herab. Stach in den Arm, den Kitty abwehrend von sich streckte. Sie schrie, flehte, stöhnte. Versuchte auszuweichen. Wurde von einem zweiten Mann zu Fall gebracht. Schwer fiel sie auf den Rücken, das T-Shirt nach oben gerutscht, die Beine gespreizt. Die blassen Schenkel schimmerten schutzlos in der Sonne. Dann kam das Messer wieder ins Bild, hob und senkte sich, stach in den Bauch, in die Hand, die schützend darüber lag. Blut spritzte hervor, lief über den weißen Körper in den Sand.

Gilda unterdrückte ein Würgen. Sie hätte das Video gern unterbrochen, doch sie war wie gelähmt. Verurteilt, dem Grauen weiter zuzusehen.

Die Perspektive wechselte, ein zweiter Mann kam ins Bild. Hager, sehnig, schwarz. Seine Miene war angespannt, die Kiefer aufeinandergepresst, der Blick konzentriert. Die Kamera zoomte auf die Machete, die er hoch über den Kopf erhoben hielt, fuhr die lange, verschmutzte Klinge entlang. Das Sichtfeld glitt zurück in die Totale. Zeigte die junge Frau, deren Gesicht ein einziges Entsetzen war. Die verzweifelt versuchte, mit den Händen den Bauch zu schützen, das Leben im Inneren ihres verletzten Körpers. Die sich mit den Füßen in den Boden stemmte, um sich auf dem Rücken liegend aus der Gefahrenzone zu schieben.

Dann zoomte das Bild auf den Hals, fokussierte auf die weiße Kehle, die ungeschützt dalag.

6 Detektei

Die Klingel im Vorraum ertönte und Laura warf einen Blick auf die Uhr. Fast halb zehn. Gildas Klientin war pünktlich. Ein guter Beginn einer Geschäftsbeziehung. Ihrer Erfahrung nach waren pünktliche Menschen auch zuverlässige Zahler. Sie nahm hinter dem Schreibtisch Platz und rief die Suchmaschine im Computer auf. Die Geschichte, die Leo Wagner am Tag zuvor erzählt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie wollte herausfinden, was aus dem armen, gequälten Tier geworden war.

Zuerst gab sie den Namen Anton ein und wurde bombardiert mit Fundstellen. Die Baufirma gehörte zu den gewichtigen Kalibern im Markt und war dementsprechend präsent im Internet.

Doch Laura interessierte sich für das Privatleben der Familie. Und auch hierzu gab es einiges zu finden. Ragnar und Isabel Anton waren beide in den Vierzigern, gestylt und braun gebrannt auf jedem Foto und Mittelpunkt vieler Veranstaltungen in Bonn und Bad Godesberg.

Ragnar Anton spielte Golf, war der Schirmherr des jährlichen Benefiz-Unternehmer-Frühstücks zugunsten kirchlicher Projekte in Godesberg und wurde zu jedem Event eingeladen, das irgendein Verein, eine Partei oder eine Bürgerbewegung veranstaltete. Als Bauunternehmer brauchte man Kontakte und die schien der Mann in Hülle und Fülle zu haben. Natürlich war es ein Vorurteil zu glauben, dass Baulöwen nur durch Korruption und Mauschelei so erfolgreich waren, trotzdem konnte sie den Gedanken nicht abschütteln. Obwohl sie keinen einzigen Hinweis auf Unregelmäßigkeiten fand. Anscheinend hatte er eine weiße Weste.

Ganz anders als der Sohn.

Laura hörte gedämpfte Stimmen, dann drangen Schreie aus dem Vorraum, die ihr das Blut gefrieren ließen. Sie unterdrückte den Impuls, aufzuspringen und nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Gilda sah sich offensichtlich mit ihrer Klientin einen Film an und hatte die Situation im Griff. Sie würde sich melden, wenn sie in Schwierigkeiten war.

Laura blendete die Geräusche aus und konzentrierte sich auf die Bilder. Isabel Anton war dünn und durchtrainiert und strahlte die Entschlossenheit einer Frau aus, die täglich ihre Bahnen im hauseigenen Pool schwamm und Stunden im Gym verbrachte. Aufgespritzte Schlauchbootlippen dominierten das Gesicht, blonde Haare spielten gepflegt um die Schultern, die Kleidung in höchstens Größe 34 war auch für den ungeübten Blick als Designer-Ware erkennbar. Sie strahlte auf allen Fotos, sei es auf dem Tennisplatz, sei es bei Vernissagen oder in der Bar beim Wein mit Freundinnen, doch das Lächeln wirkte auf Laura maskenhaft und aufgesetzt.

Lediglich ein Bild zeigte auch den Jungen. Anscheinend war er Einzelkind, dafür gab es mehrere Hunde unterschiedlicher Rassen, die vor der Familie ausgestreckt auf dem Rasen in der Sonne lagen. Sie zoomte das Foto größer. Isabel hatte den Arm um ihren Sohn gelegt und sah ihn liebevoll an. Auf den anderen Fotos hatte sie oberflächlich gewirkt, glatt, doch die Zuneigung zu dem Jungen wirkte echt und unverfälscht. Auch Ragnar schien seinen Sprössling mit einer Mischung aus Stolz und Wohlwollen anzusehen. Nach sozialer Verwahrlosung und Desinteresse am eigenen Kind sah das nicht aus. Damit schieden die Eltern für Laura vorerst als Grund für das krankhaft sadistische Verhalten des Tierquälers aus.

Moritz stand in der Mitte, breitbeinig, Hände in den Taschen, Kinn hoch erhoben, Augen leicht zusammengekniffen. Er wirkte arrogant. Zu selbstsicher für einen Jungen dieses Alters. Wenn man nicht gerade Justin Bieber war und von klein auf an Millionen von Fans gewöhnt war, war das ungewöhnlich. Aber vielleicht interpretierte sie zu viel in das Foto. Sie kannte das Martyrium des Dackels, da fiel ihr Unvoreingenommenheit schwer.

Es klopfte, dann wurde die Tür geöffnet und Friedi kam hereingeschossen. Wedelnd rannte er durch Lauras Büro und sprang an ihren Beinen hoch.

„Jajaja.“ Sie bückte sich und streichelte ihn. „Willst du einen Spaziergang machen?“

 

Der Hund wedelte mit dem Schwanz.

„Klar will er“, meldete sich Gilda von der Tür her. „Er ist die ganze Zeit unruhig, ich glaube, er muss mal. Soll ich ihn in den Garten lassen oder eine Runde mit ihm drehen?“

Laura schaute durch die Terrassentür nach draußen in den grauen, winterlichen Vormittag. Es war immer noch nicht richtig hell und ein feiner Graupelschauer hatte eingesetzt.

„Würdest du mit ihm gehen? Schau dir mal das Wetter an. Eigentlich jagt man keinen Hund auf die Straße. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Ach, mir macht das nichts. Und mir würde es ehrlich gesagt guttun, ein bisschen an die frische Luft zu kommen. Der neue Auftrag hat mich geschockt.“

„Ja, du siehst blass um die Nase aus. Und ich habe die Schreie gehört. Grauenhaft. Wie aus einem Horrorfilm. Worum geht es?“

„Meine Klientin ist eine Studentin, die von zwei Männern verfolgt wird. Sie glaubt, sie wollen sie umbringen. Die haben ihr ein Video geschickt, auf dem sie ihre Freundin aus Südafrika ermorden. Es ist brutal. Widerlich. Dem Mädchen wird vor laufender Kamera der Kopf abgehackt und dann schwenken sie ihn an den Haaren herum. Mir ist ganz schlecht. Und ich habe eine solche Wut auf diese ...“, sie suchte nach einer passenden Bezeichnung, „... Bestien, die ihr das angetan haben. Am liebsten würde ich das Gleiche mit ihnen machen. Aber ganz langsam.“

„Hilfe, nein. Keine Alleingänge und keine Selbstjustiz mehr, verstanden?“ Laura zwinkerte ihrer Assistentin beruhigend zu, um ihr zu signalisieren, dass sie ihr diese Brutalität nicht ernsthaft zutraute. „Wir sammeln Beweise, der Rest ist Sache der Polizei und der Justiz.“

„Das weiß ich. Du brauchst mich nicht jedes Mal daran zu erinnern, dass ich damals einen Fehler gemacht habe. Du kannst dich auf mich verlassen. Lass mich die Runde mit Friedi drehen, dann werde ich mich schon wieder berappeln und auf andere Gedanken kommen. Und später in der Teambesprechung erzähle ich euch die Details.“

„In Ordnung. Es ist nicht gut, dass dich der Auftrag so mitnimmt. Professionelle Distanz ist unerlässlich in unserem Job.“

Laura sah dem aufgeregten Dackel und der Assistentin nachdenklich hinterher, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwanden.