Das Lager

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I. Siebengebirge, August 1944

II. Siebengebirge, Sonntag, 3. August 2014

III. Bad Godesberg, Montag, 4. August 2014

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IV. Polen, Ende April 1940

V. Bad Godesberg, Dienstag, 5. August 2014

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VI. Polen, Anfang 1940

VII. Bad Godesberg, Mittwoch, 6. August 2014

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VIII. Siebengebirge, Ende 1943

IX. Bad Godesberg, Donnerstag, 7. August 2014

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X. Siebengebirge, 1944

XI. Bad Godesberg, Freitag, 8. August 2014

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XII. Siebengebirge, August 1944

XIII. Siebengebirge, Freitag, 8. August 2014, früher Abend

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XIV. Warschau, August 1949

XV. Bad Godesberg, Sonntag, 10. August 2014, später Nachmittag

XVI. Bad Godesberg, Montag, 11. August 2014, früher Morgen

Nachbemerkung

Impressum neobooks

Das Lager

Ein Fall für die Detektei Peters

Kriminalroman

Das Buch

„Unter der Wasseroberfläche, teilweise von großen Blättern verdeckt, sah sie den Körper einer jungen Frau. Lange Haarsträhnen schwebten um das aufgequollene Gesicht, ein blassblaues Kleid umspielte ihre Figur im seichten Takt der Wellen. An einem Knöchel befand sich ein grobes Seil, dessen ausgefranstes Ende sich sanft mit der Strömung bewegte.“

In einem See wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Detektivin Laura Peters, die grundsätzlich keine gefährlichen Aufträge übernehmen möchte, sucht für ihre Klientin nach deren verschwundenem Ehemann und ahnt dabei nicht, wie eng die beiden Fälle miteinander verknüpft sind. Sie kommt einer Bande von skrupellosen Menschenhändlern auf die Spur und als sie herausfindet, dass das ermordete Mädchen nicht das einzige Opfer gewesen sein kann, ist sie dem eiskalten Mörder schon gefährlich nahe ...

Die Laura-Peters-Serie

Das Lager ist der erste Roman, in dem Laura Peters mit ihrem Team ermittelt.

Die gesamte Laura-Peters-Reihe mit

Böse Obhut – Der zweite Fall für Laura Peters,

Zweiundsiebzig – Der dritte Fall für Laura Peters,

Moloch Unsterblich – Der vierte Fall für Laura Peters,

Monströse Moral – Der fünfte Fall für Laura Peters und

Cäcilie: Eine Halloween-Novelle

ist als Taschenbuch im Internet und als E-Book in allen Online-Shops erhältlich.

Mehr Informationen finden Sie auf der Facebook-Seite ‚Patricia Weiss – Autorin‘, auf Twitter ‚@Tri_Weiss‘, auf Instagram ‚@tri_weiss‘ und auf YouTube ‚Patricia Weiss Autorin‘.

Das Lager

Ein Fall für die Detektei Peters

Kriminalroman

von

Patricia Weiss

Das Lager ist als Taschenbuch und als E-Book erhältlich.

Impressum

Texte: © Copyright by

Patricia Weiss

c/o

Relindis Second Hand

Gotenstraße 1

53175 Bonn

patriciaweiss@gmx.net

 

Lektorat: Katharina Abel

Covergestaltung und Foto: Patricia Weiss

Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlichung: 2015

Für Freddie.

Pflegestelle für Ausländerkinder

Pflegestelle für Ausländerkinder wurden die Heime genannt, in denen während des Zweiten Weltkriegs die Babys von Zwangsarbeitern verwahrt wurden. Die Betreuung, die hygienischen Zustände und die Ernährung waren katastrophal.

Nur wenige haben überlebt.

I. Siebengebirge, August 1944

Die Zeit schien stillzustehen. Eintönigkeit und Angst erschufen ein Vakuum, in dem der Augenblick zur Ewigkeit wurde und die Tage nicht enden wollten. Gelblicher Staub waberte in dichten Schwaden über dem Boden, in der Luft lag der beißende Geruch von Sprengstoff. Die ohrenbetäubende Explosion hatte die Vögel verstummen lassen. Noch warfen die hohen Felswände kühle Schatten, doch die Strahlen der Sonne tasteten sich bereits in das Tal vor. Schon bald würde eine unerträgliche Hitze herrschen.

An die fünfzig Männer arbeiteten im Steinbruch. Sie standen in langen Schlangen und reichten die freigesprengten Steine von Hand zu Hand. Die Arbeit war hart und gefährlich, Entbehrungen, Strapazen und Unfälle forderten ihren Tribut. Keiner der Arbeiter sprach ein Wort, niemand sah hoch, aber alle waren wachsam. Am Waldrand saßen die Wärter rauchend im Schatten und ließen einen Flachmann kreisen. Ihr Gelächter hallte laut durch die Schlucht, die Gewehre lagen achtlos neben ihnen im Gras. Sie wirkten entspannt, geradezu harmlos.

Doch das täuschte.

In vorderster Reihe arbeitete ein sehr junger Mann, fast noch ein Junge. Mit kraftvollen Bewegungen belud er die Förderwagen, die die schwere Fracht aus dem Tal bis zur Verladestation der Steinfabrik transportierten. Seine Miene war konzentriert, undurchdringlich, doch hinter der schützenden Fassade ließ er seine Gedanken wandern, die einzige Möglichkeit, dem täglichen Grauen zu entfliehen. Früher hatte er sich oft ein Wiedersehen mit seiner Familie ausgemalt. Nächtelang hatte er gebetet, dass seine Mutter kommen und ihn befreien würde. Eine naive Vorstellung, wie er jetzt wusste. Wahrscheinlich hatte sie nie erfahren, was ihm zugestoßen war. Es hatte lange gedauert, bis er verstanden hatte, dass er auf sich allein gestellt war und sich anpassen musste, wenn er überleben wollte. Damals hatte er den Wunsch nach Rettung tief in seinem Inneren begraben. So tief, dass er ihn fast nicht mehr spürte. Angst, Demütigung und Hoffnungslosigkeit waren zu seinem Alltag und Monate zu Jahren geworden.

Doch plötzlich war ein Wunder geschehen.

Während er Felsbrocken auf die Kipploren wuchtete, dachte er an den gestrigen Abend. Es war nicht leicht gewesen, sich unbemerkt aus dem Lager zu stehlen. Und viel zu riskant. Sie setzten dabei ihr Leben aufs Spiel. Überall gab es Spitzel, die für eine Extraration Essen oder ein paar Zigaretten jeden verrieten. Würde man sie zusammen erwischen, gäbe es keine Gnade. Man würde kurzen Prozess mit ihnen machen. Auch mit ihr. Trotzdem ging sie das Risiko ein. Es rührte ihn, wie fest sie daran glaubte, dass die Liebe alle Hindernisse überwinden konnte. Ihm fehlte diese Zuversicht.

Gestern Abend wäre es beinahe schiefgegangen. Sie hatten sich im Wald getroffen, auf einem umgestürzten Baumstamm gesessen und geredet. Er hatte sich nicht sattsehen können an ihr, ihrem Gesicht, ihren Händen. Sie hatte gelacht und sich beschwert, dass er ihr nicht zuhören würde. Aber das stimmte nicht. Jedes Wort, jede Silbe hatte er sich gemerkt. Sie hatte Pläne für die Flucht geschmiedet, den Beginn ihres gemeinsamen, freien Lebens, aber er glaubte nicht, dass es klappen konnte. Sie würden es nicht einmal bis zum Bahnhof schaffen, bevor man sie erwischte. Und wenn doch, wohin sollten sie fliehen? In seine Heimat? Dort saßen die Deutschen. Sie würden ihn gleich wieder aufgreifen und deportieren. Nach England? Dort gehörte sie zu den Feinden. Nach Frankreich? Schweden? Italien? Jedes Land, das ihm einfiel, war entweder von den Deutschen besetzt oder führte gegen sie Krieg. Es schien auf der Welt keinen Ort zu geben, an dem sie beide willkommen waren. Sie konnten nirgendwohin. Alles, was ihnen blieb, war das Hier und Jetzt. Eine gemeinsame Zukunft gab es nicht, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr das zu sagen.

Plötzlich hatten sie das Geräusch gehört. Es war ein knackender Ast gewesen. In ihren Ohren so laut wie ein Peitschenknall. Dann absolute Stille. Als lauerte jemand in der Nähe. Sie hatten bewegungslos verharrt und den Atem angehalten. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er sich aus seiner Erstarrung lösen können und ihr bedeutet, sofort zu verschwinden. Nachdem der Wald sie verschluckt hatte, hatte er sicherheitshalber noch eine Weile gewartet, versteckt hinter einem Busch, und angestrengt in den Wald gelauscht. In einiger Entfernung hatten Blätter geraschelt, ansonsten war es ruhig gewesen. Langsam war die Anspannung von ihm abgefallen und grenzenloser Erleichterung gewichen. Sie hatten noch einmal Glück gehabt. Doch ein solches Risiko durften sie nicht noch einmal eingehen.

Ein Ellenbogen stieß ihm unsanft in die Rippen und riss ihn jäh aus seinen Gedanken.

„Trinkpause.“

Erschöpft fuhr er sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn und streckte vorsichtig die verspannten Muskeln. Die Sonne stand im Zenit, sie hatten den ersten Teil des Tagespensums geschafft. Er trottete hinter den anderen her, an den Wärtern vorbei zum Bach am Waldrand. An einer schattigen Stelle schöpfte er Wasser mit den hohlen Händen und erfrischte sich. Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, lehnte er sich an einen Baumstamm und zog ein Stück hartes Brot aus der Hosentasche. Kauend ließ er seinen Blick über die Männer wandern, die in der Nähe lagerten und sich leise unterhielten oder müde vor sich hin brüteten. Er hütete sich, sich zu ihnen zu gesellen und mit ihnen zu reden. Die Gefahr war zu groß, dass er sich verriet und sein Geheimnis offenbarte.

In einiger Entfernung bemerkte er einen Fliegenschwarm. Das Summen der lästigen Insekten schien von Sekunde zu Sekunde aufdringlicher zu werden. In der Luft lag der süßlich metallische Geruch von Blut. Ein leises Unbehagen erfasste ihn, als wollte sich eine böse Vorahnung den Weg in sein Bewusstsein bahnen. Zögernd erhob er sich, um nachzusehen.

Schon von Weitem sah er ein unförmiges Bündel auf dem Boden liegen. Unbewusst beschleunigte er seine Schritte. Er registrierte verklebtes, langes Haar, ein bläulich aufgedunsenes Gesicht, blicklose Augen. Ein Mensch. Grotesk verdreht, mit gebrochenen Armen und Beinen, inmitten von Felsbrocken, Erde, Dreck. Ein Festmahl für die Aasfresser, die unbarmherzig ihr pietätloses Werk verrichteten.

Tiefe Spuren der Verwüstung hatte der Tod auf dem Körper hinterlassen, doch trotzdem war es ihm nicht gelungen, die Schönheit ganz zu tilgen. Einzelne blonde Strähnen glänzten in der Sonne, sanfte Gesichtszüge waren unter den Prellungen zu erahnen, die zerbrochenen Gliedmaßen strahlten Zartheit und Anmut aus.

Wie von selbst entstand ein Schrei in seinem Inneren. Er gewann an Volumen, wurde mächtiger, schallte hinauf in den Himmel und wurde von den Felswänden vielfach zurückgeworfen.

II. Siebengebirge, Sonntag, 3. August 2014

Für Henriette Erlenbach war das Siebengebirge ein magischer Ort, der perfekte Schauplatz für Mythen und Legenden. Wenn sie die Wälder durchstreifte, suchte sie nach der Stelle, wo Siegfried den Lindwurm getötet und in seinem Blut gebadet haben könnte, und in den mittelalterlichen Ruinen stellte sie sich die Burgfrauen vor, die in zugigen Kemenaten sehnsüchtig auf die Rückkehr der Ritter gewartet hatten. Das Gedicht von Lord Byron über den Drachenfels gefiel ihr zwar nicht besonders gut, aber es hatte im neunzehnten Jahrhundert die ersten Touristen angelockt: Reiche und vornehme Leute, elegant gekleidet, die noch die wilde Romantik des Siebengebirges zu schätzen gewusst hatten. Heutzutage heizten nur noch rücksichtslose Mountainbiker in aufreizend engen Trikot-Hosen über die Waldwege und Heerscharen von Tagesausflüglern verstreuten überall ihren Müll und belagerten die idyllischen Lokale.

Henriette Erlenbach verabscheute diese Banausen und startete ihre Touren immer so früh wie möglich, um dem Ansturm zuvorzukommen.

Es war ein strahlender Morgen, die Vögel zwitscherten und ihre Hündin Leica sprang glücklich um sie herum. Ein leichter Kopfschmerz machte sich bemerkbar, tief atmete sie die frische Luft ein, um ihn zu lindern. Am Abend vorher war es spät geworden. Sie hatte sich mit ihren drei Freundinnen getroffen, Wein getrunken und herumgeplänkelt. Zurückgeblieben war ein schales Gefühl. Warum hatten ihre Freundinnen so viel Glück im Leben und sie nicht? Sie hätte auch gerne eine Familie, aber sie hatte nie den Richtigen kennengelernt. Und jetzt, mit Anfang fünfzig, war es zu spät dafür. Frustriert trat sie einen Tannenzapfen ins Gebüsch. Leica sprang begeistert hinterher und legte ihn ihr vor die Füße. Henriette tätschelte sie abwesend und wanderte zügig weiter.

War sie zu anspruchsvoll?

Die Männer ihrer Freundinnen hätte sie jedenfalls nicht geschenkt haben wollen. Aber wenn sie ehrlich war, hatte es auch seit vielen Jahren keinen ernsthaften Interessenten mehr gegeben. Vielleicht musste sie wieder mehr ausgehen und dem Glück eine Chance geben.

Sie pfiff nach der Hündin und bog in den Weg zu den verlassenen Steinbrüchen ein. Früher war hier Basalt abgebaut und in die Umgebung verkauft worden. Die ambitionierten Bauvorhaben des Erzbistums Köln hatten über Jahrhunderte hinweg eine rege Nachfrage gesichert. Ohne Rücksicht auf die Natur waren breite Schneisen in die Felsen gefräst worden, nur die Profitgier hatte gezählt. Die Berge wären wohl irgendwann wie hohle Zähne in sich zusammengebrochen, wenn die Steinbruchkrater nicht plötzlich mit Quellwasser zugelaufen wären. So aber war eine malerische Seenlandschaft mitten im Wald entstanden.

Henriette erreichte das Ufer des Blauen Sees, der von steilen Felswänden eingefasst war. Sie schob ihre Sonnenbrille auf den Kopf und genoss die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Bewusst verdrängte sie den Ärger auf ihre Freundinnen und spürte, wie Ruhe und Entspannung sich in ihrem Körper ausbreiteten. Dann setzte sie ihren Weg fort und begab sich auf einen Kletterpfad, der den Weg zu ihrem nächsten Ziel, dem Dornheckensee, abkürzte. Anfangs kam sie gut voran, doch sie hatte die Steigung unterschätzt. Immer öfter rutschten ihre Füße weg, sie musste Halt an Baumästen oder Wurzeln suchen. Leica war ihr gefolgt, vorsichtig eine Pfote vor die andere setzend. Henriette konnte ihr Unbehagen deutlich spüren. Plötzlich blieb die Hündin stehen und schaute unverwandt auf den gegenüberliegenden Berghang. Ein dumpfes Grollen kam aus ihrer Kehle.

„Was hast du denn?“

Sie folgte dem starren Blick des Retrievers und entdeckte wenige Meter seitlich ein mannshohes Loch in der Felswand. Vor dem Eingang verlief ein Vorsprung, in den drei breite Stufen geschlagen worden waren. Etwas Weißes lag dort, es sah aus wie eine Jacke. Henriette klammerte sich an eine Wurzel und versuchte, in die Höhle zu spähen. Die Sonne stand ungünstig, die Schwärze im Inneren war undurchdringlich. Plötzlich beschlich sie das Gefühl, dass sie aus der Dunkelheit heraus beobachtet wurde. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihr linker Fuß rutschte weg, in letzter Sekunde konnte sie sich abfangen.

„Verdammt.“

Sie musste aufpassen, sonst würde sie noch den Abhang hinunterstürzen.

„Das ist doch alles bloß Einbildung.“

 

Aber Leica blickte immer noch unverwandt auf die Höhlenöffnung, leise knurrend, das Fell gesträubt.

„Komm, Leica, drehen wir um. Der Weg ist zu steil. In meinem Alter sollte man solche Experimente lassen. Gehen wir zurück.“

Vorsichtig bewegte sie sich abwärts und war erleichtert, als sie wieder wohlbehalten am Seeufer stand. Was hatte sie sich für einen Unsinn eingebildet? Es gab in der Höhle nichts, was sie beunruhigen musste. Niemand hatte sie von dort aus beobachtet, die Höhenangst hatte ihr nur einen Streich gespielt. Henriette ging den Weg ein Stück zurück und umrundete die Anhöhe auf einem sanft geschwungenen, schattigen Weg. Bald ging es spürbar bergab und nach kurzer Zeit hatte sie den Dornheckensee erreicht.

Noch vor einigen Jahren war der See dicht bevölkert gewesen. Vor allem FKK-Freunde und Homosexuelle hatten sich hier getummelt und ihre Vorlieben frei ausgelebt. Doch bald waren die Behörden eingeschritten, hatten das Baden verboten und dem Treiben ein Ende gesetzt. Angeblich drohte Lebensgefahr durch abbröckelnde Gesteinsbrocken, Wasserstrudel und eiskalte Strömungen und tatsächlich hatte es im Laufe der Jahre immer wieder tödliche Unfälle gegeben. Jetzt war es hier tagsüber still geworden, doch nachts fand der Ort immer noch keinen Frieden. Gerüchten zufolge hatte die Vertreibung der illustren Freunde der Freikörperkultur und der gleichgeschlechtlichen Liebe Platz geschaffen für weitaus finsterere Gestalten. Es hieß, kriminelle Banden nutzten den See, um ihre Widersacher für immer verschwinden zu lassen. Henriette glaubte diese Geschichten nicht, trotzdem hätten sie in der Dunkelheit keine zehn Pferde hierher gebracht.

Friedlich lag der Dornheckensee vor ihr, seine Wasseroberfläche glitzerte, als wäre das Rheingold in ihm versenkt worden. Henriette hörte Leica geschäftig am Seeufer durch die Büsche rascheln, ansonsten war alles ruhig. Merkwürdig ruhig. Kein Vogelgezwitscher. Kein Summen von Insekten. Als hätte der Ort den Atem angehalten. Sie sah sich um. Nichts regte sich.

Dann schlug Leica an.

Henriette zuckte zusammen und seufzte. Bestimmt hatte die Hündin einen toten Vogel entdeckt, den sie ihr jetzt zeigen wollte. Sie würde nicht aufhören, zu bellen, bis sie ihren Fund präsentiert hatte.

Vorsichtig kletterte sie über alte, rostige Schienen, die vom Grund des Sees herauf ans Ufer führten und dort gekappt worden waren. Früher, vor dem Wassereinbruch, hatten unzählige Menschen im Steinbruch gearbeitet und die kleine Eisenbahn als Transporthilfe genutzt. Jetzt wirkten die verlassenen Gleise wie eine Geisterbahn.

Sie fluchte leise, als sie mit dem Fuß im Schlamm wegrutschte, und das Wasser in den Schaft ihres Wanderschuhs hineinlief. Leica bellte immer noch wie rasend. Sie kämpfte sich durch die dichten Uferpflanzen und seufzte erleichtert, als sie das Tier endlich erreicht hatte.

„Ruhig, was hast du denn?“

Sie sah sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Kopfschüttelnd streichelte sie die aufgeregte Hündin und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Doch Leica stand wie festgewachsen, bellte und starrte auf das Wasser. Henriette schaute sich noch einmal gründlich um. An dieser Stelle wuchsen lange, dicke Schilfhalme aus dem Wasser, dazwischen hatte sich eine Seerose mit weißen Blüten ausgebreitet. Wasserläufer glitten elegant über den See und ein kleiner Mückenschwarm tanzte selbstvergessen in der Sonne.

Da entdeckte Henriette, was den Hund so beunruhigt hatte: Eine zarte, weiße Hand ragte aus den Wasserpflanzen, der schmale Zeigefinger war abgespreizt und schien auf sie zu zeigen. Erschrocken sog sie die Luft ein, ihr Herz begann wild zu hämmern. Sie warf den Rucksack auf den Boden und watete in voller Montur in den See. Unter der Wasseroberfläche, teilweise von großen Blättern verdeckt, sah sie den Körper einer jungen Frau. Lange Haarsträhnen schwebten um das aufgequollene Gesicht, ein blassblaues Kleid umspielte ihre Figur im seichten Takt der Wellen. An einem Knöchel befand sich ein grobes Seil, dessen ausgefranstes Ende sich sanft mit der Strömung bewegte. Henriette war von dem Anblick wie gefangen. Das Mädchen wirkte so friedlich, als würde es nur schlafen.

Das aufgeregte Gebell der Hündin riss sie brutal in die Wirklichkeit zurück.

Sie hatte eine Leiche gefunden.

Das Mädchen war gefesselt, sie war ermordet worden.

Hastig watete sie zum Ufer, zog mit zitternden Fingern das Handy aus dem Rucksack und wählte den Notruf.