Kristallherz

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Aus der Reihe: Inagi #3
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Kristallherz
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Patricia Strunk

Kristallherz

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Inhaltsverzeichnis

Titel

KAPITEL I – Hetzjagd durch die Ruinen

KAPITEL II – Im Herzen Inagis

KAPITEL III – Erinnerungen aus ferner Vergangenheit

KAPITEL IV – Die Schlacht

KAPITEL V – Letzte Hoffnung

KAPITEL VI – An die Geschütze

KAPITEL VII – Die Botschaft

KAPITEL VIII – Schlafe, Drache, schlafe

KAPITEL IX – Traum und Wirklichkeit

KAPITEL X – Ein kühner Streich

KAPITEL XI – Gefangenentausch

KAPITEL XII – Bitterer Verlust

KAPITEL XIII – Im Lager der Raikari

KAPITEL XIV – Magur zeigt sein Gesicht

KAPITEL XV – Rebellenüberfall

KAPITEL XVI – Unglückliches Wiedersehen

KAPITEL XVII – Rivalen

KAPITEL XVIII – In Ketten geschlagen

KAPITEL XIX – Zum Tode verurteilt

KAPITEL XX – Schwingen über den Dächern

KAPITEL XXI – Das letzte Gefecht

KAPITEL XXII – Eine neue Ära

KAPITEL XXIII – Ishiras Plan

KAPITEL XXIV – Rückkehr zur Quelle

KAPITEL XXV – Im Fluss der Energie

PERSONEN

GLOSSAR

DANKSAGUNG

ZUM SCHLUSS

Impressum neobooks

KAPITEL I – Hetzjagd durch die Ruinen

INAGI

KRISTALLHERZ

Patricia Strunk

***

Für meine treuen Leser,

die (un)geduldig auf das Finale gewartet haben.

Are you gonna do something,

or are you just gonna stand there and bleed?”

aus dem Film ‚Tombstone‘

Ishira verharrte am Eingang zur Ruinenstadt, die Augen auf den Hang gerichtet, hinter dem Yaren verschwunden war. Sie konnte nichts empfinden, an nichts denken. Empfindungen oder Gedanken zuzulassen, hätte bedeutet, den Schmerz einzulassen.

Ihre Brüder standen schweigend neben ihr, ebenso reglos wie sie selbst, und warteten geduldig. Die Schatten wurden länger, bis die Nacht auch das Tor erreicht hatte. Langsam drehte Ishira sich um. Die Zeit wartete nicht. Wenn sie herausfinden wollte, warum die Geister sie hergerufen hatten, und ob ihr dieses Wissen dabei helfen konnte, dem Blutvergießen zwischen Menschen und Amanori ein Ende zu bereiten, musste sie sich beeilen. Wie unmöglich die Erfüllung ihres Wunsches auch immer scheinen mochte: sie klammerte sich an die Hoffnung wie eine Ertrinkende an einen brüchigen Ast, weil sie das Einzige war, was ihre Verzweiflung im Zaum hielt.

Die Geister begannen wieder zu wispern, drängender denn je. Eile dich! Du musst zur Höhle kommen.

Ishira hatte keine Mühe mehr, sie zu verstehen. „Zur Höhle? Aber ich dachte, ihr wolltet mir in den Ruinen etwas zeigen. Habt ihr mir nicht deshalb die Erinnerungen der Stadtbewohner geschickt?“

In der Höhle werden deine Fragen beantwortet werden. Bald wirst du alles verstehen.

Unschlüssig blickte sie die Straße entlang. Sie wusste nur, dass der unterirdische Raum, von dem Yaren gesprochen hatte, irgendwo im Nordosten der Stadt zu finden sein musste.

Ich hätte ihn nach dem Weg fragen sollen.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als in ihrem Kopf ein Bild aufblitzte. Die Straße vor dem Palast, in dem sie mit Otaru gewesen war. Das nächste Bild zeigte ein Bauwerk am Rande der Stadt, das wie ein Brunnen in die Erde eingelassen war. Im Hintergrund erkannte sie den Felsen, der über der Quellhöhle aufragte. Sie wandte sich zu ihren Brüdern um. „Der Zugang zur Höhle befindet sich in einer Art unterirdischem Turm auf der anderen Seite der Ruinen. Die Geister werden uns dorthin führen.“

Die drei nickten einvernehmlich, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, den Weg von geisterhaften Stimmen und Visionen gewiesen zu bekommen. Einmal mehr war Ishira dankbar für die Entscheidung ihres Vaters, ihr ihre Brüder zur Seite zu stellen. Jeder andere hätte ihre Worte angezweifelt.

Beinahe jeder andere…

Der kurze Gedanke an Yaren reichte aus, um die in ihrem Innern schwelende Angst neu anzufachen. Sie wallte in ihren Eingeweiden hoch wie eine heiße Flüssigkeit und zog ihr die Kehle so eng zusammen, dass sie beinahe erstickte. Fast meinte sie, seine Lippen wieder auf ihren zu spüren.

Wenn kein Wunder geschah, würde der Morgen eine Schlacht sehen, die erbarmungsloser und schrecklicher wüten würde als alle vorausgegangenen. Menschen und Echsen würden bis zum Äußersten gehen. Yaren war ein begnadeter Kämpfer, aber er war nicht unverwundbar – und er war geschwächt. Wie lange konnte er durchhalten?

Beinahe zornig rieb sie sich über die Lider. Nein, sie würde nicht weinen. Dafür war jetzt keine Zeit – und noch war nicht alles verloren. Energisch richtete sie ihren Blick auf das gesprungene Pflaster der uralten Straße. Die in Bodennähe wabernde Energie tauchte die Ruinen in gespenstisches Zwielicht. Zwischen den verfallenen Gebäuden weiter vorn leuchtete der sichelförmige See im Zentrum der Stadt wie eine Widerspiegelung des Mondes.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit folgten sie der Hauptstraße bis zum Palast. Die Energie gab genügend Licht ab, um ihnen trotz der einsetzenden Dämmerung die Orientierung zu ermöglichen. Im Gegenteil waren Spalten und Risse jetzt sogar besser zu sehen als im Sonnenlicht. Dennoch stolperte Ishira hin und wieder über eine Unebenheit oder stieß sich die Zehen an einem vorstehenden Stein. Neidvoll fragte sie sich, wie ihre Brüder es anstellten, nicht ein einziges Mal aus dem Gleichschritt zu kommen.

Die weitgehend rechtwinklige Anordnung der Straßen erinnerte sie an ein Ujibobrett. Im Zwielicht hatten die Ruinen nichts Großartiges mehr an sich, sondern wirkten abweisend und bedrohlich. Die verfallenen Mauern schienen jeden Moment auf sie niederstürzen zu wollen und aus den unregelmäßigen Steinhaufen wurden in Ishiras überreizter Fantasie lauernde Ungeheuer, deren Atem der Wind war, der durch die leeren Fensteröffnungen strich.

Rechts von ihnen zweigte eine weitere Querstraße ab. An der Kreuzung reckte sich ein einsamer Baum in die Höhe, an dessen verdrehten Ästen nur wenige Blätter hingen, die schimmerten wie aus Licht gesponnen. Als ein Windstoß durch die Zweige fuhr, gaben die Blätter ein leises Knistern von sich. Unmittelbar darauf richteten sich die Härchen in Ishiras Nacken auf.

Der Amanori hockte auf den unkrautüberwucherten Pflastersteinen der Querstraße, als hätte er auf sie gewartet. Kaum ein Muskel regte sich in dem gewaltigen Leib. Nur die Spitze des stachelbewehrten Schwanzes zuckte leicht hin und her. Die Energieaura, die seinen Leib umspielte, ließ ihn seltsam unstofflich erscheinen. Mehr als jemals zuvor wirkte er wie ein Wesen aus der anderen Welt.

Sie hatte ihn nicht kommen hören. Wie lange saß er schon dort?

Die Geister begannen beunruhigt zu summen. Mit dieser Störung hatten sie nicht gerechnet.

Die goldenen Augen des Amanori waren unverwandt auf Ishira gerichtet. Zorn schlug ihr entgegen wie ein Schwall glutheißer Luft. Der umher peitschende Schwanz wehte graubraunen Staub in ihre Richtung. Hinter und neben sich hörte sie das metallische Schaben, mit dem Schwerter aus ihrer Umhüllung gezogen wurden.

„Nein, wartet noch“, gebot sie ihren Brüdern leise. Sie wollte versuchen, Kontakt herzustellen, und das würde nicht einfacher werden, wenn sie die Echse mit Waffen bedrohten.

 

Die Geister wisperten um sie herum wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Flieht!

Ishira zögerte, bemühte sich, den Vorhang aus Zorn zu durchdringen. Von einem Moment zum anderen wechselte die Tonlage der Geister, wurde zu einem windähnlichen Säuseln, das sie an ein Schlaflied denken ließ. Versuchten die Geister, ihr zu helfen und den Amanori zu beschwichtigen? Sie ließ ein Bild von ihr und der Echse entstehen, wie sie friedlich nebeneinander standen und auf die Ruinen blickten, doch es prallte am von Schmerz und Rache verdunkelten Geist ihres Gegenübers ab. Die Wut machte ihn blind und taub für jeden Versuch einer Verständigung. Er stieß einen donnernden Gonglaut aus und erhob sich mit schlagenden Schwingen auf die Hinterbeine. Der aufwirbelnde Staub nahm Ishira die Sicht.

Mahati sprang vor sie. „Lauf!“

Sie wollte protestieren, doch als der Amanori drohend einen Schritt auf sie zumachte, wich sie unwillkürlich zurück. Aus den goldenen Augen loderten Flammen. Das Wispern der Geister war verstummt, als hielten sie in Erwartung des Kampfes den Atem an. Ihre Brüder schlossen die Lücken zwischen sich und bildeten eine Barriere, die sie vor der Echse abschirmte. Sie stieß mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes, spürte das Prickeln der Energie in ihrer Wirbelsäule.

Nicht! schrie sie dem Amanori lautlos entgegen, während sie ein weiteres Mal versuchte, eine Gedankenverbindung zu ihm herzustellen. Wir wollen nicht gegen dich kämpfen. Wir sind nicht deine Feinde.

Der Amanori reagierte nicht. Er war zu sehr in Rage, um sie zu hören – oder hören zu wollen. Wieder stieß er seinen markerschütternden Kampfruf aus. Der Ton war noch nicht verklungen, als der erste Blitzstrahl aus seinem Maul schoss. Ishiras Brüder duckten sich nicht einmal. Sie griffen ihre Waffen fester und antworteten mit einem ebenso durchdringenden Schrei, der klang, als stammte er aus einer einzigen Kehle. In völligem Gleichklang rannten sie los: Otaru stürzte in gerader Linie auf die Echse zu, während Mahati und Izzanak leichte Bögen beschrieben, um ihren Gegner einzukreisen. Dessen Kopf schnellte auf Otaru zu, während er gleichzeitig mit einer Vorderklaue nach Mahati hieb und den stachelbewehrten Schwanz in Izzanaks Richtung schwang. Otaru wich den zuschnappenden Kiefern ebenso geschickt aus wie seine Brüder Krallen und Schwanz. Beinahe zeitgleich stießen sie mit ihren Keshs zu. Der Kampf war so schnell zu Ende, wie er begonnen hatte. Der Amanori gab einen langgezogenen Todesschrei von sich und sank zu Boden, die Schwingen wie in einem letzten Aufbäumen ausgebreitet.

Auf einmal fühlte Ishira sich unglaublich müde. Was hoffte sie eigentlich zu erreichen? Wie wollte sie die Schlacht zwischen Menschen und Echsen verhindern, wenn sie nicht einmal in der Lage war, zu einem einzelnen Amanori durchzudringen?

Flügelschlag riss sie aus ihren trüben Gedanken. Über den Ruinen tauchten drei weitere Echsen auf und hielten auf sie zu. Wieder spürte Ishira, wie sich die Geister ihnen entgegenstellten – und scheiterten. Der Zorn der Amanori war zu groß.

Flieht! gellte der Schrei der Geister in ihrem Kopf. Diesmal verlor Ishira keine Zeit. „Wir müssen hier weg!“ schrie sie ihren Brüdern zu. „Es sind zu viele!“

Sie rannten die Straße entlang, wobei sie immer wieder geborstenen Steinplatten ausweichen und über Risse und Spalten springen mussten. Doch gegen ihre fliegenden Verfolger hatten sie keine Chance. Mit jedem Schlag ihrer Schwingen verringerten die Echsen den Abstand zu ihnen. In wenigen Herzschlägen würden die Amanori sie eingeholt haben.

Vor ihnen ragten die Felsen auf. Die Straße bog scharf nach rechts ab. Sie hatten den am stärksten zerstörten Teil der Stadt erreicht. Sämtliche Gebäude waren bis auf die Grundfesten zusammengestürzt. In einiger Entfernung erblickte Ishira ein Rund aus zerbrochenen Säulen, in dessen Mitte ein Abgrund klaffte. Das musste der unterirdische Turm sein. Sie hatten es beinahe geschafft! Sie zwang ihre Beine dazu, sich noch schneller zu bewegen, obwohl ihre Muskeln schon jetzt bei jedem Schritt protestierten. „Nur noch ein kurzes Stück“, keuchte sie, mehr um sich selbst anzuspornen als ihre Brüder, die im Gegensatz zu ihr nicht im Geringsten außer Atem schienen.

Ein Blitzstrahl schoss zwischen ihnen hindurch. Ishira schlug einen Haken. Der nächste Blitz verfehlte sie nur um Haaresbreite. Über Otarus Oberkörper zogen sich goldene Lichtweben, doch er beachtete sie nicht.

Ein schauriges Brüllen über ihren Köpfen ließ sie zusammenzucken. Der vorderste Amanori hatte sie erreicht.

„Lauft weiter!“ brüllte Izzanak. „Ich lenke sssie ab!“

Bevor Ishira widersprechen konnte, packte Otaru sie am Arm und zerrte sie mit sich. Mahati blieb hinter ihnen zurück, unschlüssig, ob er Izzanak helfen oder dessen Aufforderung folgen sollte. Im Laufen blickte Ishira über ihre Schulter zurück. Noch bevor der Amanori gelandet war, sprangen ihre Brüder auf ihn zu. Ihre Klingen durchschnitten die Luft in zwei perfekten Bögen und stießen zwischen die Hornplatten, die die Flanken der Echse schützten. Das Brüllen des Amanori vermischte sich mit Izzanaks und Mahatis Triumphschreien. Die beiden anderen Echsen schossen einen Blitzhagel auf sie ab und stürzten sich von oben auf sie. Izzanak gelang es mit knapper Not, den zuschnappenden Zähnen auszuweichen. Er schrie Mahati etwas zu, das Ishira nicht verstand, bevor er sich mit blanker Klinge auf den Amanori warf.

„Wir müssen ihnen helfen!“ Verbissen versuchte sie, sich aus Otarus Griff zu winden, doch er packte nur noch fester zu.

„Nein. Dich zu beschützen hat oberste Priorität.“

„Aber-“

„Wo ist dieser Turm?“

Sie zeigte es ihm. Otaru zog sie auf das Loch zu, ohne sich um ihr Sträuben zu kümmern. Die Turmruine schraubte sich tief ins felsige Erdreich. Ihr wurde beinahe schwindelig, als sie in den Abgrund spähte. Weit unten war ein Schutthaufen zu erahnen. Was von der Treppe übrig war, sah nicht sehr vertrauenerweckend aus, auch wenn sie Yaren offenbar getragen hatte. Aber welche Wahl blieb ihnen?

Otaru hatte ihr Handgelenk losgelassen und seinen Fuß auf die oberste Stufe gesetzt. Ein letztes Mal blickte Ishira zurück. Einer der Amanori lag tot am Boden. Die beiden anderen attackierten ihre Brüder mit unverminderter Heftigkeit, obwohl eine der Echsen aus einer Wunde am Hals blutete. Gerade als Izzanak ein weiteres Mal mit seinem Kesh ausholte, schlug der Amanori mit seinen Klauen zu. Ihr Bruder wich zur Seite aus, doch im selben Moment riss die andere Echse, die Mahati ins Visier genommen hatte, ihren Kopf herum. Ishira schrie vor Entsetzen, als deren Maul zuschnappte und Izzanaks Kesh davongeschleudert wurde. Ihr Bruder taumelte von seinem Gegner weg. Statt seiner rechten Hand hing ein blutiger Stumpf an seiner Seite, aus dem die Knochen herausstaken. Mahati wollte ihm zu Hilfe kommen, doch Izzanak stieß ihn grob von sich und brüllte ihn an zu verschwinden. Mahati tat, wie ihm geheißen, und rannte auf den Turm zu. Ishiras Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, während sie beobachtete, wie Izzanak sich den beiden Amanori entgegenstellte, das Kurzschwert in der linken Hand.

Er kam nicht dazu, die Waffe einzusetzen. Voller Grauen musste sie mit ansehen, wie die Echsen ihren Bruder packten und hochrissen. Dann stand Mahati vor ihr und verstellte ihr die Sicht. In seinen Augen lag eine Härte, die den aufsteigenden Schrei in ihrer Kehle erstickte. Wie betäubt stieg sie in die Tiefe, verfolgt von Izzanaks gellenden Schreien. Als die Schreie abrupt abbrachen, hatte Ishira das Gefühl, etwas in ihr würde erlöschen. Halb blind vor Tränen stolperte sie hinter Otaru her, der bereits ein Stück voraus war. Wie hatte sie nur jemals glauben können, die Amanori würden ihr zuhören?

Ein Blitz schlug dicht neben ihr in die Wand ein. Funken sprühten. Einer der beiden Amanori war am Rande des Turms gelandet und brüllte seine Wut darüber hinaus, dass sie außerhalb seiner Reichweite waren. Der nächste Blitzstrahl traf Mahati mit voller Wucht in den Rücken. Er geriet ins Taumeln, fand jedoch Halt an einer Ranke, die sich ins Mauerwerk krallte. Über ihnen schnaubte der Amanori und schlug seinen Schwanz auf den Boden, dass der Grund erzitterte. Sand rieselte in den Schacht. Mittlerweile war auch die zweite Echse gelandet und umkreiste den Turm. Eine neuerliche Blitzsalve warf flackernde Schatten gegen die Wände. Mahati drängte Ishira weiterzugehen.

Plötzlich prasselten von oben Steine auf sie nieder. Sie riss die Arme hoch, um ihren Kopf zu schützen. Kurz sah sie den Schwanz eines Amanori über dem Schacht, bevor sie von Mahati gegen die Wand gepresst wurde. Er hatte sich über sie gebeugt und deckte sie mit seinem Körper. Weitere Steine stürzten auf sie herab. Die Echsen waren nicht gewillt sie entkommen zu lassen. Mahati zuckte zusammen, als ein großer Mauerstein seine Schulter traf. Seine Hand neben Ishiras Kopf, mit der er sich an der Mauer abstützte, ballte sich zur Faust. Dann ließ der Steinregen nach.

Ihr Bruder richtete sich auf. „Geh weiter“, sagte er gepresst.

Ishira warf ihm einen besorgten Blick zu, doch Mahati scheuchte sie stumm vorwärts. So schnell sie konnte, lief sie die bröckeligen Stufen nach unten. Mehr als einmal glitt sie aus, doch immer waren Mahati oder Otaru da und verhinderten, dass sie stürzte. Über ihnen hörte sie die Amanori wüten. Endlich erreichten sie die nächste Ebene. Jetzt schützten die Stufen über ihren Köpfen sie vor den Angriffen der Echsen. Ishira verlangsamte ihr Tempo etwas und achtete mehr darauf, wohin sie ihre Schritte setzte. Unvermittelt hatte sie das Empfinden, ein fremdes Bewusstsein würde ihren Geist streifen, aber es war ein diffuses Gefühl, als würde ein Schatten vorüberziehen. Über ihnen stießen die Amanori frustrierte Laute aus. Flügelschläge verrieten, dass sie sich in die Luft erhoben hatten. War es nur Zufall, dass die Echsen ihren Angriff in eben diesem Moment abbrachen? Oder hatte der Leitamanori sie zurückbefohlen?

Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, erreichten sie das Ende der Treppe – oder besser gesagt die Stelle, an der die Stufen in dem Schutthaufen verschwanden, den sie von oben gesehen hatte. Die untere Hälfte des Gangs war verschüttet. Geduckt und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, um die Steine nicht ins Rollen zu bringen, arbeiteten sie sich vor bis zu einem Durchgang, hinter dem ein kurzer Korridor tiefer in den Berg führte. Fußspuren im Staub zeigten ihr, dass auch Yaren diesen Weg genommen hatte. Direkt vor ihr waren die Spuren verwischt, als hätte jemand auf dem Boden gesessen – oder gelegen. War Yaren hier zusammengebrochen?

Am Ende des Korridors erwartete sie hinter einem ungewöhnlichen, runden Durchgang ein aus dem Fels geschlagener Raum, dessen gegenüberliegende Wand von einer Ansammlung unterschiedlich dicker Rohre, Stellräder und Hebel beherrscht wurde. Die Rohre hatten früher nach oben durch die Decke geführt, doch die Hälfte von ihnen war infolge der Katastrophe, die zum Untergang der Stadt geführt hatte, geborsten und endete in gezackten Stümpfen. Hatte dieser Raum einst dazu gedient, die Energie zu kontrollieren?

Ishira war von der komplizierten Konstruktion so abgelenkt, dass sie beinahe über die beiden ausgetrockneten Leichen auf dem Fußboden gestolpert wäre. Sie fuhr zurück. Die Männer mussten seit Ewigkeiten tot sein.

Otaru musterte ihre gekrümmte Haltung. „Sind sie genauso gestorben wie die Frau, die wir oben in den Ruinen gefunden haben?“

Er sprach von der Hofdame, deren Erinnerungen ihr die Geister geschickt hatten. Sie nickte. „Hier unten war die Energie mit Sicherheit am stärksten. Die Männer müssen sofort tot gewesen sein.“

Auch jetzt war die Konzentration höher als an der Erdoberfläche. Ein Schauder kroch ihre Schultern entlang, als sie daran dachte, dass auch Yarens Leben hier um ein Haar sein Ende gefunden hätte. Es war so leichtsinnig von ihm gewesen, hierher zu kommen – und alles nur ihretwegen.

Sie warf einen Blick umher, bevor sie auf eine weitere offen stehende Tür neben der Steuerwand zuhielt. Dahinter lag ein zweiter Raum, kleiner als der erste, der bis auf ein einzelnes großes Rohr, das von der Wand neben ihr zur gegenüberliegenden Wand führte, vollkommen leer war. Zerbrochene Tonplatten bedeckten den Boden und knirschten unter ihren Tritten. Es gab keine weiteren Türen.

Hatte Yaren von diesem Raum gesprochen? Aber wo sollte hier ein Zugang zur Höhle sein? Es sei denn…

 

Sie kehrte in den ersten Raum zurück und betrachtete die Konstruktion. Etwa in der Mitte entdeckte sie, wonach sie suchte. Dort kam das große Rohr aus der Wand und teilte sich in mehrere dünnere Rohre auf. Was würde passieren, wenn sie die Rohre zerschlugen? Floß in ihnen noch immer Energie? Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass die Energie am Ursprung so stark sein mochte, dass selbst sie und ihre Brüder nicht lange genug überlebten, um der Höhle ihre Geheimnisse zu entreißen. Aber jetzt waren sie hier. Es gab kein Zurück mehr.

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