Der einen Glück, der anderen Leid

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der einen Glück, der anderen Leid
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Patricia Clara Meile

Der einen Glück, der anderen Leid

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1 Der neue Kollege

2 Die neue Kollegin

3 Geheimnisse

4 Die Nachricht

5 Eine Blume am Wegesrand

6 Die Waschküche

7 Halloween

8 Einbruch der Vernunft

9 Die Brasilianerin

10 Die Reise

11 Das Geisterhaus

12 Eliane

13 Trauer und Flucht

14 Freude und Tränen

15 Ein neuer Lebensabschnitt

16 Die Überraschung

17 Das Picknick

Danksagung & Haftungsausschluss

Impressum neobooks

1 Der neue Kollege

Ich erinnere mich gut an meine erste Begegnung mit jenem Mann, der meine moralischen Prinzipien ins Wanken bringen sollte. Es war an einem kalten Wintertag im Januar. Ich hatte mich mit einer Kollegin aus einer anderen Abteilung, der Assistentin des Vorsitzenden der Region Süd-Ost, zum gemeinsamen Mittagessen in der Kantine verabredet. Fabienne ist eine elegante, stets makellos geschäftsorientiert gekleidete junge Dame Mitte dreißig – sehr schlank und zierlich, mit streng zurückgebundenen, dunkelblonden schulterlangen Haaren. Sie ist überaus fleißig, sehr verantwortungsbewusst, freundlich, korrekt und zurückhaltend, hat ein schönes, offenes Lächeln und ist dennoch ernst und unnahbar. Sie war mir, als wir uns kennengelernt hatten, auf Anhieb sympathisch gewesen. Ich hätte gerne eine tiefere Freundschaft zu ihr aufgebaut, doch es schien mir mit der Zeit immer unmöglicher. Ich frage mich oft, ob sie überhaupt enge Freundschaften pflegt. Vielleicht trennt sie Geschäfts- und Privatleben aber auch einfach nur rigoros.

Nichtsdestotrotz trafen wir uns alle paar Wochen auf einen gemeinsamen Tee oder Kaffee und seltener noch auf ein Mittagessen. Insgeheim mache ich mir Sorgen um sie. Ich habe das Gefühl, dass sie die Schwermut hat Besitz von sich ergreifen lassen. Eines Tages dann würde sie plötzlich von der Bildfläche verschwunden sein und ich würde, aufgrund meines Eindrucks, eine psychische Krankheit wie eine Depression oder ein Burn-out vermuten, nichtsahnend und erst einiges später erfahrend, dass sie in Wahrheit einen schweren Autounfall erleiden würde, von dessen Verletzungen sie sich viele Monate würde erholen müssen. Mit unseren bewusst gesund gefüllten Tellern, setzten wir uns an einen langen hohen Holztisch an den großen lichtdurchflutenden Fenstern in der Nähe des Eingangs. Draußen tanzten einige Schneeflocken vom silbergrau bedeckten Himmel. Auf dem Gras lag bereits ein leichter weißer Flaum. Eine undefinierbare Trauer hing in der Luft.

Fabienne und ich waren in ein Gespräch vertieft. Ich musste ihr stets aufmerksam zuhören, denn sie spricht meist leise, damit nicht jeder mithören kann. Sie mag es nicht, wenn die Leute zu viel über sie wissen. „Ist hier noch frei?“, fragte uns plötzlich jemand. „Ja“, antwortete ich geschwind, um mich wieder Fabienne zuwenden zu können. Der Mann nahm mit seinem Tablett am anderen Ende des Tisches Platz. Er musste recht neu in der Firma sein. Scheinbar kannte er noch keinen groß. Mit der Zeit haben die Leute ihre festen Plätze und ihre Gruppen, zu denen sie sich gesellen. Seine Frage und sein Tonfall muteten noch etwas schüchtern und verunsichert an. Aus dem Augenwinkel heraus stellte ich fest, dass er außerordentlich attraktiv ist. Er hat dichtes bronzefarbenes Haar, das ihm ein wenig über die Stirn fällt, ist sportlich breit gebaut und hat unglaubliche eisblaue Augen, die etwas Nachdenkliches und zugleich Fesselndes ausstrahlen. Selten habe ich einen Mann mit so schönen Augen gesehen. Selten hat mir ein Mann so gefallen.

Als meine Kollegin und ich unser Essen beendet hatten, standen wir auf und wünschten unseren Tischnachbarn einen schönen Nachmittag. Dabei begegneten meine Augen den seinen. Einen kurzen Moment hielten unsere Blicke stand. Dann brachten Fabienne und ich unser Geschirr weg. Wir begaben uns die Stufen hoch wieder in unsere jeweiligen Büros. Sie arbeitet in der ersten, ich in der dritten Etage des hässlich grauen, schlecht isolierten Siebzigerjahre-Baus. Wir bevorzugen die Treppe dem Fahrstuhl, denn es ist uns wichtig, fit zu sein.

Ungefähr zwei Wochen später, verabredete ich mich mit Fabienne morgens um viertel nach neun im vierten Stock auf einen kurzen Kaffeeklatsch. Wir trafen uns normalerweise in dieser Etage, weil wir dort nicht riskierten, unseren Vorgesetzten oder allfälligen unliebsamen Kolleginnen über den Weg zu laufen. So sah ich ihn wieder. Abermals begegneten sich unsere Augen und hafteten aneinander fest. Da war etwas – eine unsichtbare Schwingung. Als ich am Automaten eine Apfelschorle herauslassen wollte, klemmte, nachdem ich mit meinem Badge bereits bezahlt hatte und das Produkt von der Schiene herunterfiel, wieder einmal die Schublade, um die Flasche entnehmen zu können. Ich zog und rüttelte daran wie ein Stier, bis sie sich mit einem lauten Scheppern, was man im ganzen Stockwerk hören konnte, endlich öffnete. Mein Angebeteter und seine Kollegen, die das Ganze beobachtet hatten lachten. „Ich bin halt nicht so kräftig“, sagte ich. „Doch doch, das haben wir jetzt eben gesehen!“, meinte der Neue grinsend.

Noch in derselben Woche, am Freitagabend, oder vielmehr am späteren Nachmittag, denn Freitag können wir in der Regel etwas früher gehen, verließen wir um dieselbe Uhrzeit das Bürogebäude. Mein Schwarm hielt mir galant die Tür auf und verabschiedete sich mit einem äußerst charmanten: „Schönes Wochenende und auf Wiedersehen!“ Draußen empfing ihn ein Kollege aus der Verkaufsabteilung, der mich jedes Mal mit, wie mir vorkam, lüsternen Blicken bedachte, um mit ihm noch ein Schwätzchen zu halten. In meinem leichten dunkelblauen knielangen Kleid und den leuchtend bunten Schuhen mit kleinem Absatz lief ich zu meinem Wagen. Ich spürte förmlich ihre Blicke auf meinem Hintern und meinen Beinen. Es störte mich nicht. Es war schön, offensichtlich begehrenswert und doch unerreichbar zu sein.

Ab und zu nehme ich mir vor, mich wieder etwas mehr zu bewegen sowie weniger und vor allem gesünder zu essen. Anfang dreißig stelle ich langsam fest, dass ich zur Erhaltung meiner Jugendlichkeit und Schönheit etwas tun muss. Ohne bewusste Ernährung und regelmäßige gezielte Bewegung, wird meine Haut immer teigiger und die Cellulite gräbt unerbittlich ihre Kuhlen. Kurz nach Erreichen der Volljährigkeit hatte es mich unwahrscheinlich genervt, wenn Leute mich geduzt hatten. Ich wollte unbedingt als erwachsen wahrgenommen und respektiert werden. Mit Anfang dreissig nun, bin ich schon fast beleidigt und vor den Kopf gestoßen, wenn junge Erwachsene mich siezen. Jetzt möchte ich um jeden Preis jugendlich wirken. Dennoch sage ich mir bisweilen, dass es an Arroganz grenzt, sich über derart kleine Makel zu beschweren, denn Menschen, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, müssen schließlich auch irgendwie leben und zufrieden sein. Ich habe einst gelesen, dass ein übermäßiges Bedürfnis nach Süßspeisen gleichzusetzen ist mit einem Durst nach dem Weichen und nach Wärme im Leben, was in der Regel bedeutet, dass wir nicht liebevoll genug zu uns selbst sind und uns zu sehr auf Äußerlichkeiten fixieren.

Wenn das Wetter passt, also weder nass noch zu heiß ist, mache ich mit Kolleginnen oder alleine in der Mittagspause einen Spaziergang im Quartier. Es gibt dort schmucke Einfamilienhäuser, grüne Wiesen, Bäume, Sträucher und einen kleinen Bach. Es ist recht nett und man kann etwas besser abschalten, wie wenn man den ganzen Tag in ein und demselben Gebäude verbringt. Auf dem Rückweg einer meiner Spaziergänge zum Bürokomplex begegnete ich ihm wieder. Einen winzigen Augenblick hielt ich inne und schaute ihn an. Er tat es mir gleich. Dann ging ich rasch peinlich berührt weiter. Mein Herz pochte ins Unermessliche. Jedes Mal, wenn wir uns ansahen und sich unsere blauen und grünlichen Augen trafen, stellte ich mir vor, dass er auf eine Art und Weise dasselbe empfand wie ich. Danach allerdings lachte ich wieder über mich und diese unglaublich arrogante Einbildung.

Am selben Nachmittag beschloss ich, ihn in unserem Intranet zu suchen. Ich wollte wissen, wie er heißt, wer er ist und in welcher Position er arbeitet. Es war gerade nicht allzu viel los im Tagesgeschäft und es lag drin, dass ich mir die Zeit dazu nahm. Wer in unserer Firma neu anfängt, wird im internen Netzwerk jeweils willkommen geheißen und mit Foto kurz vorgestellt. So fand ich nach kurzer Recherche heraus, dass er Matteo Bianchi heißt und Verkaufs- und Produktmanager im Bereich Baumaterialien Schweiz ist. Er stammt aus dem Südschweizer Kanton Tessin aus der Region des Langensees, des Lago Maggiore, und hat eine Ausbildung zum Marketingleiter gemacht. Die Gegend ist für die südländischen Seepromenaden mit den Straßencafés, die engen Gassen und das milde Klima bekannt. Man fühlt schon die Nähe zu Italien.

 

Matteo hatte eine Deutschschweizer Partnerin namens Eliane und zwei kleine lichtblonde Jungs mit ihr - leider. Eliane besuchte nach der dreijährigen Ausbildung zur Frisörin eine renommierte Kosmetikfachschule in der Stadt Zürich. Außerdem machte sie eine Zweitausbildung zur Arztsekretärin, die ihr in ihrem Beruf viele neue wertvolle Erfahrungen brachte, sowie diverse Weiterbildungen zur Visagistin, Hot Stone- und Fußreflexzonen-Masseurin. Über mehrere Jahre leitete sie Schönheitsinstitute. Mittlerweile - als Mama - arbeitet sie in einem kleinen Beautysalon auf Teilzeitbasis. Vorzugsweise schminkt und begleitet sie strahlende Bräute an deren schönstem Tag. Eliane hat dunkelblondes schulterlanges Haar, durchzogen von heller blonden Strähnen, graue Augen, eine etwas markante Nase, ein auffälliges Kinn in einem landmädchenhaften rundlichen Gesicht und einen ebensolchen Körperbau.

Meine Stimmung kriegte schlagartig einen Dämpfer. Eine verbotene Liebe hatte langsam angefangen in mir zu keimen. Eliane ist zwar etwas weniger hübsch und zierlich wie ich, doch das war aufgrund der Tatsachen unwichtig. Familienväter waren tabu. Überdies hatte ich ja selbst einen langjährigen Partner an meiner Seite, mit dem ich Zukunftspläne schmiedete. Ich war eine längst vergebene Frau, zwar kinderlos, aber dennoch. Das Frappante ist, ich kann mich noch gut an den dreißigsten Geburtstag meiner Mutter erinnern, wie sie von einer Bekannten mit einer mit Blumengirlanden geschmückten Kutsche auf eine Fahrt durchs Dorf und die ländliche Umgebung abgeholt worden war. Nun war ich selber schon drüber und ohne Kinder. Man hat, in der Abwesenheit von Kinderlachen und Kindergeschrei, viel zu viele stille Momente, um sich über alles Mögliche – und vor allem über sich selbst – Gedanken zu machen. Treue und Loyalität waren für mich stets oberste Priorität gewesen. Nichtsdestotrotz war es wie ein Schlag ins Gesicht. Ich verknallte mich – wie fast immer – in wen mich nicht wollte oder nicht mehr zu haben war und umgekehrt verschoss sich in mich, wen ich nicht begehrte. Ich mag Männer, zu denen ich aufschauen kann. Ein Mann muss für mich grösser, kräftiger und älter sein.

Meine Kehle brannte, mein Unterkiefer versteifte sich und meine Brust zog sich beengend zusammen, drückte und schmerzte. Es ist bisweilen schonungslos brutal, wenn einen die Realität so abrupt zurück aus seinen Tagträumen holt und traurige Dunkelheit über einen hereinbricht. Dann denke ich, dass ich mir so sehr wünschte, erfolgreich, wohlhabend und glücklich zu werden. Doch Gott oder das Schicksal sorgen schon für uns, wir müssen nur vertrauen. Am Ende ergibt alles einen Sinn. „Ich werde mein Leben lang auf die große Liebe warten und selbst wenn sie erst mit sechzig passiert, werde ich sie noch in vollen Zügen genießen!“, sagte ich tröstend zu mir selbst. Irgendetwas schien mir zu fehlen. Ich träumte praktisch jede Nacht von Sex. Ich hatte eine Leidenschaft in mir, die ich nicht ausleben konnte.

Diese Geschichte ist wie ein Liebesbrief – ein Geständnis meiner tiefen Gefühle.

2 Die neue Kollegin

Anfang Februar kriegten wir eine neue Arbeitskollegin in unser kleines Team – Milena. Sie war gerade vierundzwanzig geworden. Als sie beim zweiten Vorstellungsgespräch, Ende September des Vorjahres, zwei Stunden in unseren Bereich hineinschnuppern kam und ich ihr einen Teil unserer Aufgaben näher zu bringen versuchte, war sie mir alles andere als sympathisch gewesen. Trotz tadelloser Manieren, wirkte sie dominant, überheblich, arrogant und altklug auf mich – eine ausgesprochene Diva. Mein Teamleiter hatte mich am Ende des besagten Nachmittags nach meiner Meinung gefragt. Das hätte er sich sparen können. Ich sagte sie ihm ehrlich, doch er berücksichtigte sie nicht. Es war nicht, was er hatte hören wollen. Ich war enttäuscht. Dennoch versprach ich ihm, seine Entscheidung zu respektieren und zu unterstützen und ihr eine Chance zu geben. Kollegen und Kolleginnen aus dem internationalen Kundenservice munkelten, er hätte sie allein ihres guten Aussehens wegen eingestellt. Auch ich befürchtete, dass er sich davon hatte blenden lassen und hatte Bedenken, dass sie mich mit ihrer selbstsicheren Art unterbuttern würde, wie es schon frühere Arbeitskolleginnen getan hatten.

Milena ist eine hochgewachsene südosteuropäische Schönheit mit iberischem Einfluss. Unter ihren Ahnen vaterseits waren spanische Piraten gewesen. Wäre sie noch ein klein wenig schlanker, würde sie durchaus aus Fotomodell oder Miss durchgehen. Ihre Mutter war in ihrer Jugend Schönheitskönigin in ihrer Stadt gewesen. Sie hatte sich in die engsten Jeanshosen gezwängt, sie sogar nass gemacht und den ganzen Tag über auf der Haut trocknen lassen, damit sie sich perfekt an ihre Beine schmiegten. Ihre Schwestern hatten ihr reingeholfen. Noch heute ist ihr Markenzeichen knallroter Lippenstift. Ohne den verlässt sie das Haus nie. Sie liebt Blumen und Geschenke. Ihren Mann und ihre Kinder hat sie sich entsprechend erzogen. Jeden Monat, wenn sie den Lohn erhalten, erwartet sie von ihnen ein Präsent fürs Ehefrau und Mutter sein. Im Haushalt müssen zwar alle mitanpacken, doch als hervorragende Köchin verwöhnt sie ihre Liebsten dafür mit aufwändigen Gaumenfreuden. Bei Verwandten, Freunden und Nachbarn ist sie als Gastgeberin bekannt und geschätzt. Milena selbst hat ein makellos klassisches Gesicht mit großen dunklen Rehaugen umrahmt von dichten langen Wimpern und perfekt geschwungenen markanten Brauen, einer wohlgeformten Stupsnase, hohen Wangenknochen und einem vollen Mund, von dem man beinahe meinen könnte, die Lippen seien von einem begabten Chirurgen aufgespritzt worden. Außerdem hat sie langes volles glänzend braunes Haar, dessen herrlicher Schimmer an Akazienhonig erinnert und eine schöne Oberweite in C-Körbchen-Größe. Sie erinnert an eine brünette Barbie. Kein Wunder hat Milena zahllose Verehrer, darunter sowohl Männer als auch Frauen. Verständlicherweise ist dadurch bei ihr Selbstbewusstsein durchaus in beträchtlichem Maße vorhanden. Außerdem hatte sie eine regionaltypische Erziehung genossen, die darauf abzielt, das Selbstvertrauen der Kinder ausgeprägt zu fördern. Milena gehört wohl zu den attraktivsten fünf Prozent Menschen. Dennoch macht sie sich laufend Gedanken, wie sie sich durch plastische Eingriffe und Behandlungen noch schöner machen lassen könnte. Aussehen spielt für sie eine zentrale Rolle. Ständig muss sie sich damit profilieren, sich in Szene setzten und erwähnen, was sie für Komplimente und Blicke erntet.

Die ersten Tage, als sie bei uns anfing, war ich nach wie vor skeptisch. Durch meine Erlebnisse bin ich im Verlaufe der Jahre allgemein ein eher misstrauischer Mensch geworden. Ich verhielt mich jedoch freundlich, korrekt und zuvorkommend. Zum Feierabend ihres vierten Tages, musste ich nochmal rasch ins Büro zurück, weil ich mir noch etwas aufschreiben wollte, damit ich es am nächsten Tag nicht vergaß. Milena war nun an ihrem Mobiltelefon. Als ich hereinkam, sagte sie perplex zu der Person am anderen Ende: „Ich kann jetzt nicht reden.“ Natürlich ging ich sofort davon aus, dass sie über mich gelästert hatte. Ich war gekränkt. Bloß kurze Zeit später, begann sich eine andere junge Südosteuropäerin aus dem Kundenservice im gleichen Stockwerk an ihren Rockzipfel zu klammern. Sie gingen nach der Arbeit zusammen weg, machten gemeinsam Pausen und unterhielten sich in ihrer Muttersprache. Das versetzte mir einen erneuten schonungslosen Stich. Ich war eifersüchtig, sehr sogar. Ich hatte begonnen, Milena zu mögen, sie in mein Herz zu schließen. Doch typischerweise rotteten sich auch die Andersstämmigen der zweiten Generation wieder zusammen, obschon sie sogar eingebürgert waren. Die beiden verband wohl einfach mehr – Alter und Herkunft. Als Einheimische wurde ich einmal mehr sozusagen zur Außenseiterin. Es kam mir aussichtslos vor. Merkwürdig, wenn man sich plötzlich wünscht etwas zu haben oder zu sein, was man einst mit verächtlicher Missbilligung betrachtet hat. Warum bildet sich überhaupt diese Parallelgesellschaft der Ausländer und eingebürgerten Ausländer? Sie werden weder in ihrem Ursprungsland, noch im Land der Einwanderung als einheimisch akzeptiert und integriert.

Doch vermutlich hatte ich Milena unterschätzt. Sie vertraute mir mehr und mehr an, erzählte mir viel aus ihrem Leben, von ihrer Religion, ihrer Herkunft und ihrer Kultur. Mein Interesse stieg, mein Horizont erweiterte sich und meine Toleranz wuchs. Ich genoss ihre Gesellschaft. Wir verbrachten Mittagspausen zusammen, gingen spazieren, einkaufen oder in die Kantine und auch Kaffeepausen machten wir nun öfters. Einmal schlug sie sogar vor, dass wir an einem Sonntag etwas gemeinsam unternahmen. Das freute mich sehr. Ich hatte in einem Gespräch unter Frauen erwähnt, dass mir kräftige Männer mit dem Körperbau von Kampfsportlern gefielen. Also bot sie spontan an, mich zu einem typischen Schweizer Kampfsportanlass zu begleiten. Ich erinnere mich, dass meine beiden angeheirateten Cousins diese volkstümliche Freizeitbeschäftigung in ihrer Kindheit ebenfalls ausgeübt hatten. Ich organisierte die Tickets und holte sie dann bei sich zu Hause ab. Sie schien mich doch auch ziemlich gern zu haben. Gelegentlich erwähnte sie voller Begeisterung in den Augen, mir eines Tages ihre beste Freundin Sara vorstellen und ihre zweite Heimat, die Region ihrer ursprünglichen Herkunft, zeigen zu wollen. In Trachten herausgeputzt - Milena in Grün und Pink, ich in Beige, Zitronengelb und Rottönen - tauchten wir an der urschweizerischen Veranstaltung auf. Mehr noch wie die Männer, genossen wir jedoch die kulinarischen Höhepunkte des Festes und das Schießen lustiger Selfies. Ein andermal brachte Milena mir und dem Teamleiter einen Oreo-Cupcake aus einer Bäckerei auf ihrem Arbeitsweg mit. Am liebsten mag ich an den kleinen Kuchen die samtig puderzuckrige Butterkrem. Milena geht es genauso. Wir haben ohnehin beide eine absolute Schwäche für Desserts. Ein weiteres Mal zauberte sie uns eine Süßspeise mit hellem und weißem Toblerone-Mousse, luftig leichtem Schokoladenbiskuit und Schokostreuseln, was sie alles liebevoll in ein verschließbares Plastikgefäß schichtete. Punkto Kochkünste steht sie ihrer Mutter in nichts nach.

Verabredet sich Milena dann allerdings ab und zu wieder mit ihrer Landsfrau vom gleichen Stockwerk auf einen gemeinsamen Mittag oder einen Drink nach der Arbeit, kocht meine Eifersucht unwillkürlich hoch und vergiftet sogleich mein gesamtes Inneres. Ich fühle mich schlagartig niedergeschlagen, traurig, ausgeschlossen und kann nicht länger unbeschwert lachen. Zugleich weiß ich, dass meine Gefühle total daneben und unberechtigt sind. Ich darf ihr nichts vorschreiben, selbst wenn ich selbst sie stets frage, ob sie mitkommen mag, wenn ich mich mit noch einer weiteren Arbeitskollegin abmache. Ich schäme mich zutiefst für meine kindische Eifersucht. Da Milena sensibel ist, merkt sie normalerweise, wenn etwas in der Luft liegt. Doch darüber reden mag ich mit ihr nicht. Gewisse Dinge behält man besser für sich. Ich glaube, es würde unser gutes Verhältnis nur gefährden, wenn sie Bescheid wüsste.

Schlussendlich mochte ich Milena mehr als unser Chef, der sie, gegen meinen Willen, auf Biegen und Brechen hatte einstellen wollen. Sie war für mich wie eine kleine Schwester oder eine gute Freundin. Inzwischen nervte ihn unser fröhlich vertrautes weibliches Geschnatter im Nachbarbüro. Er begann, sie ihrer Leistungen wegen zu rügen. Angeblich hatte sie sich am Vorstellungsgespräch als sehr fleißig und ehrgeizig verkauft gehabt. Die Realität verlieh dann einen etwas anderen Eindruck. Enttäuschung und Ärger waren ihm ins Gesicht geschrieben, während ich glücklich über die unerwartet angenehme Stimmung unter uns beiden war. In Wahrheit hatte sie große private Sorgen, von denen wir damals nichts wussten. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und zu fokussieren. Sie war froh über jede Ablenkung.

 

Eines Tages, in einer Teamsitzung, eskalierte die Situation jedoch in unschöner Weise. Unser Vorgesetzter war ganz offensichtlich überfordert. Mehrmals hatte er Milena bereits auf ihr lausiges Arbeitsverhalten angesprochen gehabt. Sie schien das alles allerdings gelassen genommen zu haben und änderte dementsprechend nichts. Zunehmend fühlte er sich von ihr veräppelt. So kritisierte er eine ihrer mehr schlecht als recht erledigten Aufgaben in meinem Beisein während der Sitzung über eine Dauer von über vierzig Minuten. Einen großen Teil der Schuld schob er dabei auch mir zu. Ich hätte sie mehr unterstützen und mich nicht auf private Gespräche einlassen sollen. Es war unfair. Ich bin ein hilfsbereiter Mensch und äußerst geduldig mit anderen. Natürlich nehme ich es etwas lockerer wie früher, als ich mir oftmals noch kaum Pausen zugestanden hatte, was für meine Gesundheit jetzt wahrscheinlich gar nicht so schlecht ist, aber ich bringe nach wie vor gute Leistungen, während sie in gewissen Phasen praktisch nichts macht und lieber mit Bekannten textet oder im Internet surft. Mir ist das egal. Das gute Klima in unserem Büro ist mir wichtiger und ich meine zu wissen, dass ich, wenn es mal Ernst gilt, mehr zu tun oder sogar Stress ist, auf sie zählen kann. Das reicht mir aus. Ich will sie nicht ständig überwachen. Ich lege Wert auf Selbstverantwortung und ich respektiere sie als erwachsenen, ebenbürtigen Menschen. Als solchen wird sie schließlich auch entlohnt. Im Endeffekt reagierten wir alle über, er mit Überspitzung, sie mit Trotz und ich mit Tränen. Es war ungewollt sehr persönlich und emotional geworden, was aber auch bedeutet, dass es uns nicht gleichgültig war. Dennoch verachte und schäme ich mich für meine extremen Gefühlsausbrüche hinreichend bis zu kleineren Nervenzusammenbrüchen, obschon derartige Schwankungen meine Kreativität fördern. Doch das Zeigen von Schwäche im professionellen Umfeld, empfinde ich als eine Art Gesichtsverlust. Man wird danach nie wieder gleich wahrgenommen und respektiert.

Die ersten Tage nach dieser Besprechung redete Milena weder mit mir noch mit unserem Teamleiter. Sie wich uns wo immer möglich aus, saß da und starrte nur stur auf ihren Bildschirm. Es tat mir weh, obschon ich wusste, dass sich ihre Wut nicht gegen mich richtete. Ihre freundliche Fröhlichkeit fehlte mir. Bald allerdings gingen wir - ich insbesondere aus großem Bedürfnis nach Harmonie - wieder aufeinander zu und sie plapperte mit mir erneut aufgeweckt wie zuvor. „Siehst du, nach dem Regen scheint die Sonne und nach dem Weinen wird gelacht, so heißt es doch auch in einem bekannten Schweizer Volkslied“, meinte ich. Es scheint ihr allerdings schwer zu fallen, beim Erzählen während der Arbeit ein gesundes Maß zu finden. Der Chef bedachte uns mit verurteilenden Blicken. Doch da Milena die Sympathie seiner Vorgesetzten auf ihrer Seite hat, ließ sie sich davon nicht beirren. Diese nächst höhere Vorgesetzte ist zufälligerweise ebenfalls zur Hälfte Südosteuropäerin. Ich befand mich derweil in einer schwierigen Lage zwischen Stuhl und Bank. Mit Milena sitze ich tagtäglich im Büro, mit meinem Vorgesetzten will ich es mir aber ebenfalls nicht allzu sehr verscherzen. Er nämlich überlegte sich zeitweise gar, sich von ihr zu trennen und ihr die Kündigung auszusprechen, sollte sie sich nicht maßgeblich bessern, woran er leider hochgradig zweifelte. Mitunter hatte ich das Gefühl, dass er inzwischen geradezu verbissen nach Gründen suchte, sie zu zerpflücken und zu vergraulen. Es schien mir, als ertrage er es nicht, dass wir zwei Frauen uns so gut verstehen, gemeinsam lachen, gemeinsam leiden. Es war, als ob bei ihm eine starke unterschwellige Eifersucht mitschwang. Er wollte mir meine Freundin nehmen.