Buch lesen: «Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein»

Schriftart:


Pascale Karlin:

Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein

ISBN epub: 978-3-95779-132-0

ISBN print: 978-3-95779-129-0

Diesem eBook liegt die 1. Auflage 2020 der Printausgabe zugrunde.

© 2020 Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,

Frankfurt am Main

Lektorat: Jens Heisterkamp und Silke Kirch, Frankfurt am Main

Typographie und Satz: de-te-pe, Ulrich Schmid, Aalen

Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main,

unter Verwendung eines Entwurfs von Noël Karlin

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Über dieses Buch

Pascale Karlin ist ein Glücksfall: Selbst von Autismus betroffen, steht sie als Beraterin gleichsam an der Grenze zweier Welten und gibt mit ihrem selbstreflektierenden Vermögen wertvolle Einblicke in die Erfahrungsweise autistischer Menschen. Die spezielle Verfassung des eigenen Selbstes, die besonderen Körperempfindungen, die Art der Wahrnehmungen, spezielle Verhaltensweisen: Die Autorin gibt einzigartige und für Außenstehende oft verblüffende Beschreibungen des „Innenzustands“ des Autismus, der sonst oft unverständlich, ja befremdlich bleibt.

Dieses Buch bietet ein unschätzbares Werkzeug für alle pädagogisch und therapeutisch Tätigen und nicht zuletzt für alle, denen ein Verständnis unserer besonderen Mitmenschen mit Autismus am Herzen liegt.

Über die Autorin


Pascale Karlin wurde 1969 als mittleres von drei Kindern in Basel geboren. Sie ist Sozialpädagogin und arbeitet seit 2005 mit Menschen mit Beeinträchtigung. Seit 2016 arbeitet sie als Dozentin zum Thema Autismus und Kommunikation unter erschwerten Bedingungen. Seit 2017 selbständige Fachberatung. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern.

Inhalt

Vorwort von Nelli Riesen

Einleitung

Autismus, ein individueller Lebensweg

Was ist Autismus?

Die Geburt des Autismus

Menschen mit Autismus und ihre Art wahrzunehmen

Wie Menschen mit Autismus ihre Mitmenschen wahrnehmen

Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein

Kommunikation und Sprache bei Menschen mit Autismus

Chronos und Kairos oder Quantität und Qualität der Zeit

Autismus und Erinnerung

Was sind Gefühle?

Autismus und Beziehung

Die Problematik mit dem „Spektrum Autismus“

Autismus und Altern

Hat Autismus eine Bestimmung?

Der Baum fällt lautlos

Dank

Literaturverzeichnis

Gewidmet den Weggefährten

Vorwort von Nelli Riesen

Ich sage „JA“. Und das sage ich oft. Dummerweise ist dies aber das einzige Wort, das ich klar ausdrücken kann. Zudem ist mein „JA“ für meine Mitmenschen oft verwirrend weil es zustimmend, genauso gut aber auch ablehnend sein oder sonst irgendetwas bedeuten kann. Jedenfalls kommt es laut und bestimmt aus meiner Kehle. Sonst sind meine unartikulierten, immer sehr kräftigen Töne eher ein Schreck für die Umgebung. Es kam schon vor, dass eine Basler Tram voller Menschen erschrocken ist, als ich beim Einsteigen dieses eine Wort, begleitet von einem typischen Eselslaut, von mir gab. Einige sind vor Schreck aufgesprungen.

Mein Stimmvolumen hätte mir auch eine Karriere als Operndiva ermöglicht. Zwar nur für sehr moderne Kompositionen, denn ob ich will oder nicht, meine Intonation liegt stets einen Halbton daneben. Dabei liebe ich Musik über alles. Oper für eine Turteltaube, einen Esel und einen Ochsen würde als Titel meinem Lautiervermögen am ehesten entsprechen. – Keine Chance, dass jemand mich so verstehen kann, selbst die Bremer Stadtmusikanten hätte ich in die Flucht geschlagen.

Übrigens neige ich dazu, mir kräftig an die Stirne oder sonst wo an den Kopf zu schlagen. Sei es aus Begeisterung oder aus Verzweiflung

Ich verstehe mich selbst nicht immer. Einzig eines ist mir klar – mein Körper macht oft etwas ganz anderes als mein Geist es bestellt hat. Und zwischen Geist und Körper eingebunden, kommt meine Seele zwischen die Räder und quietscht: Meine Gefühle machen Lärm und den habe ich nicht im Griff.

Ich bin seit meiner Geburt (vor 53 Jahren) auf Begleitung angewiesen. Ab der ersten Stunde im Heim aufwachsen, heißt, viele Begleitpersonen erlebt zu haben. Nicht ganz einfach, wenn man seinen Willen nicht verständlich ausdrücken kann. Zum Glück fand ich meinen Begleiter/Weggefährten, mit dem mich mein Schicksal seit meinem achten Geburtstag zunehmend verbunden hat. Von ihm fühle ich mich ernst genommen und verstanden, denn er urteilt nie, erschrickt nie und lässt sich durch keine Verrücktheiten aus der Ruhe bringen oder gar in die Flucht schlagen.

Heute kann ich mich dank Gestützter Kommunikation (Facilitated Communication, abgekürzt FC) verständlich und einigermaßen klar ausdrücken.

Bis zu meinem 37. Lebensjahr war ich zwar nicht stumm, aber all meine Äußerungen waren völlig unverständlich, besonders weil ich weder Mimik noch Gestik nutzen kann. Auch hier macht mein Körper Unsinn: Wenn ich für ein Foto lächeln soll, verziehen die Muskeln mein Gesicht zu einer Grimasse, beim Zahnarzt beiße ich die Zähne zusammen, obgleich ich doch genau weiß, dass ich den Mund öffnen sollte.

Ich bin ein widerspenstiges Geschöpf in einer doch so gerne geordneten Welt. Meine schier zwanghafte Ordnung, alles an den Rand, an die Wand zu stellen, treibt meine Mitmenschen oft die Wände hoch.

Naja, es ist aber auch zu erwähnen, die chronisch Normalen, oft mehrfach-chronisch Normalen oder Neurotypischen machen das genauso mit mir: Es ist schon ein echtes Problem, gut gemeinte, liebevoll verschnörkelte Ausdrucksweisen zu verstehen. Diese können sich je nach Tagesform des Sprechenden verändern, zum Teil „mit einem Gesicht bis an den Bauch“ (Rudolf Steiner). Humor- und lustlos mir vorgetragen, ist kaum zu erahnen, was der tiefere Sinn ihrer Geräusche sein könnte. Wiederholungen bringen auch fremdsprachigen Menschen kein größeres Verständnis.

Durch das Fehlen der Sprache hatte ich in den ersten 37 Jahren auch keine wirklichen Begriffe. Mein Denken war eher wie ein Nebel, ein vorbeiziehender Duft oder wie eine feine, von fernher klingende Musik. Es gibt östliche Mönche, die gehen, um ihre innere Entwicklung zu fördern, in die Jahre der Stille. Sie gebrauchen die Sprache bewusst nicht mehr. Bei mir war das umgekehrt. Ohne die Sprache, die sich ja nach außen wendet, verband ich mich mit dem Innern. Ich entdeckte, dass ich Gedanken und Gefühle anderer Menschen wahrnehmen konnte. Die geistige Welt war mir näher als die physisch irdische. Das war mein Glück, denn das ermöglichte mir die Bildung, trotz des Umstands, dass ich in der Schule nicht zu gebrauchen war. Ich störte den Unterricht, vor allem die Lehrperson. Aber an Vorträgen, beim Lesen von Büchern und bei Gesprächen war ich innerlich dabei. Physisch nicht im selben Raum zu sein war nie ein Problem. Leider hat diese Fähigkeit, die sich mit dem schriftlichen Spracherwerb etwas zurückgezogen hat, auch problematische Seiten: Ich erlebe meine Mitmenschen in oft sehr verstörender Art. Ich höre, was sie sagen, sehe, wie sie sich geben, und ich erlebe gleichzeitig, wie sie innerlich sind. Ein zuweilen völlig inkongruentes Bild, das mich zu sogenannten Ausrastern bringt: Schlagen, Zerstören und Schreien.

Es ist normal, dass wir nicht immer gleich drauf sind. Wer kennt nicht Tage, an denen wir nicht alles so zustande bringen, wie wir das möchten. Das ist kein Problem. Für mich aber ist es ein schwerwiegendes Problem, mir etwas vormachen zu wollen. Nicht zu sich und der eigenen Eingeschränktheit zu stehen, bringt mich völlig aus dem fragilen Gleichgewicht. Das kommt zuweilen mit dem unsorgfältigen Gebrauch unserer Sprache zustande:

Wir wollen Mittagessen kochen. Die Mitarbeiterin sagt: „Magst du im Keller Kartoffeln holen?“ Das mag höflich und nett gemeint sein, ist aber eine furchtbare Verzerrung der Wirklichkeit. Ohne die Kartoffeln gibt es kein Mittagessen, nicht das geplante Menu. Auf eine solche Frage gibt es nur eins: Sag Nein! (Borchert). Verwirrende Aussagen und sinnloses Gerede wären zu vermeiden, wenn eine klare, auffordernde Bitte ausgesprochen würde: „Hol bitte die Kartoffeln aus dem Keller!“

Mitarbeiter sollen fachlich gut ausgebildet sein. Sie sollen wissen, was die Hintergründe von einzelnen Beeinträchtigungen sind. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Dazu leisten die Ausbildungsstätten einen großen Beitrag.

Das Wissen reicht aber nicht, so wenig mein Wissen genügt, dass ich für eine vernünftige Zahnbehandlung den Mund aufmachen sollte. Die innere, menschliche Entwicklung ist für Menschen wie mich wesentlich. Wenn ich etwas nicht weiß, dann kann ich mir das notwendige Wissen erwerben. Aber meine innere Entwicklung, mein Streben, den anderen Menschen adäquat und auf Augenhöhe auf seinem Weg zu begleiten, das kann ich nicht googlen. Ich muss mir selbst gegenüber, wenn ich eine Begleitperson sein will, streng und freudig auf das noch in mir zu Entwickelnde schauen. Ich muss mich um meine innere Entwicklung selbst bemühen. Da hilft jede Ausbildung nur bedingt.

Denn was brauche ich? Auf jeden Fall keine Besserwisser, keine noch so wissenschaftlich tausendfach Gescheiten, die bringen nur den Untergang. Das, was ich brauche, ist Sicherheit, trotz aller Unsicherheiten auf dieser Welt. Er oder sie müssen nicht alles können, aber ehrlich zu sich und zu mir müssen sie sein. Sie müssen Interesse haben an mir, so, wie ich bin. Verlässlichkeit, was auch als Nächstes geschehen mag, ist unerlässlich. Ich muss sie kennen dürfen, denn ich kann meiner Wahrnehmung oft nicht vertrauen, da bin ich darauf angewiesen, in meiner Begleitung zu lesen, was ich vom Wahrgenommenen halten kann.

Pestalozzi prägte die Begriffskombination: Kopf-Herz-Hand. Das, vorwärts und rückwärts verinnerlicht, ist neben der fachlichen Ausbildung eine perfekte Ausgangslage, um zu einer Haltung zu kommen, die mein Leben sicher und sinnvoll macht.

Vertieft sich das Interesse, kann Liebe entstehen. Nicht die erotische und auch nicht die altruistische ist hier gemeint, sondern die Menschen verbindende Liebe. Die brauchen wir alle. Davon haben wir alle ganz viel. Autismus spielt da keine Rolle.

Ich bin glücklich über mein Schicksal, auch wenn die autistischen Störungen sehr nerven und mir das Leben oft schwer machen. Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, dieses Leben zu leben. An die genauen Umstände erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich weiß, dass dies völlig stimmig ist. Dadurch habe ich eine Aufgabe auf dieser Welt. Es ist mir wichtig, meinen Beitrag zu leisten, damit sich die Menschen besser verstehen.

Pascale Karlin hat den nachfolgenden Text sehr mutig verfasst. Ohne die übliche Absicherung auf wissenschaftliche Grundlagen beschreibt sie die aus eigenen Erfahrungen möglich gewordenen Beobachtungen. Reflektiert und differenziert, wie mir das nicht möglich ist, beschreibt sie, was sich hinter dem heute Autismus Spektrum Störung (ASS) genannten Phänomen verbirgt: Immer ein Mensch, der mitempfindend mit der Welt sein Leben gestalten und sich mit ihr verbinden will.

Pascale Karlin gibt keine fertigen Antworten, sie ist keine Besserwisserin, sondern stößt aufmerksam und liebevoll Türen auf. Türen, die zu Fragen führen, die es längst zu stellen gibt. Ihre Anregungen sollten bedacht und mit dem Herzen durchdrungen werden, wenn etwas davon durch die Hände fließen wird, ist dies ein Gewinn für uns alle.

Ich danke Pascale!

Und dem Leser, der Leserin dieser Schrift wünsche ich den Mut, sich darauf einzulassen.

Es lohnt sich!

Ich kann nur „JA“ sagen.

Nelli Riesen

PS: Nur ein Augenblick – noch eine kleine Geschichte aus dem Zen

Ein Weiser wurde gefragt, wie es gelingen könne, den Augenblick auszukosten, um etwas davon festhalten zu können. Schließlich sei der Augenblick zu wertvoll und unwiederbringlich, als dass man ihn einfach so entschwinden lassen könnte.

„Was denkst du“, fragte der Weise den Fragesteller, „wenn du versuchst, den Augenblick festzuhalten?“

„Ich denke: Jetzt!‘“, antwortete dieser.

„Und dann?“, fragte der Weise.

„In dem Moment, in dem ich ,Jetzt!‘ denke, ist er auch schon vorbei und ich habe nichts mehr davon. Festhalten kann ich nichts.“

„Du hast recht“, erwiderte der Weise. „In dem Moment, in dem du ,Jetzt!‘ denkst, ist das ,Jetzt!‘ schon vorüber. ,Jetzt!‘ sagen, nützt gar nichts.“

„Aber was soll ich tun?“, fragte der andere. „Ganz gleich, was ich denke, es ist sofort verflogen.“

„Du täuschst dich“, sagte der Weise. „Ich will dir ein Geheimnis anvertrauen. Versuch es einmal ganz anders: „Atme tief ein und tief aus. Höre auf den Schlag deines Herzens. Schau, was ,Jetzt!‘ gerade ist und dann sag ganz einfach und ruhig ,Ja‘. In diesem ,Ja‘ kostest du den gegenwärtigen Augenblick voll aus. Viele vergangene Augenblicke und viele Augenblicke, die noch kommen werden. Das ,Ja‘ verfliegt nicht wie das flüchtige ,Jetzt!‘. Es bleibt bei dir. Das ,Ja‘ ist stärker als die Zeit. Es hat Teil an dem, was nicht vergeht“. Der Weise lächelte: „In jedem ,Ja‘ wohnt ein Augenblick Ewigkeit. Du kannst es fühlen.“

Einleitung

Als ich mir die ersten Notizen zu dieser Betrachtung des Autismus gemacht hatte, wusste ich noch nicht, wie komplex die ganze Arbeit werden würde, sobald ich nicht einfach meine Erfahrungen berücksichtigte, sondern versuchen würde, ein möglichst breites Band an Wahrnehmungen und Lebenswelten von Menschen mit Autismus zu beachten und verständlich zu erklären. Mein Ziel ist es nicht, die Symptomatik in all ihren Details zu beschreiben, sondern den Hintergrund, warum diese Symptome auftauchen, verständlich zu machen. Bei meinen Recherchen ist mir aufgefallen, dass von Autismus betroffene Menschen sehr wohl imstande sind, ihre Wahrnehmung und Lebenswelt teilweise sehr genau zu schildern, was ihnen aber fehlt, ist die Reflexion darüber, die Frage nach dem Warum. Diese Lücke will die vorliegende Abhandlung schließen, und zwar nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erklärungen, sondern auf der Ebene des individuellen Menschen, mit der wir tagtäglich praktisch arbeiten können.

Lese ich wissenschaftliche Ergebnisse zur Autismus-Forschung, dann hat auch diese „autistische Züge“. Es sind lauter kleine Puzzleteile, die aber nicht miteinander in Verbindung zu stehen scheinen und sich teils eher widersprechen, als ein zusammenhängendes Gefüge erkennen zu lassen. Den Grund dafür vermute ich in den unterschiedlichen Meinungen darüber, was Autismus sei und was alles in dieses Spektrum gehört. Da sich das Spektrum aber aus ganz unterschiedlichen „Beeinträchtigungen“ zusammensetzt, wird es auch in Zukunft schwierig sein, Autismus tatsächlich zu beschreiben. Ich halte diese Vermischung deshalb nicht für sinnvoll, weil sie mehr Verwirrung als Klarheit schafft. Die gleiche Ansicht vertritt auch die Autismus-Betroffene und Autorin Temple Grandin, wenn sie sagt: „Unglücklicherweise zwängt das gegenwärtige diagnostische System alle Formen des Autismus in dasselbe Diagnoseschema. Aus medizinischer Sicht ist das so, als vermische man Äpfel und Orangen.“ (Ich bin die Anthropologin auf dem Mars, München 1997).

Anhand des vorhandenen Materials – Berichte von Betroffenen und Studien – Autismus zu erklären, kann daher nur fragmentarisch gelingen. So habe ich nach einem anderen Weg gesucht, der zwar nicht mit wissenschaftlichen Belegen überzeugen kann, dafür aber dem Bedürfnis der Betroffenen und ihrer Begleitpersonen, tatsächlich verstanden zu werden beziehungsweise zu verstehen, wohl näherkommen dürfte. Ich bemühe mich darum, die Lebenswelten der Menschen zu verstehen und hier den gemeinsamen Nenner der von Autismus betroffenen Menschen zu finden.

Dieses Gemeinsame, mit dem alle Menschen mit Autismus zwar individuell, aber dennoch kollektiv konfrontiert sind, ist ihre Art der Selbstwahrnehmung. Auf diese Weise lassen sich dann auch Widersprüche miteinander verbinden und verstehen. Wenn von Selbstwahrnehmung die Rede ist, dann ist es notwendig, dass wir einen gemeinsamen Nenner der Begriffe finden, damit nicht neue Missverständnisse entstehen. Daher will ich kurz schildern wie die Begriffe „Ich“, „Selbst“ und „Ego“ in dieser Betrachtung zu verstehen sind:

Mit „Ich“ bezeichne ich das eigene Selbst und verwende es immer dort, wo ich im Sinne von Ich-im Unterschied zu einem anderen Ich (Du) auf mich selbst (objektiv) hinweisen möchte. Für mich als Menschen mit Autismus ist „Ich“ nicht ein gefühltes Selbst, sondern es ist lediglich als erste Person Singular im Sinne des Personalpronomens zu verstehen.

Mit „Selbst“ meine ich ein einheitliches, konsistent fühlendes, denkendes und handelndes Wesen. Es hat die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung in Bezug auf Empfindungen und ist eine Verstärkung zur Reflexion und Betonung des Begriffs „Ich“.

„Ego“ – das lateinische Wort bedeutet „Ich“ und ist nicht mit Egoismus gleichzusetzen.

Wie es mir möglich ist, diese Art der „Beobachtung des Autismus“ zu betreiben, hat mit meiner eigenen autistischen Wahrnehmung zu tun. So wie Temple Grandin, die als Autistin eine Expertin für Tierhaltung wurde, sich ganz in die Perspektive von Rindern hineinversetzen kann, so kann ich mich ganz in die Perspektive unterschiedlicher Lebenswelten von Menschen (und Tieren) hineinversetzen. Was ich dabei erlebe, sind nicht in erster Linie gedankliche, also kognitive Schlussfolgerungen. Es ist so, dass ich die unterschiedlichen Ebenen des Menschen in einer Art Struktur bildlich wahrnehme. Die große Herausforderung besteht darin, diese Bilder in Worte zu übersetzen. Früher habe ich nur Menschen ohne Autismus auf diese Weise gescannt, heute tue ich es vor allem auch bei Menschen mit Autismus. Die erhaltenen Bilder lege ich wie „transparente Landkarten“ übereinander und vergleiche die Strukturen. Anhand der Abweichungen kann ich versuchen, die unterschiedlichen Lebens- und Wahrnehmungswelten zu vergleichen, um so zu verstehen, wo die Missverständnisse entstehen können. Die Art, wie Grandin „methodisch“ bei der Konstruktion von Viehzuchtanlagen vorgeht, kann mancher Wissenschaftler als unwissenschaftlich bezeichnen. Auch meine Art der Arbeit ist in diesem Sinne nicht wissenschaftlich, sondern phänomenologisch. Ob meine Wahrnehmung tatsächlich zutrifft, kann nur in der Praxis festgestellt werden.

Die Missverständnisse sind nicht einseitig. Bis vor Kurzem bin ich davon ausgegangen, dass alle Menschen diese „Fähigkeit“ der Wahrnehmung haben müssen. Wenn dann „Ergebnisse“ geäußert wurden, die meinen eigenen „Erkenntnissen“ erheblich widersprachen, verlor ich immer wieder die Geduld. Zum Beispiel war für mich nicht verständlich, wie sehr Begleiter und Begleiterinnen in ihren Handlungen bei Menschen mit Unterstützungsbedarf ihre eigenen Emotionen, Gefühle von Zu- und Abneigung hineinfließen lassen. Andererseits war meine akribische Sachlichkeit für viele Menschen ein Zeichen von fehlender Empathie.

Das Ziel dieser Abhandlung ist, zu erkennen, dass alle Menschen grundsätzlich dieselben Bedürfnisse haben: Sie wollen geliebt, verstanden, respektiert und in ihrem So-Sein ohne Wenn und Aber angenommen werden.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
26 Mai 2021
Umfang:
102 S. 5 Illustrationen
ISBN:
9783957791320
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
Download-Format:
Text, audioformat verfügbar
Durchschnittsbewertung 4,8 basierend auf 50 Bewertungen
Entwurf
Durchschnittsbewertung 4,8 basierend auf 42 Bewertungen
Audio
Durchschnittsbewertung 4,4 basierend auf 7 Bewertungen
Audio
Durchschnittsbewertung 4,7 basierend auf 1128 Bewertungen
Audio
Durchschnittsbewertung 4,8 basierend auf 28 Bewertungen
Text, audioformat verfügbar
Durchschnittsbewertung 4,3 basierend auf 307 Bewertungen
Text, audioformat verfügbar
Durchschnittsbewertung 4,7 basierend auf 619 Bewertungen
Audio
Durchschnittsbewertung 4,9 basierend auf 189 Bewertungen
Audio
Durchschnittsbewertung 4,9 basierend auf 442 Bewertungen
Text
Durchschnittsbewertung 0 basierend auf 0 Bewertungen