Buch lesen: «Puzzeln mit Ananas»

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Puzzeln mit Ananas Menschen der Spitex erzählen

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.

Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Age-Stiftung

Ernst Göhner Stiftung

Eugen & Elisabeth Schellenberg-Stiftung

Eva Holzmann, Zürich

Fair World Foundation

Interfeminas Förderbeitrag

Katharina Strebel Stiftung

Paul Schiller Stiftung

Spitex Verband Aargau

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Fotografie: Maurice K. Grünig, Zürich

Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und Jetzt

Gestaltung: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich

Satz: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

Bildbearbeitung: Humm dtp, Matzingen

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-477-3

ISBN E-Book 978-3-03919-950-1

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2019 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Inhalt

Vorwort

Die Spitex

Ruth Meyer (1965) Pflegefachfrau

Lange zu Hause wohnen

Claudia Siebenhaar (1987) Pflegeexpertin

Mit allen Sinnen

Eliane Bettoli (1979) Pflegefachfrau Psychiatrie

Leiden lindern – Palliative Care

Flurina Chistell (1988) Pflegefachfrau und Claudia Pally (1962) Pflegefachfrau Onkologie und Palliative Care

Betreuende und pflegende Angehörige

Ton de Man (1964) Fachmann Gesundheit

Erinnern und Vergessen – mit Demenz daheim

Käthi Räber (1963) Hauswirtschaftliche Mitarbeiterin

Abschied nehmen

Fabia Hänni (1987) Pflegefachfrau

Grenzen der häuslichen Pflege

Ardian Deskaj (2001) und Parisa Abdulghani (1997) Lernende Fachangestellte Gesundheit

Anhang

Vorwort

Was die Spitex für das Leben bedeuten kann, erfuhr ich erstmals durch meine Eltern. Die Mutter war an Alzheimer erkrankt, der Vater an Krebs. Sie wohnten noch immer in dem abgelegenen Haus, wo ich vor dreissig Jahren ausgezogen war und wo ich mich eingeengt fühlte, weshalb ich sie selten besuchte. Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwann für meine Eltern zu sorgen, falls ihnen etwas zustossen würde. Als kurz nacheinander die beiden Diagnosen gestellt wurden, befürchtete ich, nicht geben zu können, was sie brauchen würden. An die Spitex dachte ich damals in keiner Weise.

Dann fügte sich manches besser als erwartet. Wir erfuhren, dass meine Eltern am richtigen Ort wohnten: In diesem kleinen Dorf hatten Arzt und Spitex neu den Fachbereich der Palliative Care aufgebaut, um Menschen mit einer unheilbaren Krankheit gut daheim begleiten zu können. Mein Vater, der auf keinen Fall ins Spital wollte, konnte im eigenen Schlafzimmer die Pflege annehmen und verstand sie als Zuwendung. Was die Fachpersonen einbrachten, öffnete meine Beziehung zu den Eltern. Indem ich die Pflegenden beobachtete und mich anleiten liess, wurde ich handlungsfähig, verlor die inneren Widerstände und konnte den sterbenden Vater und später die Mutter betreuen und pflegen.

Mein Vater vertraute den Frauen der Spitex. Er konnte sich zwar oft nicht an ihre Namen erinnern, spürte aber ihr aufrichtiges Interesse, wenn sie fragten, wie es ihm gehe. Eines Morgens erzählte er einer Pflegefachfrau den folgenden Traum, der diesem Buch schliesslich den Titel gab:

«Ich sass an einem runden Holztisch, auf dem ich gedörrte, dreieckige Ananasstücke zu einem grossen Puzzle zusammenfügte. Bevor mir klar wurde, welches Bild entstehen sollte, verlor ich die Geduld. Plötzlich habe ich ein Puzzleteil in den Mund genommen, war zuerst erstaunt, wie hart es war, dann beglückt, wie süss es schmeckte. Im Traum noch habe ich bemerkt, dass ich nun mein Puzzle nicht beenden konnte, weil ein Stück fehlte und ich zudem noch mehr davon essen wollte.»

Die Pflegefachfrau berichtete mir vom Ananastraum des Patienten erst, nachdem er gestorben war. Damit gab sie mir die Lösung für ein Rätsel, das mich beschäftigt hatte: Als mein kranker Vater noch gern gegessen hatte, wünschte er sich plötzlich und dringend gedörrte Ananasstücke. Nein, keine frische Ananas und auch keine Ringe aus der Konservenbüchse wie an Weihnachten. Er wusste genau, wonach ihn gelüstete. Wie der überraschend klare Wunsch entstanden war, hatte ich verpasst zu fragen. Ich brachte aus dem Dorfladen gedörrte Ananasstäbchen, doch er wies sie zurück, verlangte Stift und Papier und zeichnete kleine Dreiecke. Genau solche Ananasteile wolle er im Mund saugen, er könne sie jetzt schon schmecken. In der Stadt fand ich sie tatsächlich. Er strahlte, als ich ihm die Zellophantüte ans Bett brachte. Erst durch die Erzählung der Spitex-Pflegefachfrau erfuhr ich, dass er das Puzzle seines Traums, der in einer seiner letzten Nächte aufgetaucht war, vervollständigen wollte und deshalb Ananas bestellt hatte.

Nach Vaters Tod ging die Zusammenarbeit mit der Spitex weiter, da wir uns um meine Mutter kümmerten, deren Leben durch den Verlust ihres Mannes und durch ihre eigene Krankheit in Fragmente zerfiel. Zusammenhalten konnte sie diese einigermassen gut, solange sie in den vertrauten Räumen lebte. Dort wäre sie auch gern geblieben, aber wir gelangten mit der ambulanten Pflege an unsere Grenzen, hinter denen sich das Pflegeheim befand.

Während der letzten Lebenswochen des Vaters und der jahrelangen, engen Begleitung der Mutter erhielt ich viele unmittelbare Einblicke in die anspruchsvolle Pflegearbeit, die von Aussenstehenden selten richtig wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Ich erfuhr in jener Zeit auch, dass der finanzpolitische Rückhalt der lokalen Spitex-Basisorganisation nicht gesichert war. Der Kontrast zwischen den eigenen Erfahrungen und dem mangelnden öffentlichen Bewusstsein für die Notwendigkeit der Nonprofit-Spitex mit ihren unverzichtbaren Leistungen veranlasste mich, dieses Buch zu konzipieren und zu schreiben. Es entstand aus eigener Initiative, basierend auf vierzig ausführlichen Gesprächen mit Menschen, die für Spitex-Organisationen arbeiten und sich für ein gutes Leben zu Hause einsetzen. Ihre für unsere Gesellschaft wertvolle Arbeit findet jederzeit und überall statt, auf diskrete Weise, weshalb sie kaum gesehen und häufig unterschätzt wird.

Im Buch erzählen Menschen, die bei der öffentlichen Spitex arbeiten, von ihren Beweggründen, diesen Beruf auszuüben, von dem, was sie beschäftigt und berührt und worauf es ankommt in einem Alltag, der kaum Routine kennt. Weil die Arbeit im privaten Umfeld stattfindet, erfahren die Menschen der Spitex viel über das Leben derer, die sie pflegen. Zu den meisten existenziellen Themen wie Autonomie, Würde oder Sterben und Tod haben sie einen direkten Bezug und reflektieren durch ihren Beruf bedeutsame Aspekte des Lebens. Aus den Gedanken und Ansichten der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sind für das Buch acht thematische Kapitel entstanden. Jedes dieser Kapitel beginnt mit einer von mir persönlich erlebten Geschichte, geschrieben aus Sicht der Tochter, die ihre Eltern dank Spitex zu Hause betreuen konnte.

Die themenzentrierten Kapitel wechseln sich ab mit Porträts von Frauen und Männern, deren Aufgaben verschiedene Schwerpunkte haben. Mir war wichtig, bei der Wahl der Interviewpersonen möglichst viele Aspekte der Nonprofit-Spitex zu berücksichtigen, so beispielsweise nicht allein die somatische, sondern auch die psychiatrische Pflege, oder nicht nur die Pflege, Behandlung und Beratung, sondern auch die hauswirtschaftlichen Leistungen sowie den Stellenwert der Spitex als Ausbildungsort von Jugendlichen. Gefunden habe ich die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner über direkte Anfragen bei verschiedenen Spitex-Betrieben, nachdem ich bei meinen Recherchen auf besondere Angebote aufmerksam geworden bin, wie zum Beispiel in Ilanz, wo die Spitex mit dem Palliativen Brückendienst ein Tandem bildet, damit schwer kranke Menschen bis zum Tod daheim bleiben können. Oder wie in Zürich, wo Pflegeexpertinnen in besonders komplexen Situationen beigezogen werden. Dazu gehören auch die Übergänge zwischen Spital und zu Hause oder zwischen zu Hause und Pflegeheim, um die sich mancherorts, so in Balsthal, spezialisierte Teams kümmern.

Was ich damals im Dorf meiner Eltern von der Spitex kennengelernt habe, ist zweifellos aussergewöhnlich, aus Sicht der Tochter. Dass die berufliche Kompetenz und die Wertvorstellungen überall hoch sind, aber in einem Spannungsfeld von Ansprüchen und Abgrenzung stehen, dies erfuhr ich während meiner Arbeit an diesem Buch. Die vielen persönlichen Erfahrungen und Gedanken von Spitex-Mitarbeitenden zeigen, was es für das Leben bedeuten kann, auf den Wunsch nach Selbstbestimmung der Klientinnen und Klienten einzugehen.

Den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern danke ich für ihre Offenheit und das Vertrauen. Ein erstes Puzzleteil zu diesem Buch trug jene Pflegende bei, die mir vom geträumten Geduldspiel mit den Ananasstücken erzählte. Seither fügen sich viele, unterschiedlich geformte Puzzleteile zu einem Bild der spitalexternen Pflege, zu dem auch die persönlichen Erfahrungen der Leserinnen und Leser weiter beitragen werden.

Pascale Gmür

Neben das Bett meiner damals noch jungen Mutter hatte die Gemeindekrankenschwester ein Taburettli, einen kleinen Hocker, gestellt. Darauf platzierte sie für mich, die Dreijährige, den Teller mit Honigschnittchen und die warme Ovomaltine. Immer morgens, vielleicht während einer Woche in jenem weit zurückliegenden April, als Frau Hofstetter nach meiner Mutter schaute und mich verwöhnte. Auf dem Bettrand zu sitzen und zu frühstücken, dabei zu sein, während die beiden Frauen miteinander sprachen, bedeutete Aussergewöhnliches. Ich erinnere mich an ein warmes Gefühl. Den am Fenster stehenden Stubenwagen, in dem mein kleiner Bruder lag, habe ich einzig von den vergilbten, quadratischen Fotos im Gedächtnis. Frau Hofstetter sahen wir später immer mal wieder, wenn sie zufälligerweise in der Nähe war und Zeit für einen kurzen Besuch hatte. Sie erwähnte jene kritischen Tage, als die Mutter nach der Hausgeburt hohes Fieber bekommen hatte, das sich nicht senken wollte. Die Sorgen hatten mich damals wohl nicht erreicht, aus meiner Sicht war es eine ruhige Zeit des Geborgenseins gewesen. Wann es ihr wieder besser ging, weiss ich nicht, nur, dass ich als Mädchen nie mehr im Elternschlafzimmer frühstückte.

Beinahe fünfzig Jahre vergingen bis zum nächsten Frühstück im selben Zimmer. Mein kranker Vater konnte kaum mehr aufstehen, klagte über die geschwollenen Füsse und Waden, zeigte aber jeden Morgen seine Freude über das knusprige Brot und den Kaffee mit Schäumchen. Er bemerkte auch die von seiner Frau liebevoll bestrichenen Schnitten, jede mit zwei verschiedenen Konfitüren. Der Farben wegen, sagte Sylvia, denn es sei ihr schon längst aufgefallen, dass ihr Mann mit den Augen esse. Bruno rückte im Bett etwas zur Seite, damit wir uns neben ihn hinsetzen konnten, das Tablett mit den Tellern und Tassen auf unseren Knien balancierend. Wir redeten kaum in diesen frühen, noch dunklen Stunden.

Erst wenn die Pflegefachfrau der Spitex klingelte, schienen wir zu erwachen. Schnell erhob sich Sylvia vom Bettrand und sagte bestimmt, sie habe das Motorengeräusch erkannt. Dann eilte sie die Treppen hinunter, um die Türe zu öffnen. Das Erwarten der Spitex-Frauen, wie sie meine Mutter nannte, zählte ab jetzt zu ihrem Leben, genauso wie der langsame Verlust ihres Mannes und ihre fortschreitende Alzheimerkrankheit.

Jedes Mal, wenn wir von Wolfhalden nach Heiden zum Einkaufen fuhren, hielt sie Ausschau nach dem Spitex-Wägeli, einem hellblauen Auto mit dem unverkennbaren Schriftzug. Lange war sie davon überzeugt gewesen, in diesem Auto sitze ihre persönliche Besucherin. Erst als wir eines Nachmittags in kurzem Abstand drei dieser Autos kreuzten, schien ihr klar zu werden, dass die Spitex-Frauen auch zu anderen Leuten im Dorf unterwegs waren.

Die Spitex

In jedem Dorf, in jedem Quartier sind Fachpersonen der öffentlichen Spitex unterwegs, um jüngere und ältere Menschen daheim zu pflegen und in ihrem selbstständigen Wohnen zu unterstützen. Wer ist die Spitex, wie hat sie sich entwickelt und mit welchen täglichen Herausforderungen ist eine der grössten Schweizer Arbeitgeberinnen konfrontiert?

Für die Spitex arbeiten mehr Frauen und Männer als für die SBB. Bei der spitalexternen Pflegeorganisation sind es insgesamt 38 000 Personen, bei den Schweizerischen Bundesbahnen 33 000 Personen.1 Damit würde die öffentliche Spitex2 eigentlich zu den zwanzig grössten Arbeitgeberinnen der Schweiz zählen. Aber sie tritt nicht als Grossunternehmen auf, sondern ist föderalistisch und lokal strukturiert, mit gegen sechshundert kleineren und grösseren Basisorganisationen. Ihnen gemeinsam sind der Name und die Angebote, welche häusliche Pflege und Behandlung sowie hauswirtschaftliche Hilfe gewährleisten. Die öffentliche Spitex nimmt alle Aufträge wahr, die ärztlich verordnet sind. Ihr Credo «Überall für alle» gilt wortwörtlich, basierend auf der gemeinnützigen Versorgungspflicht, die in den kantonalen und kommunalen Leistungsvereinbarungen definiert wird. Etwa 284 000 Menschen werden von den Mitarbeitenden der historisch gewachsenen Nonprofit-Spitex daheim gepflegt und unterstützt.

Von der Haus- und Gemeindepflege zur Spitex

Jede Spitex-Basisorganisation hat ihre eigene, lokal geprägte Vergangenheit, die sich vielerorts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.3 Wenn Familien damals in eine Notlage gerieten und sich zu wenig gut um kranke Angehörige kümmern konnten, wurden die private Pflege und Haushaltsarbeiten von protestantischen Diakonissen und Schwestern aus katholischen Ordenshäusern, von Spitalschwestern sowie von Frauen gemeinnütziger und karitativer Vereine geleistet. Besonders stark engagiert waren die fürsorglichen Frauen in den sich verdichtenden Städten mit ihren prekären hygienischen Bedingungen, wo die Ernährung mangelhaft und Krankheiten wie Tuberkulose oder Typhus verbreitet waren. Je nach Ort waren die Kirchen, der Frauen- oder Hauspflegeverein, der Samariterverein oder eine Sektion des Roten Kreuzes in der Hauspflege präsent, mancherorts schon damals beauftragt von der Gemeinde, deren Gesundheitswesen kantonal, kommunal oder kirchlich organisiert war. Man sprach bis in die 1960er-Jahre von Haus- oder Privatpflege, von Familienhilfe oder von Gemeindekrankenpflege, später dann von «Spitex», einer Abkürzung für «spitalextern». Zu Arbeiterfamilien kam in der Regel die Gemeindeschwester für kostenlose oder bescheiden vergütete Krankenbesuche. In bürgerlichen Familien, die genügend Platz und finanzielle Mittel hatten, wohnte eine Privatpflegerin so lange wie nötig und kehrte zwischen den Einsätzen entweder in ihr kirchliches Mutterhaus oder in das Schwesternheim des Berufsverbands zurück.

In der Schweiz begann die Professionalisierung der häuslichen Krankenpflege im Jahr 1859, als Valérie de Gasparin zusammen mit ihrem Mann die École normale de gardes-malades in Lausanne gründete, heute La Source genannt. Es war die erste nichtkirchliche Schule für häusliche Krankenpflegerinnen. Hier erwarben ledige, verheiratete oder verwitwete Frauen theoretische und praktische Pflegekenntnisse, um anschliessend freiberuflich in der häuslichen Pflege arbeiten zu können.

Vierzig, fünfzig Jahre nach der Schulgründung in Lausanne entstanden in Bern und Zürich – später auch in den Kantonen Luzern, Schwyz und Waadt – die ersten Krankenpflegeschulen, die einem Spital angegliedert wurden, teilweise subventioniert durch das Schweizerische Rote Kreuz (SRK). In ländlichen Regionen mit noch fehlenden Spitälern waren es manchmal Hausärzte und Hausärztinnen, die sich für die Ausbildung von Pflegerinnen und Gemeindeschwestern einsetzten. Viele Gemeindeschwestern, entlöhnt von der Kirche oder der Gemeinde, arbeiteten auch in den Arztpraxen mit und gingen zu den Patientinnen und Patienten nach Hause, um die verordneten Behandlungen auszuführen.

Bei manchen heutigen Spitex-Pflegefachfrauen noch immer bekannt ist die Schule für Gemeindekrankenpflege in Sarnen, die 1902 vom Arzt Julian Stockmann und seiner Frau gegründet wurde und bis 2010 Ausbildungsgänge für «Hilfe und Pflege zu Hause» durchführte. Zudem bot das SRK ab 1920 Weiterbildungskurse für Gemeindeschwestern an, die vor allem auch sozialmedizinische Aufgaben wahrnahmen und Familien über gesundheitsförderndes Verhalten aufklärten. Die freiburgische Sektion des SRK baute in Zusammenarbeit mit den Gemeinden und dem Kanton die erste gemeinnützige Spitex auf.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten Frauen die Möglichkeit, eine Schule für Hauspflegerinnen zu besuchen, vielerorts initiiert und geführt von Frauenorganisationen, wie zum Beispiel an der 1895 gegründeten Bündner Frauenschule in Chur. Die neu ausgebildeten Hauspflegerinnen waren sehr gefragt. In der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit fehlten in vielen Branchen die Arbeitskräfte, so auch im Pflegebereich. Mit dem Bevölkerungswachstum und den medizinischen Fortschritten stiegen die Ansprüche an die Gesundheitsversorgung. Es wurden neue Spitäler gebaut, was mehr Personal erforderte, und auch die spitalexterne Pflege wurde immer mehr beansprucht. Kleinere Familien mit berufstätigen Eltern, für die Wohnen und Arbeiten immer seltener am gleichen Ort stattfanden, konnten für kranke und betagte Angehörige nicht mehr umfassend sorgen. Die häusliche Pflege erforderte mehr und mehr professionelle Hauspflegerinnen und Gemeindeschwestern. Konnte früher eine Gemeindeschwester die kranken Menschen eines ganzen Dorfs allein versorgen, entstand mit dem gesellschaftlichen Wandel ein immer dichteres, schliesslich flächendeckendes Versorgungsnetz mit kleineren und grösseren Spitex-Teams.

Als 1952 die Schweizerische Vereinigung der Hauspflegeorganisationen gegründet wurde, fühlten sich die diplomierten Krankenschwestern konkurrenziert und forderten, die Arbeitsbereiche zwischen Gemeindekrankenschwestern und Hauspflegerinnen aufzuteilen. Auch gegenüber Spitälern und Heimen stärkte die Gemeindekrankenpflege ihre Position, indem sie 1986 die Schweizerische Vereinigung der Gemeindekranken- und Gesundheitspflege-Organisationen gründete. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich in einigen Kantonen die beiden Berufsgruppen der diplomierten Gemeindeschwestern und der Hauspflegerinnen angenähert, andernorts gingen sie weiterhin getrennte Wege. 1995 jedoch konnten sich die beiden Organisationen darauf einigen, den Spitex Verband Schweiz zu gründen, mit den beiden Standbeinen der Pflege und der Hauswirtschaft. Ausschlaggebend für die Entstehung der heutigen Nonprofit-Spitex war die Einführung des Krankenversicherungsgesetzes, mit dem 1996 die für alle Personen obligatorische Krankenversicherung entstand und damit auch die Abgeltung der ärztlich verordneten Spitex-Pflege und -Behandlung durch die Krankenkassen. Für die erforderlichen Verträge wollten Bund und Krankenversicherer nicht mit zwei Organisationen verhandeln und hatten nun die vereinte Spitex Schweiz als Ansprechpartnerin.

In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich die Nonprofit-Spitex zur kompetenten Dienstleisterin des Gesundheitswesens, mit gut ausgebildeten Frauen und Männern, die sich dafür einsetzen, dass gesundheitlich beeinträchtigte und fragile Menschen möglichst lange und autonom daheim wohnen können.

Die Krux mit den Kosten

Die Finanzierung der Spitex-Leistungen wurde gesamtschweizerisch geregelt, als 2011 die neue Pflegefinanzierung eingeführt wurde. Bis dahin galten unterschiedliche kantonale Tarifverträge. Doch nun werden die ambulanten Pflegekosten – davon ausgeschlossen sind die hauswirtschaftliche Hilfe und die Betreuung – aufgeteilt zwischen Krankenversicherern, Kantonen, Gemeinden sowie den Patientinnen und Patienten. Der Bund hat für die an die Spitex gehenden Krankenkassenbeiträge drei Tarifstufen festgelegt. Sie richten sich nach dem zeitlichen Aufwand und der Tätigkeit der Pflegepersonen: Am wenigsten erhält die Spitex von den Versicherungen für die Grundpflege, die vor allem Körperpflege beinhaltet und die häufigste Tätigkeit ist. Besser vergütet werden Untersuchungen und Behandlungen, am höchsten eingestuft sind Abklärungen, Beratungen und Koordination.4

Die Klientinnen und Klienten müssen eine relativ geringe gesetzlich festgelegte Patientenbeteiligung5 übernehmen, welche an die Spitex geht. Weitere, verhältnismässig kleine Einnahmen der Spitex sind Spenden und Mitgliederbeiträge – viele Spitex-Basisorganisationen sind als Vereine strukturiert, mit ehrenamtlich engagierten Vorstandsmitgliedern. Für eine grosse Tranche der Lohn- und Betriebskosten, die genauso wachsen wie die Kundenzahlen und die gesellschaftlichen Ansprüche an die ambulante Pflege, kommen Kantone und Gemeinden auf, die gemäss der sogenannten Restkostenfinanzierung gesetzlich dazu verpflichtet sind. Im Jahr 2017 wurden die schweizerischen Nonprofit-Spitex-Betriebe insgesamt zu rund 47 Prozent durch die Kantone und die Gemeinden finanziert.

Für alle Leistungen geben die Krankenkassen zeitliche Durchschnittswerte vor, die begründet überschritten werden können. Die Tarife für die zu verrechnenden Spitex-Leistungen wurden seit Jahren nicht erhöht, im Gegenteil, die Kostenbeteiligung der Krankenversicherer wurde in einigen Bereichen reduziert.6 Damit steigen die Restkosten. Wenn Kantone oder Gemeinden die Restkosten nicht vollständig tragen, werden die Spitex-Betriebe finanziell belastet und zu Sparmassnahmen gezwungen – was sich unmittelbar auf das Personal und somit auf die Angebotsvielfalt und Versorgungsqualität im jeweiligen Einzugsgebiet auswirkt.

Max Moor, Geschäftsleiter des Spitex Verbands Aargau, betont: «Es wird woanders im Gesundheitssystem teurer, wenn die Spitex finanziell eingeschränkt wird. Erhält die Spitex-Versorgung nicht den ihr angemessenen gesundheits- und sozialpolitischen Rückhalt, müssen mehr Leute in ein Heim oder länger im Spital bleiben.» Die spitalexterne, ambulante Pflege arbeitet kostengünstig, da sie keine teuren Gebäude und keine aufwendige Infrastruktur benötigt: Die Spitex verursacht heute nur gerade zwei bis drei Prozent der gesamten Gesundheitskosten, die achtzig Milliarden Franken betragen. «Wenn die Aufwände der Spitex-Betriebe steigen, liegt es an der demografischen Entwicklung», sagt Max Moor. «Wir pflegen mehr und mehr ältere Personen, die wir drei Mal täglich und während einer langen Zeit besuchen. Auch Menschen mit chronischen Krankheiten oder einer Behinderung werden heute dank medizinischen Fortschritten älter und möchten von uns zu Hause begleitet werden, nicht in einer Institution.» Hinzu kommen vermehrt Patientinnen und Patienten, die nach einem kurzen Spitalaufenthalt oder ambulanten Eingriff daheim eine Nachsorge benötigen.

Patient, Klientin oder Kunde?

Die Mitarbeitenden der Spitex sprechen weniger von Patientinnen und Patienten als von Kundinnen oder Klienten. Das Marketing der spitalexternen Branche wie generell des Gesundheitswesens betont die Kundenorientierung, was missverständlich sein kann. Denn bei der öffentlichen Spitex lassen sich nicht einfach Leistungen und Waren einkaufen, wie dies der Kunde in einem Geschäft tut. Was die Spitex daheim schliesslich leistet, geschieht aufgrund medizinischer Diagnosen und zu Hause stattfindender Bedarfsabklärungen – stets mit dem Ziel, das selbstbestimmte und eigenverantwortliche Leben zu respektieren und zu fördern. Dennoch sind die Betroffenen in gewisser Weise auf die Dienstleistungen der Spitex angewiesen. Seit einiger Zeit verwendet die Spitex immer häufiger die Bezeichnung Klientinnen und Klienten.7

Ob Patient, Klientin oder Kunde, niemand möchte auf fremde Hilfe angewiesen sein. Dieser Aspekt spielt mit, wenn lokale Spitex-Organisationen diskutieren, ob die Mitarbeitenden für ihre Einsätze private Kleider oder aber Uniformen mit dem grün-blauen Logo tragen sollen: Einerseits sollte die allgemeine, diskrete Präsenz der Spitex sichtbarer werden, andererseits gibt es Reklamationen von Kunden, die verhindern wollen, dass die Nachbarschaft merkt, wer die Spitex braucht. Viele Autos und Fahrräder der Spitex sind beschriftet, andere nicht. Kleinere Stützpunkte können sich nur wenige Firmenautos leisten, weshalb die Mitarbeitenden mit dem privaten Fahrzeug unterwegs sind und die gefahrenen Kilometer verrechnen. Und dann gibt es auch Pflegefachpersonen, die sich selbst dazu entscheiden, unauffällig zu bleiben: zum Beispiel, wenn sie für beratende Gespräche zu einer Familie mit einem psychisch erkrankten Vater gehen.

Kritik an fehlender Kontinuität

Die gegenüber der Spitex am häufigsten geäusserte Kritik und Ablehnung reduziert sich auf einen Satz: «Es kommt immer wieder eine andere.» Die einen Kunden sprechen aus eigener Erfahrung, andere haben von der mangelnden Kontinuität nur indirekt gehört und zögern die Anmeldung bei der Spitex trotz Anratens der Hausärztin und Angehöriger hinaus, weil sie befürchten, sich an viele fremde Menschen gewöhnen zu müssen. Der Spitex selbst liegt viel daran, stabile und vertrauensvolle Pflegebeziehungen zu schaffen – nicht allein des zentralen Kundenbedürfnisses wegen. «Auch unsere Pflegewerte gewinnen mit der Kontinuität», sagt Peter Eckert, Leiter Fach- und Pflegeentwicklung der Spitex Zürich. «Wenn eine Pflegeperson ihre Kundinnen und Kunden regelmässig besucht und gut kennt, kann sie gesundheitliche Veränderungen früh beobachten, entsprechend reagieren und damit ihre professionelle Eigenverantwortung wahrnehmen. Vertrauensvolle Pflegebeziehungen bedeuten Arbeitsqualität.»

Peter Eckert betont, die Kontinuität der Kundeneinsätze könne und müsse verbessert werden, «indem wir kleine, teilautonome Pflegeteams bilden, wie wir sie bereits in den Fachbereichen wie der Psychosozialen Pflege oder der Palliative Care kennen, wo die spezialisierten Pflegefachpersonen für eine bestimmte Klientengruppe verantwortlich sind». Kleine Teams haben allerdings den Nachteil, dass Krankheitsabsenzen von Mitarbeitenden intern schwierig auszugleichen sind, weshalb andere Teams aushelfen müssen oder jemand seine Freizeit opfert. Die meisten Spitex-Pflegenden wählen eine Teilzeitanstellung und haben damit die Option, ihre Arbeitszeiten der Auftragslage anzupassen.

Trotz hoch motivierten Personals lässt sich in der alltäglichen ambulanten Grund- und Behandlungspflege nicht vermeiden, dass die vorgesehene Kontinuität aus den Fugen gerät. Denn es ist Pflicht der öffentlichen Spitex, alle Aufträge anzunehmen: Am Freitagnachmittag wird der Spitalaustritt des Patienten Huber8 gemeldet, der am nächsten Morgen zu Hause einen Verbandwechsel benötigt – von einer dafür qualifizierten, diplomierten Pflegefachperson des Spitex-Teams, denn eine Pflegehelferin oder ein Fachmann Gesundheit kann und darf die Wunde nicht versorgen. Wie kurz oder aufwendig der Ersteinsatz beim noch unbekannten Herrn Huber sein wird, lässt sich im Voraus kaum einschätzen. Dann ruft Frau Kramer an, die Parkinson hat. Es müsse sofort jemand kommen, denn sie wisse nicht mehr, welche der zahllosen Medikamente sie heute Abend schlucken müsse. Weil es um die Abgabe von Medikamenten geht, ist aus Sicherheitsgründen auch hier eine diplomierte Pflegefachperson gefragt. Gut möglich, dass die Klientin dreissig Minuten vom Spitex-Stützpunkt entfernt wohnt, der verrechenbare Einsatz aber schliesslich nur zehn Minuten dauert. Was in diesem Fall weit mehr zählt, ist die präventive Wirkung des Hausbesuchs: Würde die Klientin falsche oder falsch dosierte Tabletten schlucken, könnte dies den Gleichgewichtssinn beeinflussen und das Sturzrisiko erhöhen. Vorsorgend wirkt auch, dass die Klientin ernst genommen und darin bestärkt wird, sich erneut zu melden, sobald sie Hilfe braucht. Unvorhergesehenes und schwankende Kundenzahlen gehören zum Alltag der häuslichen Pflege. Es ist die anspruchsvollste Komponente der Budget- und Einsatzplanung und fordert von allen Mitarbeitenden ein hohes Mass an Flexibilität, Improvisationsfreude sowie Ausdauer. Wertgeschätzt wird ihr Engagement von den allermeisten Kundinnen und Kunden. Besonders von jenen, die schon seit Langem froh um die zuverlässige Unterstützung sind und es interessant finden, verschiedene Charaktere und Arbeitsweisen der Pflegenden kennenzulernen. Einfacher gestaltet sich die vergleichsweise langfristige Einsatzplanung für die hauswirtschaftlichen Mitarbeitenden, da hier nur selten akute Situationen auftreten. Wer am Donnerstagmorgen zwei Stunden im Haushalt von Frau Zogg hilft, tut dies im vereinbarten Turnus zur immer gleichen Zeit. Auch im hauswirtschaftlichen Aufgabenbereich muss die Spitex alle Aufträge ausführen, die ärztlich verordnet sind.

Keine Versorgungspflicht gegenüber der Bevölkerung haben privatwirtschaftliche, kommerziell orientierte Unternehmen und freiberuflich arbeitende Pflegefachpersonen, die seit etwa zehn Jahren die spitalexterne Branche mitprägen. Sie können Anfragen ablehnen und ökonomisch interessante Aufträge annehmen, indem sie sich beispielsweise auf längere, rentable Einsätze konzentrieren. Diese lassen sich gut planen, sodass die Kundin oder der Kunde morgens dieselbe Pflegeperson wie am Vortag erwarten kann.

Spitex für das Gemeinwohl

Die Nonprofit-Spitex versorgt in der Schweiz über achtzig Prozent aller Menschen, die zu Hause sozialmedizinische Unterstützung erhalten. Als weitaus grösste spitalexterne Pflegeorganisation ist sie in mancher Hinsicht zwar gesamtschweizerisch organisiert, doch jeder einzelne Betrieb hat seine Besonderheiten, bedingt durch die dort arbeitenden Menschen, die Unternehmensphilosophie und nicht zuletzt durch die lokalpolitischen Gegebenheiten. Wegweisend für die öffentlich mitfinanzierten Angebote eines Spitex-Betriebs ist die Leistungsvereinbarung mit den zu versorgenden Gemeinden oder mit dem Kanton. Wünschenswert ist, dass die Spitex durch die politischen Beschlüsse finanziell gestärkt wird, um die bedarfsorientierte ambulante Versorgung zu sichern und zudem Versorgungslücken zu schliessen. Franziska Ryser, Geschäftsleiterin der Spitex Oberes Langetental in Huttwil (BE), betont: «Mir ist wichtig, der Bevölkerung anzubieten, was sie tatsächlich braucht. Die Menschen, welche heute im Pensionsalter sind, entscheiden bewusst, wofür sie ihr Geld ausgeben wollen: für ambulante Leistungen und nicht für einen teuren, unpersönlichen Heimplatz. In Zukunft wird sich diese Haltung weiter verstärken.»

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