Buch lesen: «Leben in der Spur des Todes»
Leben in der Spur des Todes
Pamela Katharina Körner
Leben in der Spur des Todes
Der Unfalltod meiner Familie
und die Reise ins Leben danach
Mein Sohn Karl
† 13. August 2005
Mein Lebensgefährte Kai
† 13. August 2005
Mein Bruder Stephan
† 13. August 2005
Ich widme dieses Buch
meinem Lebensgefährten Kai,
meinen Brüdern Stephan und Michael
und meinen Kindern Karl, Lina und Anna
sowie allen anderen Kindern in unserer Familie,
die nicht leben durften.
Inhalt
Überleben
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Mein Leben vor der Katastrophe
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Heile dein Leben
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Überleben
1
Fast alles hatte ich an diesem Samstag erledigen können, was an Vorbereitungen für die festliche Taufe von Karl, Lina und Anna am nächsten Tag zu tun war. Es sollte ein großer Tag der Freude werden! Kai, mein Lebensgefährte, unser drei Jahre alter Sohn Karl und mein Bruder Stephan waren am Vormittag von Kais bestem Freund zu einer Auto-Ausfahrt abgeholt worden, mit einem schicken Jaguar mit fast 400 PS.
Jetzt, am späten Nachmittag, war ich zwar etwas geschafft, aber zufrieden und voller Vorfreude. Die Zwillingsmädchen Lina und Anna, die kurz vor ihrem zweiten Geburtstag standen, hielten im Kinderzimmer ihren gewohnten Mittagsschlaf und ich begann, das Abendessen für uns alle vorzubereiten. Kais Freund sollte an diesem Abend natürlich mit am Tisch sitzen.
Es war gegen 17 Uhr, als ich die Türklingel hörte.
„Meine Familie kommt von ihrem Ausflug zurück“, dachte ich und ging zur Tür, „bestimmt haben sie Hunger, und ich bin noch nicht fertig mit dem Abendbrot.“
Es waren nicht meine drei und Kais bester Freund, wie ich erwartet hatte – vor der Tür stand ein Polizist, begleitet von zwei Frauen.
Ängstlich schaute ich den jungen Polizisten an, der etwas hilflos vor mir stand. Er sah zu Boden und sagte leise, es habe einen Unfall gegeben. Einen Unfall? Meine Familie im Krankenhaus? Ich muss sofort hin und mich um sie kümmern!
„Einen schweren Unfall“, sagte der junge Polizist und konnte mir immer noch nicht in die Augen sehen – Panik kroch in mir hoch und ich fragte zuerst nach meinem Sohn Karl.
Er schüttelte den Kopf.
Ich schrie: „Tot?“
„Mein Bruder?“ Wieder schüttelte er den Kopf.
„Mein Mann?“ Und noch einmal schüttelte er den Kopf.
Kopfschütteln hieß also: tot!
Nicht verletzt im Krankenhaus. Tot.
Die beiden Frauen, die den jungen Polizeibeamten begleiteten, stellten sich als Seelsorgerinnen heraus. Ich nahm sie nicht wirklich wahr. Ich rief meine beiden besten Freundinnen an, die sofort zu mir kamen und mich stützten und festhielten, denn von diesem Moment an spürte ich nicht mehr den Boden unter meinen Füßen.
Der Unfallverursacher und beste Freund meines Lebensgefährten hatte den Unfall nahezu unverletzt überlebt. Mein Sohn, mein Bruder und mein Mann hingegen waren tot – verbrannt auf einem Rastplatz, zwischen Holzbänken und Müllbergen.
Ich fiel ins unvorstellbar Bodenlose, ich war entwurzelt. Es war, als hätte mir jemand ein Messer in mein Herz gestoßen und es entzweit. Ich fühlte mich ohnmächtig vor Schmerz und Leid.
Die Zwillinge waren in der Zwischenzeit vom Mittagsschlaf aufgewacht – von dieser Minute an waren sie zu Halbwaisen geworden mit einem toten Bruder und ohne Onkel. Sie würden nie mehr zu dritt spielen, der große Bruder würde sie nie beschützen können und Onkel Stephan würde sie nie mehr spazieren fahren, nie mehr mit ihnen schmusen, lachen und spielen.
Wie in Trance rief ich meinen Vater und Kais Familie an.
Mein Vater kam sofort und wir verbrachten die ganze Nacht in Karls Kinderzimmer. Ich schaute auf die Spielsachen, die Plüschtiere, und ich wusste: Karl würde sie nie mehr berühren. Abwechselnd nahm ich immer ein anderes Tier an mich, vergrub mein Gesicht darin, weil ich meinem Sohn immer wieder nahe sein, ihn riechen wollte. Ich nahm einen Berg voll Kleider an mich, die ich schon zum Waschen bereit gelegt hatte, und legte meinen Kopf darauf. Es roch noch alles nach ihm.
Er konnte doch nicht tot sein! Er darf nicht tot sein!
Ich hätte ihn so gerne noch einmal berührt. Ich versuchte immer wieder, den Kuss zu spüren, den wir uns am Morgen beim Abschied auf den Mund gegeben hatten. Es war unsere letzte Berührung gewesen. Die Sehnsucht nach ihm brachte mich fast um den Verstand. Der Schmerz über den Tod von Karl ließ keinen Raum mehr für anderen Schmerz. Obwohl mich der Tod von Kai und Stephan nicht weniger verzweifeln ließ, war doch der sinnlose Verlust des Kindes für mich, seine Mutter, unerträglich.
Fragen quälten mich unermesslich.
Warum?
Hatte mein Sohn im Todeskampf verzweifelt nach mir, seiner Mama geschrieen? Haben sie alle noch gelebt nach dem Aufprall?
Waren Karl, Kai und Stephan so schwer verletzt, dass sie den Flammen des todbringenden Feuers, das von hinten immer näher kam, nicht entfliehen konnten?
Waren sie eingeklemmt?
Haben sie noch etwas sagen können – und wenn ja, was?
Mussten sie leiden?
Wer starb zuerst?
Wenn mir vor Erschöpfung die Augen zufielen, dann hatte ich immer das Bild eines brennenden Autos vor mir.
Mein Kind war gestorben und ich war nicht bei ihm. Ich hatte versagt, nicht genügend aufgepasst. Die Polizei sagte mir später, dass sie unseren Sohn zuerst nicht finden konnten. Sein Vater lag über ihm. So starb Karl wenigstens in den Armen seines Vaters – zusammen sind sie hinübergegangen. Das tröstete mich ein klein wenig.
Mein Vater und ich hielten uns die ganze Nacht gegenseitig, drückten uns aneinander. Wir konnten nicht verstehen, was passiert war, dass uns Gott nicht wenigstens einen unserer Lieben zurückgebracht hat. Ich fluchte auf Gott, wo war seine schützende Hand? Er hatte mich verlassen.
Wo war er, der gute, der gütige – der liebe Gott?
Rasch tritt der Tod den Menschen an, es ist ihm keine Frist gegeben. Es stürzt ihn mitten in der Bahn, es reißt ihn fort vom vollen Leben.
Friedrich Schiller
2
Das war also der Tag, als der Tod mein Leben berührte. Endgültig.
Ich konnte nicht begreifen, wie ein ganz normaler Tag sich von einer Sekunde auf die andere in ein schwarzes Loch hatte verwandeln können, das unerbittlich und unumkehrbar alles verschlang.
Hatten wir nicht einen angenehmen Morgen gehabt an diesem Tag? Ich hatte – warum, weiß ich nicht mehr – unsere Kinder besonders hübsch angezogen und sogar noch ein Foto von allen dreien gemacht.
Hatten nicht erst am Vormittag „meine drei Männer“ fröhlich unsere Wohnung verlassen, um mit Kais Freund einen Ausflug zu machen? Stephan, mein Bruder, hatte eigentlich nicht mitfahren wollen. Doch ich hatte ihn ermutigt, sich „etwas Gutes“ zu tun, schließlich stand er mir Tag und Nacht bei der Versorgung meiner Kinder zur Seite.
War es nicht einfach ein ganz normaler Tag gewesen? Ich hatte viel um die Ohren gehabt, denn am nächsten Tag sollte die Taufe von Karl und den anderthalb Jahre jüngeren Zwillingsmädchen Lina und Anna sein. Viele Vorbereitungen waren noch zu treffen und ich war den größten Teil des Tages in der Stadt unterwegs gewesen, um alles zu besorgen.
Doch es war schließlich alles andere als ein normaler Tag: Der Ausflug sollte für Kai, Stephan und Karl eine Fahrt in den Tod werden, meine Familie war von einer Minute zur anderen unverschuldet ins Jenseits katapultiert worden! Das Foto, das ich noch morgens gemacht hatte, sollte das letzte Foto sein, auf dem unsere drei Kinder gemeinsam zu sehen sind. Und es sollte das letzte Foto meines Sohnes Karl sein – wenige Stunden später war er tot.
Was war das für ein Tag, an dem ich keine Unruhe, keine böse Vorahnung oder dergleichen in mir gespürt habe. Nichts, was mich hätte beunruhigen können – bis zu dem Moment, als der junge Polizist vor mir stand. Im Nachhinein frage ich mich immer wieder, wie es sein kann, dass ich als Mutter nicht spüren konnte, dass mein Kind schon seit einigen Stunden tot war.
Ich wollte wenigstens Abschied nehmen von meiner Familie. Sie noch einmal sehen, berühren. Doch als die Kriminalpolizei ins Haus kam, um Speichelproben von mir zu entnehmen, da musste ich erkennen, dass mir nicht einmal dieser letzte Abschied möglich war – mein Bruder und mein Lebensgefährte hatten nicht identifiziert werden können. Deshalb die Speichelproben.
Als die Kriminalpolizei wieder gegangen war und ich wusste, dass meine Familie zur Obduktion nach Freiburg gebracht werden würde, fasste ich den Entschluss, dem Leichenwagen hinterherzufahren – wenigstens im Tod wollte ich da sein. Aber ich sah Kai, Karl und Stephan nie wieder!
Als ich mit beiden Seelsorgerinnen auf der Couch im Wohnzimmer saß, bat mich der Polizist um die private Telefonnummer des Fahrers, da seine Frau von dem Unfall noch nicht unterrichtet war. Auch ich hatte erst sehr spät von dem Unfall unterrichtet werden können (er hatte sich schon am Samstagvormittag ereignet), da die Polizei nicht wusste, um wen es sich im Auto handelte. Der Polizist rief von meinem Telefon aus die Frau des Fahrers an und überbrachte ihr die Nachricht vom Unfall. Sie fragte nach meiner Familie – ich hörte durch den Hörer einen lauten Schrei.
Unter Schock saß ich, wie lange weiß ich nicht mehr, im Wohnzimmer, bis ich mich irgendwann entschloss, das zubereitete Essen zu entsorgen. Ich verpackte alles in Tüten und verließ das Haus, um es gleich in den Mülltonnen zu entsorgen. Da kam mir in unserer Einfahrt die Frau des Fahrers in Begleitung einer Freundin, die ich auch kannte, entgegen und richtete mir von ihrem Mann aus, dass ich mir keine Sorgen machen müsse, er würde für mich und meine Kinder sorgen. Auf der einen Seite war es mutig von der Frau, mich aufzusuchen, auf der anderen Seite konnte ich eine solche Begegnung nur im Schockzustand aushalten. Ich ging schnell wieder ins Haus zurück.
Erst einige Zeit später erfuhr ich, dass die Frau des Freundes auch an dem Ausflug hatte teilnehmen wollen. Als der von ihr bestellte Babysitter, eine ältere Dame, kam, um auf ihren damals einjährigen Sohn aufzupassen, fiel die ältere Dame so unglücklich, dass sie sich den Arm brach. So nahm die Frau des Freundes nicht an der „Todesfahrt“ teil, weil sie den Babysitter in das Krankenhaus fuhr. Das ist Schicksal – ihre Zeit war noch nicht gekommen.
Ich rief den Freund, den Fahrer und damit Verursacher des Unfalls an, ich wollte Antworten. Ich flehte ihn an, mit mir zu reden. Was waren ihre letzten Worte? Sind sie bei lebendigem Leib verbrannt? Wie ist es passiert? Ich hörte zwar viele Worte, bekam aber doch keine Antworten.
In den Tagen danach funktionierte ich nur. Ich telefonierte zuerst mit dem Pfarrer und teilte ihm mit, dass es morgen keine Taufe geben würde, sondern dass wir eine Beerdigung organisieren müssten. Beim Bäcker bestellte ich die Tauftorte ab. Ich rief alle Freunde meines Lebensgefährten an, wir weinten gemeinsam am Telefon. So vieles musste geregelt werden und ich war froh und dankbar, dass mich ein Rechtsanwalt und guter Freund in der Abwicklung aller notwendigen Aufgaben unterstützte.
Die Beerdigung erlebte ich immer noch im Schockzustand. Drei weiße Urnen mit den Namen meiner Lieben. Sie waren gefüllt mit den Überresten der Körper vom Rastplatz. Neben der Urne meines Sohnes stand seine Taufkerze. Sie brannte zum ersten Mal am Tag seiner Beerdigung. Wir waren eine Stunde vor Beginn der Trauerfeier da. Gestützt von meiner Freundin setzte ich mich in die erste Reihe. Meine andere Freundin stützte meinen Vater, ich konnte ihm in diesem Moment keinen Halt geben, drohte ich doch selbst jeden Augenblick zusammenzubrechen. Ich musste immer wieder die Urnen anfassen. Mir fehlte das „Abschiednehmen“, das Anfassen, das Begreifen.
Anna und Lina hatte ich bei meinem Babysitter gelassen, der in der Vergangenheit schon oft auf die beiden aufgepasst hatte. Als wir, mein Vater, Kais Familie und ich das Haus verließen, weinten beide Kinder. Schrecklich – es war, als hätten sie gewusst, dass wir uns auf den Weg machen, ihren Vater, ihren Bruder und ihren Onkel zu Grabe zu tragen.
Ich bedankte mich innerlich bei meinem Lebensgefährten für die gemeinsame Zeit mit ihm, für seine mir entgegengebrachte Liebe, für Anna und Lina, die mich fürs Erste am Leben hielten.
Vor Karls Urne fehlten mir die Worte. Sein Tod hat mir sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Fassungslosigkeit beim Lesen seines Namens auf der Urne. Unser Wunschkind, mein Erstgeborener in einer Urne? Nein, nein, nein! Ich wollte ihn zurück haben. Ich wollte nicht ohne ihn leben.
Meinen Bruder Stephan und mich verband eine große Geschwisterliebe. So sehr wir uns auch in den Kindertagen stritten, desto enger wurde unsere Verbindung als Erwachsene. Egal, in welcher Situation ich mich befand: Immer half mein Bruder mir.
Nach der Beisetzung fuhren wir nach Hause, an Essen oder ein Beisammensein war nicht zu denken. Anna und Lina liefen mir strahlend in die Arme – dem Tod und dem Leben so nah.
Meine neues Zuhause wurde der Friedhof, während das Leben um mich herum einfach so weiterging. Die Vögel zwitscherten ein Lied, die Sonne ging auf und versprach einen schönen Sommertag, Geschäfte öffneten – so wie immer, als wäre nichts passiert. Ich befand mich mitten in diesen für alle anderen so alltäglichen Normalitäten – aber ohnmächtig vor Schmerz, hilflos, orientierungslos, heimatlos.
In der darauf folgenden Zeit ging ich jeden Morgen auf den Friedhof, legte mich dort vor das Grab, weil ich keine Kraft mehr hatte zu stehen. Die Kieselsteine drückten sich in meine Haut, aber das war nichts gegen meinen Seelen- und meinen Herzschmerz. Andere Besucher hörten meine Verzweiflung, wollten mich trösten.
Doch wer hätte mich trösten können?
Klopfe an die Pforte des Himmels und achte auf das Geräusch.
Zen
3
Wenige Tage nach dem Unfall begann ich zu beten – so unverständlich es auch für manchen klingen mag: Es war mir ein Bedürfnis, mit Gott zu reden:
Ich klagte ihn an.
Ich rief ihn an, das Geschehene rückgängig zu machen.
Ich flehte ihn an, mir den Schmerz aus dem Körper zu nehmen.
Ich bat ihn um Hilfe.
Ich beschwor ihn, mir die Kraft zu geben, mit dem, was ist, fertig zu werden.
Ich betete und flehte morgens, wenn ich meine Mädchen in den Kindergarten gebracht hatte und sie meinen Schmerz und meine Verzweiflung nicht sehen konnten, und immer nachts, wenn die Ablenkung vom Tag fehlte.
Man kann in der Nacht niemanden anrufen. Ich konnte es zumindest nicht, und ich wollte es auch nicht. Das Alleinsein, sich und den Schmerz aushalten zu müssen, war schlimm, aber auch heilsam, wie ich heute weiß.
Ich war noch nie ein Freund von Tabletten und Alkohol gewesen. Statt mich mit Drogen irgendwelcher Art oder mit sinnloser Ablenkung zu betäuben, betete ich – und spürte, dass mich etwas trägt. Ich konnte sogar immer einschlafen nach dem Gebet, nach dem Gespräch mit Gott. Und irgendwann verspürte ich auf einmal einen großen Frieden in mir. Ich kam für einige Zeit zur Ruhe. Dabei half mir bei allem sicherlich sehr mein spirituelles Wissen, das ich mir über viele Jahre hinweg angeeignet hatte.
Drei Tage nach der Beerdigung wurden meine Zwillingsmädchen zwei Jahre alt. Lina und Anna zuliebe „feierten“ wir gemeinsam mit meinen Freundinnen diesen Tag, so gut es ging. Ich hatte mir lange überlegt, ob ich diesen Tag feiern oder lieber „einfach übergehen“ sollte. Natürlich war keinem von uns nach Singen, Tanzen, Glücklichsein zumute. Ich entschied mich aber dann doch für eine kleine Feier. Sollte ich aufhören, die Geburt der beiden Mädchen zu feiern, weil der Tod an unsere Tür geklopft hatte – und eingetreten war? Der Tag von Anna und Linas Geburt war ein Freudentag, ich wollte ihn auch in diesem Jahr feiern. Denn für mich hatte das „Fest“ auch etwas mit der Wertschätzung meinen Kindern gegenüber zu tun.
Wir lächelten uns an, wenn wir die glücklichen Gesichter der Mädchen beim Auspacken der Geschenke sahen. Wir weinten, wenn wir glaubten, dass es niemand sehen würde. Die beiden Kindergesichter hielten mich am Leben.
Die Familie meines Lebensgefährten aber war darüber entsetzt.
Am Abend, als alle weg waren und die Mädchen schliefen, brach ich wieder zusammen. An Schlaf war nicht zu denken. In jeder Zelle meines Körpers spürte ich Schmerz. Wie immer setzte ich mich auch in dieser Nacht ins Wohnzimmer, stellte Fotos von meiner Familie auf, eine Kerze dazu, und weinte bitterlich. Ich konnte nicht glauben, was mir das Schicksal hier auferlegt hatte. Es heißt doch immer, dass wir Menschen immer nur so viel auferlegt bekommen, wie wir tragen können.
Und ich führte mein Gespräch mit Gott.
Wieder brach es aus mir heraus, ich haderte mit dem Allmächtigen, ich beschimpfte ihn, ich erklärte ihm, dass dies zu viel sei, dass ich dies nicht tragen könne.
Ich betete und wurde dabei immer ruhiger, meine Tränen wurden weniger und ich fühlte mich von einer unsichtbaren Kraft getragen. Diese Kraft würde mir helfen, weiter zu gehen, auch wenn mir die Zukunft schreckliche Angst machte – ich wollte mich dieser Zukunft und diesem Leben nicht wirklich stellen.
Aber nun versuchte ich, so gut es ging, ein „normales Leben“ zu leben. Doch hatte ich gleichzeitig das Gefühl, dass das Leben mich mit all’ seiner Kraft zerdrückte. Es forderte, es überforderte mich mit allem, was zum Alltäglichen gehört. Ich saß nächtelang vor Ordnern mit Unterlagen, hatte ich mich bisher doch noch nie um diese „Lebensbereiche“ kümmern müssen, und es kostete mich viel Kraft und Zeit, bis ich mir einen Überblick über die Dokumente in den Ordner verschafft hatte. Zum Glück war Kai ein sehr ordentlicher Mensch, der alles übersichtlich abgeheftet hatte.
Am schlimmsten aber fiel mir das Abfassen der Kündigungsschreiben an Versicherungen und Krankenkassen, immer wieder musste ich den gleichen Satz zu Papier bringen: „Hiermit teile ich ihnen mit, dass mein Sohn – mein Lebensgefährte – mein Bruder am 13. August 2005 tödlich verunglückt ist.“ Und jedes Mal musste ich darauf achten, dass das Blatt nicht nass wurde von meinen Tränen. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages solche Briefe würde verfassen müssen.
Tagsüber ging ich „tapfer“ in die Stadt, um mich abzulenken, was mir natürlich nicht gelang. Meist musste ich diese fluchtartig wieder verlassen, denn beim Anblick der Eisdiele oder dem Spielplatz musste ich sofort an meinen Sohn Karl denken – und vor allem daran, dass er dort nie mehr spielen oder ein Eis essen würde.
Die Sonnenbrille wurde mein wichtigster Begleiter. Sie schützte mich vor neugierigen Blicken und versteckte meine Tränen, wenn ich sie trotz aller Anstrengungen nicht mehr zurückhalten konnte. Wenn ich mich in ein Café setzte, bemerkte ich, dass Menschen sich gegenseitig anstießen und anfingen zu tuscheln. Sie redeten, schauten dann wieder zu mir herüber, sahen weg, wenn ich den Blickkontakt suchte.
Ich war die mit dem Unfall. Andere wiederum gingen mir aus dem Weg, wofür ich damals Verständnis hatte – was sollten sie auch sagen? Manch einer wagte sogar den Kontakt mit mir und wollte mich trösten, indem er mir vom Tod der Mutter oder Oma erzählte, die mit 80 Jahren (!) vor Kurzem verstorben war. Das wollte ich nun wirklich nicht hören. Mein Sohn durfte nur drei Jahre und fünf Monate alt werden, Kai und Stephan starben mit 38 Jahren.
Ich empfand das als ungerecht.
Nach den Sommerferien brachte ich Anna und Lina in den Vorkindergarten, in dem auch mein Sohn gewesen war. Wir betraten das Gebäude und als erstes fiel mein Blick auf eine große, bunte Foto-Collage an der Wand, die fröhliche Kinder auf einem Ausflug zeigt – Karl mitten in der Gruppe auf einem Baumstamm sitzend und in die Kamera lächelnd. Die Kindergärtnerinnen hatten damit gerechnet und die Bilder von der Wand nehmen wollen. Aber sie hatten es vergessen. Jetzt war es zu spät, meine Augen füllten sich mit Tränen, in meinem Hals bildete sich ein riesiger Kloß. Ich ließ die Mädchen im Kindergarten, eilte ohne ein Wort zum Auto und fuhr direkt in einen Wald.
Allein und umgeben von Bäumen und Sträuchern schrie ich mir dort den Schmerz aus dem Körper. Dieser war so heftig, dass ich glaubte, daran zugrunde zu gehen. Ich schrie oft, aber, wie sich später herausstellen sollte, nicht oft genug.
Situationen dieser Art erlebte ich noch oft. Kinder, die Karl kannten, liefen auf mich zu und fragten nach ihm. Aber wie erklärt man Kindern den Tod? Ich sagte, dass Karl jetzt im Himmel und ein Engel sei: „Nein, er kommt nicht wieder...“ Manchmal fuhr ich auch in eine andere Stadt, um auf andere Gedanken zu kommen. Meine Kinder im Zwillingswagen zogen die Aufmerksamkeit auf sich und ich war dort, obwohl fremd, mit anderen Menschen, besonders mit Müttern schnell im Gespräch – ob ich wollte oder nicht. „Haben sie noch andere Kinder?“, wurde ich oft gefragt. Da stand ich nun, nicht wissend, was ich sagen sollte. Ich wollte nicht jedem „meine Geschichte“ erzählen, doch wollte ich auch nicht sagen, dass Anna und Lina meine einzigen Kinder sind, ich empfand es als Verrat an Karl. Ich habe drei Kinder, eines ist nicht hier auf der Erde, wo immer er auch ist, er ist mein Kind, ich habe ihm das Leben geschenkt. Heute entscheide ich meine Antwort situationsabhängig.
Einige Wochen nach dem Unfall stellte ich ein Kreuz an der Unfallstelle auf. Da auf das Kreuz drei Namen passen mussten, benötigte ich eines, das sonst bei Seebestattungen üblich ist. Ich stellte es auf, weil ich die Hoffnung hatte und habe, dass besonders die Motorradfahrer nicht mehr so schnell die berühmte Schwarzwaldhochstraße entlang rasen würden. Ich dachte an die vielen Eltern. Keine Mutter sollte das erleben, was ich gerade durchmachte.
Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Ich stand oft auf diesem kleinen Rastplatz, an dem meine Familie den Tod gefunden hatte, und alle rasten sie an mir vorbei, die Autofahrer und vor allem die Motorradfahrer. Nach einem Jahr baute ich das Kreuz wieder ab.
Mein Kreuz schreckte niemanden ab.
Der Tod bedeutet eigentlich nichts.
Ich bin nur in den nächsten Raum hinübergewechselt.
Bete, lächle, denk an mich, bete für mich.
Lass meinen Namen zu deinem Wortschatz gehören,
sprich ihn aus, ohne große Dramatik, ohne eine Spur von Schatten auf ihm.
Warum sollte ich aus deinen Gedanken verschwinden,
nur weil ich deinen Augen entschwinde?
Ich warte auf dich, während einer kurzen
Unterbrechung, irgendwo, sehr nahe.
Alles ist gut.
Henry Scott Holland