Briefe aus Fernost – 1907 – Oberzahlmeister Otto Schulze berichtet

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Briefe aus Fernost – 1907 – Oberzahlmeister Otto Schulze berichtet
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Otto Schulze

Briefe aus Fernost – 1907 – Oberzahlmeister Otto Schulze berichtet

Band 78 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Vorbemerkungen zu den Texten

Zur Person Otto Schulze

Dienstreise des Offiziers der kaiserlichen Marine Otto Schulze 1906 nach Fernost – Ausreise mit Salondampfer PRINZ-REGENT LUITPOLD

Kiautschou, das preußische Hongkong des deutschen Kaisers Wilhelm II

Berichte aus Tsingtau

Reise nach Tschemulp? (Korea)

Reise auf dem Yangtsekiang ins Innere Chinas

Bericht über eine Reise nach Peking

Weitere Informationen

Die maritime gelben Buchreihe

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers


Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig bis zu 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.


Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!

Dieser neue Band 78 berichtet vom Berliner Oberzahlmeister der kaiserlichen Reichsmarine Otto Schulze und seiner Reise nach Tsingtau, damals deutsche Kolonie des kaiserlichen Reiches in China. Otto Schulze hat in der Zeit von Oktober 1906 bis März 1913 seine Erlebnisse, Erkenntnisse sowie die Arbeit für die Marine in China schriftlich festgehalten und per Post an seine Verlobte Frieda Neuendorf geschickt. Der Nachlassgeber, Herr Bernd Hoeckner, ein Enkel des Briefschreibers, hat dem Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv 300 Briefe und 800 Postkarten seines Großvaters bereitgestellt. Die Briefe sind zu einem großen Teil sehr persönlich und beschreiben auch die Gefühlslage, in der sich das getrennte Paar befand.


Transliteriert wurde der Nachlass ehrenamtlich von Berliner Senioren – Bernd Liebig, Elisabeth Germelmann, Christine Jeiter, Roland Schmidt und Ingrid Schönfeld –, die als kundige Kenner der Kurrentschrift sich monatelang der Entzifferung der Briefe und Postkarten und der Übertragung in digitale Dateien widmeten. Dem Teilnehmer des Ehrenamtsprojektes, Herrn Bernd Liebig, gebührt für die Koordinierung der Arbeiten besonderer Dank.

Die Briefe des Otto Schulze an seine Braut enthalten viele intime Ausführungen. Damit es für den Leser nicht zu eintönig und anstrengend wird, alle privaten Details dieser Brautbriefe lesen zu müssen, wurden sie nur am Anfang der Brieffolge und später an einigen Stellen auszugsweise zur besseren Einordnung kursiv dargestellt abgedruckt, nach Absprache mit dem BB-WA ansonsten in diesem Buch nicht weiter berücksichtigt. Sie lesen also in der weitern Brieffolge nur die wesentlichen kulturgeschichtlich interessanten Passagen und die sehr aufschlussreichen Reiseschilderungen ohne die umfangreichen rein privaten Textteile.

Von Fernost aus schreibt er seiner Braut in Liegnitz in Schlesien von seinen abenteuerlichen Reisen nach Korea und auf dem Yangtsekiang weit ins Innere Chinas und nach Peking. Die Gesamtzahl der Briefe Otto Schulzes sprengen den Umfang eines Buches in Leimbindung. Darum werden in diesem Band 78 nur die Briefe bis zum Jahreswechsel 1907 gedruckt. Weitere Texte und Bilder folgen in einem nächsten Band. Zurück nach Deutschland reiste Schulze mit der Transsibirischen Eisenbahn durch das weite Zarenreich.

Die Texte werden in Abänderung des Urtextes überwiegend in der heute gängigen Rechtschreibung wiedergegeben.

Hamburg, im November 2014 Jürgen Ruszkowski


Vorbemerkungen zu den Texten

Der Nachlass umfasst zunächst 136 handschriftliche, durchnummerierte Briefe des Berliners Otto Schulze an seine Verlobte Frieda Neuendorf aus der Zeit ab 1906/07.

Schulze war Oberzahlmeister der Reichsmarine in Tsingtau und berichtet in seinen Briefen von der Überfahrt mit dem Dampfer „PRINZ REGENT LUITPOLD“ des Norddeutschen Lloyd über Shanghai nach China und dann über das Leben als Offizier in der deutschen Kolonie. Schulze schreibt auch über seine Exkursionen nach Korea, in die chinesische Provinz Petschili und den Petschili-Golf sowie über eine Reise nach Peking und auf dem Fluss Jangtse.

Die Briefe sind in fünf Bänden mit preußischer Fadenheftung gebunden und umfassen insgesamt 2.244 Seiten. Der erste Brief stammt vom 12. Oktober 1906, der letzte vom 17. November 1908. Sie wurden dem Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv (BB-WA) von Otto Schulzes Enkel überlassen. Den fünf Bänden werden weitere ca. 150 ungebundene Briefe sowie etwa hundert Postkarten folgen.

Der Bestand wird Grundlage für die Fortsetzung des ersten erfolgreichen Transkriptionsprojektes sein, das in der ersten Jahreshälfte die Reistagebücher des Schiffsarztes Dr. Alfred Abenhausen sowie die Briefe an ihn transkribiert hat.



Zur Person Otto Schulze


Oberzahlmeister Otto Schulze



Der Briefschreiber Otto Schulze


die Empfängerin der Brautbriefe, Frieda Neuendorf



Gustav Ernst Otto Schulze, geboren am 9. August 1877 in Berlin

Schulbildung: Zeugnis der Reife für Prima am Gymnasium zu Groß Lichterfelde bei Berlin

Seine Eltern: Friedrich und Minna, geb. Fiedler

Otto Schulze und Frieda Neuendorf heirateten am 27. Mai 1909

 

in Liegnitz / Schlesien.


Sie hatten drei Kinder:

Wilhelmine Mathilde Anneliese, * 16.05.1914 in Wilhelmshaven

Johanna Elisabeth Renate, * 13.03.1918 in Wilhelmshaven

Karl Friedrich Egbert, * 15.10.1921 in Wilhelmshaven


Einige Daten zum militärischen Werdegang und Wirkungsbereich:

Diensteintritt als Einjährig-Freiwilliger am 1. Oktober 1895 im Alter von 18 Jahren bei der 2. Kompanie des Garde-Schützen-Bataillons zu Groß Lichterfelde bei Berlin

Zahlmeister-Assistent in Kiel – 1. Werft-Division – ab 1.10.1896

ab 24.06.1898 in Wilhelmshaven

Marine-Zahlmeister ab 11.04.1903

Marine-Ober-Zahlmeister ab 7.04.1906

Einige Beispiele für Bordkommandos:

14.01.1898 – 16.01.1899 auf „MARS“

31.03.1906 – 25.09.1906 auf Artl.-Schulschiff „UNDINE“

23.12.1911 – 29.05.1913 auf „GNEISENAU“ in Ostasien

3.06.1916 – 10.08.1918 auf den Schiffen „MOLTKE“, „SEYDLITZ“, „HINDENBURG“, „NIOBE“ in Nord- und Ostsee


1.07. bis 31.12.1920 beurlaubt zur Ausbildung beim Finanzamt

Einstweiliger Ruhestand ab 31.12.1920


Dienstreise des Offiziers der kaiserlichen Marine Otto Schulze 1906 nach Fernost – Ausreise mit Salondampfer PRINZ-REGENT LUITPOLD


Briefnummer 1 – Transkribiert von Bernd Liebig

Nordsee, 12. Oktober 1906

Mein einziges süßes Lieb!

Meine beiden Karten aus Hamburg hast Du doch erhalten, es waren die Überbringer meiner letzten Abschiedsgrüße. Vielen herzlichen Dank für das Telegramm, mein liebes Herzchen, noch kann ich mich gar nicht daran gewöhnen, dass ich so weit entfernt von Dir bin, immer glaube ich Dein helles Lachen zu hören, Deine lieben süßen Augen zu sehen und wenn mir dann gar zu wehe ums Herz wird, nehme ich meine Zuflucht zu Deinem Bilde und führe Zwiesprache mit diesem. Ach, was waren es doch schöne Stunden, mit Dir zusammen.

Kannst Du Dir denken, dass ich nie derartiges Heimweh verspürt habe, wie jetzt? Fast wie ein Nachtwandler schleiche ich umher und suche nach irgendetwas, nach, – ich weiß selbst nicht; dann muss mir Dein liebes Bildchen alles Fehlende ersetzen, wenn es auch noch so gering ist. Ich suchte in meinen Sachen immer nach Schriftzeichen von Deiner lieben Hand, nicht ein einziges konnte ich finden.

Ach, wie war ich glücklich, wenn ich in Antwerpen auch nur einen kleinen Kartengruß von Dir vorfände!

Nun, mein innig geliebter Engel, ich bat Dich immer, stark zu sein, und mein Abschiedsschmerz, meine Gedanken an Dich, mein guter Engel, gehen gänzlich mit meiner Überlegung durch; jetzt will ich Dir nicht mehr die Zeit der Trennung so schwer machen. Aber ich weiß nicht, wie mir zu Mute ist; Du kleines liebes Wesen hast mich großen Menschen gänzlich umgewandelt, Du hast in meinem Herzen einen Platz entdeckt, von dessen Bestehen ich keine Ahnung hatte. – Wie bist Du nach Liegnitz gekommen? Warst Du auch recht standhaft beim Abschied von dem schönen Berlin?

Nun will ich Dir einmal etwas von dem Dampfer, der Reise usw. erzählen.


Salondampfer PRINZ-REGENT LUITPOLD

Um 8 Uhr abends verließen wir Hamburg, es war stockfinstere, aber sternenklare Nacht. An Bord befinden sich 200 Kajütspassagiere (hiervon 100 in der I. Kajüte). Wir sind z. Zt. 7 Offiziere der Marine hier an Bord, zum größten Teil kenne ich diese Herren von früher, so dass mir dieser Umstand über meine Grillen hinweghilft. Der Verkehr und Betrieb an Bord dieses Dampfers ist international. In allen Sprachen wird gesprochen. Englisch, Französisch, selbst Japanisch.

Beim Diner haben wir bestimmte Sitzplätze: Neben mir sitzt ein Oberarzt, mir gegenüber ein Hauptmann vom Rebataillon und ein Korvettenkapitän (Major bei der Armee). Jedenfalls verspricht diese Tischnachbarschaft ganz nett zu werden. Die Verpflegung ist, wie ich bereits erzählte, einfach großartig. Ich werde am Schluss einige Speisenkarten beifügen, woraus Du, mein Liebling, ersehen kannst, dass das Leben an und für sich schon erträglich ist. Meine Kabine ist sehr nett und behaglich eingerichtet, mit Sopha und sonstigen Bequemlichkeiten, kurz, jedenfalls ein Raum, der gemütlich genug ist, um darin seinen Gedanken nachzuhängen. – Als ich gestern an Bord kam, fand ich mehrere Glückwünsche von Kameraden vor. Sämtliche Herren freuen sich mit mir über meine Verlobung und wünschen uns beiden viel Glück. Ich soll Dir auch viele schöne Grüße bestellen.

Morgen (Sonnabend) kommen wir nach Antwerpen, am Sonntag, fahre ich mit dem Oberarzt, meinem Tischnachbarn, nach Brüssel, am Montag, gehen wir von Antwerpen nach Southampton, dann nach Gibraltar, Genua, Neapel, Port Said, Aden, Singapore, Hongkong, Shanghai, Penang, Tsingtau.

Heute Morgen wurde ich schon durch eine Morgenmusik geweckt, ich lag und träumte von unsrer Zukunft, von Dir, als die Musikkapelle, welche hier an Bord ist, um bei allen Diners fröhliche Weisen ertönen zu lassen, das Morgenlied ertönen lies: „Frühmorgens wenn die Hähne kräh´n!“ Natürlich wurde ich sofort wach, und konnte über meinen Traum nachdenken. Wenn doch alles so schön in Erfüllung ginge, wie ich es geträumt habe! Das Ende des Traumes war, dass mir immer und immer wieder eine innere Stimme sagt, dass ich Dich nie verlassen werde, ich will Dich schützen auf Deinem ferneren Lebenspfad, und Du sollst mir als mein höchstes und heiligstes Ziel vorschweben, Dich zu besitzen soll mein Lebenszweck sein, dann ist mein schönster Herzenswunsch erfüllt. Wenn ich stets hieran denke, dann werde ich alle Hindernisse überwinden, kein Opfer soll mir zu groß sein, wenn ich Dich nur so recht glücklich sehen kann, wie Du bei unsrer Verlobung warst.

Dich aber, mein einzig geliebtes Wesen, bitte ich, nicht zu grübeln und Dein Köpfchen nicht unnötig mit Gedanken über deine Zukunft zu quälen. Denke immer daran, dass es ein Herz gibt, welches für dich betet, dass ich stets bei Dir wach; zwei Jahre sind bald überwunden. Ich verlasse Dich nie.

In einem Deiner Briefe würde ich gern etwas über den bewussten Punkt lesen, ohne dass mich jedoch der Ausfall deiner Erkundigungen in meinem festen Entschlusse auch nur ganz wenig beeinflussen könnte. Aber neugierig bin ich dennoch.

Wie geht es Dir, mein Lieb, wie Deinen lieben Eltern? Hast Du Dich nun schon einigermaßen an den Gedanken des Getrenntseins gewöhnt?

Für heute will ich schließen; übrigens habe ich ja versehentlich noch Geld von Dir mitgenommen. Nenne mir doch die Summe.

Viele herzliche Grüße an Vater und Mutter; Du aber, mein herziggeliebtes Mädchen, sei viele tausendmal innigst geliebt und geküsst von Deinem Dir bis in den Tod treuen Otto

Nochmals die Adresse:

Marine-Oberzahlmeister Schulze

S. M Tpbt. S. 90“

Ausreise D. „PRINZ-REGENT LUITPOLD“


Briefnummer 2

Antwerpen, 13. Oktober 1906

…Heute Morgen sind wir in Antwerpen eingetroffen, unsere Musikkapelle spielte lustige Weisen, und in verlangsamter Fahrt ging es an vielen großen Seedampfern vorbei zum Platz, der für uns bestimmt war. Gestern war etwas bewegtes Wetter, die Damen verschwanden nacheinander, auch einige Herren, und kamen erst heute früh wieder zum Vorschein, nachdem sie sich von ihrer Seekrankheit erholt hatten. Mir machte diese Unpässlichkeit der Passagiere recht großen Spaß…

…Heute Vormittag werde ich mir die Sehenswürdigkeiten von Antwerpen ansehen, morgen von Brüssel; ich werde Dir dann darüber ganz ausführlich berichten.

Meine Zeiteinteilung an Bord des Dampfers ist folgende:

½ 8 Uhr aufstehen – baden.

½ 9 – 9 Uhr Frühstück

9 – 11 Uhr Promenieren und sonstige Unterhaltung; übrigens habe ich auch schon bei den Zivilpassagieren Anschluss gefunden, ganz nette Leute.

11 Uhr gibt es Brötchen, Bouillon auf dem Promenadendeck oder wo man sonst gerade ist (Rauchsalon),

1 (also 13) Uhr Lunch (Frühstück hier kann man essen, wann und soviel man will.

Dann spiele ich mit zwei Herren einen kleinen Skat, um dann ein Stündchen zu schlafen. Um 4 (also 16) Uhr gibt es Kaffee, Tee, Kakao, kurz was das Herz begehrt, dazu Kuchen usw. Hieran schließt sich wieder ein Spaziergang, damit der nötige Appetit zum Diner – 7 (also 19:00) Uhr – vorhanden ist. Hierbei trinkt man Wein.

Gestern Abend musste ich auf Antreiben unserer Offiziere durch ein Gläschen Sekt (Heidsieck) unsre Verlobung feiern… Für heute Schluss. Morgen mehr


Briefnummer 3

Atlantischer Ozean (Biscayabusen), 17. Oktober 1906

Zunächst möchte ich noch einmal kurz wiederholen, dass ich folgende Briefe bzw. Karten an Dich geschrieben habe und ich hoffe, dass diese in Deine Hände gelangt sind: zwei Karten aus Hamburg, eine Karte aus Antwerpen, zwei Briefe aus Antwerpen, eine Karte aus Southampton. Hast Du diese Sendungen erhalten? In Deinen Briefen bitte ich Dich, immer anzugeben, welche die letzten Briefe von mir waren, die Du erhalten hast (Datum meiner Briefe), damit wir eine Kontrolle haben. Ferner bitte ich Dich, liebes Friedelchen, ein Briefbuch zu führen, in welches Du Datum der abgehenden und eintreffenden Briefe und Karten einträgst; ich führe ebenfalls ein solches. Dies zunächst dienstliche.

Nun etwas von meiner Reise.

Für meine schlechte Schrift bitte ich um Entschuldigung, aber erstens habe ich eine schlechte Feder, zweitens ist die See so unruhig, dass ich kaum sitzen kann, ohne Gefahr zu laufen vom Sitz an Deck zu fallen und drittens schreibe ich im Rauchsalon und habe nicht die Ruhe, welche ich vielleicht in einem anderen, ruhigen Raume hätte; dennoch drängt es mich, mit Dir, mein Herzchen zu plaudern, dabei sehe ich bald meinen Ring, bald Dein liebes Bild, die kleine Madonna, an.

In Antwerpen habe ich mir viele Sehenswürdigkeiten angesehen:

1) die Kathedrale, ein uraltes katholisches Gotteshaus von großer Kraft. Innen befinden sich viele Gemälde berühmter alter Meister wie Rubens, van Dyke. Der Wert dieser Gemälde zählt nach Millionen. Den Turm der Kathedrale erstieg ich ebenfalls, 456 Stufen, und hatte von hier aus einen wunderbaren Blick auf Antwerpen und die Schelde.

2.) Pauluskirche, früher Dominikanerkloster, mit dem berühmten Calvarienberg. Auch hier befinden wunderbare Gemälde von Rubens. Ganz besonders will ich erwähnen „Die Himmelfahrt Christi“, welches Gemälde Rubens in 16 Tagen gemalt hat, wofür er 3.200 Frank erhielt. Jetzt konnte der Louvre in Paris dieses Gemälde nicht für 5 Millionen Frank erstehen. Ferner: „Die Geißelung Christi“, ein Gemälde, welches van Dyke in 6 Tagen malen musste; hierfür bot im vorigen Jahre der reiche Amerikaner Vanderbilt 1 ½ Millionen Mark, hat es jedoch nicht bekommen. Ich könnte noch mehr über diese berühmtesten Gemälde sagen, will mich jedoch damit begnügen, Dir zu erzählen, dass die Farbenpracht dieser Gemälde bisher von keinem Maler auch nur im Entferntesten erreicht worden ist, trotzdem die Gemälde ein Alter von 400 Jahren aufweisen. – Hier habe ich mir auch die zweitälteste Druckerei (Gutenberg hatte die erste), die älteste gedruckte Bibel und sonstige Altertümer angesehen. Mit der Besichtigung dieser Sehenswürdigkeiten habe ich die Zeit unseres Aufenthaltes in Antwerpen ausgefüllt und bin nicht nach Brüssel gekommen, wo übrigens außer einem größeren Leben und Betrieb auf den Straßen am Sonntag nichts zu sehen gewesen wäre. Antwerpen selbst ist ein alte Stadt und weist eine eigene Geschichte auf, ist sehr schön angelegt und hat regen Verkehr. Ich kaufe von jeder Stadt, die ich besuche eine Serie Postkarten; schicke Dir eine davon und behalte die anderen für Dich, zur Sammlung. Von Antwerpen, Brüssel und Southampton füge ich diesem Briefe eine Collection bei.

 

Antwerpen verließen wir am Montag, 15. Oktober, morgens 9 Uhr unter den Klängen unsrer Bordkapelle und kamen am Dienstag – 16. Oktober. – morgens 5 Uhr nach Southampton, wo wir bis 1 Uhr mittags blieben, um englische Passagiere zu nehmen. Jetzt wird es an Bord schon etwas belebter. In Southampton hatte ich keine Gelegenheit an Land zu kommen, habe daher die Stadt nicht kennengelernt. Seit gestern, Mittwoch Mittag, 1 Uhr sind wir unterwegs nach Gibraltar. Das Wetter ist ziemlich gut, jedoch ist die See derartig bewegt, dass der Dampfer ganz gehörig hin und her schaukelt. Viele Passagiere waren heute nicht zu sehen, sondern liegen gänzlich seekrank und gebrochen in ihren Kabinen, die Ärmsten. Mich fasst ja die böse Seekrankheit nicht. Es ist jetzt 6 Uhr abends des 17. Oktober. Um 7 Uhr ist Diner, da muss ich mich noch umziehen. Morgen mehr.

18.10.1906

…Das Wetter ist etwas besser, dementsprechend auch die See ruhiger, jedoch noch nicht so still, dass die Seekrankheit gänzlich vom Schiff verschwunden wäre. Ab und zu sieht man beim Essen, wie jemand ganz heimlich verschwindet, um an diesem Tage unsichtbar zu bleiben. Na, das sind eben die Leiden der Seefahrt.

Ich habe mich mit mehreren Passagieren, Damen und Herren, ganz nett angefreundet. Wir veranstalten gemeinsam Spiele auf dem Promenadendeck und vertreiben uns so die Zeit. Unter den Damen befindet sich auch eine Braut, die nach Shanghai fährt, um dort zu heiraten. Wir beide vertragen uns ja naturgemäß am besten und tauschen ganz besonders unsere Meinungen über die Brautzeit usw. aus. Haben Dir die Ohren noch nicht geklungen? Die junge Dame hat ein mitfühlendes Herz. Sie war auch über zwei Jahre von ihrem Bräutigam getrennt und hat diese Zeit der Trennung ebenfalls sehr gut überstanden…

…Zur besseren Orientierung über meine Reise nimm Dir einmal eine Karte vor und verfolge die Reiseroute, damit Du auch geographisch unterrichtet bist über meinen jeweiligen Aufenthaltsort. – Weißt Du, Liebling, eben fällt mir ein, dass es doch wohl praktischer wäre, wenn ich Dir die Ansichtskarten gesammelt von Ostasien schicke, weil ich sie durch Hofpostamt schicken kann, während sie vom Dampfer durch Seepost gehen und das Porto höher ist als die Karten überhaupt Wert haben. Darum gedulde Dich noch etwas. Wie steht es mit den Bildern? Ich freue mich schon auf das Bild in Genua. Hier kommen wir am 23. Oktober morgens an. Bei dieser Gelegenheit werde ich die Riviera besuchen, ferner das italienische Seebad Nervi. Soeben klopft die verlobte Dame ans Fenster des Rauchsalons und überrascht mich beim Schreiben. Sie lässt Dich vielmals grüßen und Dir sagen, Du sollst bald nachkommen. Na, das Letztere wird sich wohl schlecht machen lassen. – Die Temperatur ist schon recht warm, wir befinden uns augenblicklich an der Küste Portugals in der Höhe von Lissabon und haben im Rauchsalon 26 Celsius. In einigen Tagen muss ich schon den hellen Tennisanzug, den Du so gern leiden mochtest, hervorsuchen. Ich gehe nämlich am Tage stets in Zivil und ziehe nur abends zum Diner Uniform an. Es ist jetzt ½ 7 Uhr, und es wird zum Diner ½ Stunde vorher geblasen, daher für heute adieu…

19.10.1906

…Die Nacht verlief bei schönstem Wetter, und der prächtigste Sonnenschein weckte mich aus süßen Träumen. Heute Morgen bekamen wir die Küste Portugals wieder zu sehen und konnten uns an den gewaltigen Felsformationen erfreuen. Die Temperatur steigt ganz bedeutend, so dass ich heute Nachmittag schon meinen hellen Tennisanzug anziehen musste. Einen ganz besonders überwältigenden Eindruck macht heute Mittag das Cap St. Vincent, die südwestlichste Spitze Europas, im Hintergrund hohe Berge. Morgen früh kommen wir nach Gibraltar, von wo dieser Brief seinen schönen Bestimmungsort, Dir, mein Lieb, zueilen soll.

Übrigens befinde ich mich augenblicklich in einer durch die Weltgeschichte bekannten Gegend, bei Trafalgar, wo jene berühmte Seeschlacht stattfand. Hier mag es auf dem Meeresboden bunt aussehen, versunkene Schiffe und etc.

Kaum kann ich die Zeit erwarten, bis ich in Genua von Dir endlich einen Brief bekomme, ebenso das Bild. Ich freue mich darauf wie ein kleines Kind. Für Genua habe ich ziemlich viel vor, hoffentlich habe ich Zeit genug zur Verfügung, um nach Mailand zu fahren… Weißt Du übrigens, Herzchen, gestern waren wir 14 Tage verlobt!

Anbei füge ich die Morgenfrühstücks- und Dinerkarte von gestern an.


Briefnummer 4

Mittelländisches Meer, 21. Oktober 1906

…Mein Telegramm aus Gibraltar als Morgengruß, ebenso meinen „kurzen“ Brief hast Du wohl inzwischen erhalten; beide Sendungen haben Dich ja von dem Fortgang meiner Reise gebührend in Kenntnis gesetzt.

Gestern Morgen 6 Uhr kamen wir in Gibraltar an. Im Hafen lagen mehrere englische Kriegsschiffe. Bei Sonnenschein, jedoch sehr unsichtiger Luft machte die Bucht von Gibraltar, an deren einer Seite die Bergfestung Gibraltar liegt, einen freundlichen Eindruck. Gegenüber von Gibraltar, auf der anderen Seite der Bucht liegt die Stadt Algeciras, sehr viel genannt im vorigen Jahre aus Anlass der Marokkokonferenz, welche dort tagte. Frage nur Vater einmal darnach, er wird Dir wohl darüber Aufklärung geben können. – In Gibraltar lagen wir nur etwa eine Stunde, um einige Passagiere zu landen und neue an Bord zu nehmen. Diesen kurzen Aufenthalt benutzte ich, um Dir von diesem viel genannten geschichtlich berühmten Orte einen herzlichen Morgengruß mit Hülfe des Telegraphs zu übersenden…

…Gegenüber von Gibraltar liegt auf afrikanischer Seite die spanische Bergfestung Ceuta, beide Befestigungen bewachen den Eingang zum mittelländischen Meer; die beiden Berge heißen in der alten Geschichte „die Säulen des Herkules“. Die ganze spanische Küste ist gebirgig, und die hohen Felsen reichen bis unmittelbar an das Meer, um hier ganz steil abzufallen. Wie klein und überaus winzig kommt dem Menschen alles von seiner Hand Geschaffene vor gegenüber diesen riesenhaften Werken und Schönheiten der Natur. – Das Mittelmeer macht ein recht freundliches Gesicht, nur leicht ist das schier unermessliche tiefblaue Meer gekräuselt, munter Spielen Delphine in Scharen um das Schiff, als wenn sie sich auch des schönen Sonnenscheins freuten, ab und zu sieht man in nicht weiter Ferne den breiten Rücken eines Walfisches in Trägheit das Wasser durchfurchen, hin und wieder eine Wasserfontäne hervorstoßend. So geht die Fahrt unaufhörlich weiter, in der Ferne die riesigen Berge der Sierra Nevada; teilweise mit ewigem Schnee gezierte Berggipfel bieten eine schöne Abwechselung zwischen der azurblauen Flut und dem hohen Gebirgszug. Kurzum, ein schönes Bild für den Maler. Hoffentlich langweilen Dich meine langatmigen Schilderungen nicht allzu sehr.

Nachdem vorgestern Abend für die Passagiere der II. Kajüte ein kleines Tänzchen stattgefunden hatte, hatte der Kapitän des Schiffes die Liebenswürdigkeit, gestern Abend einen Ball für die Passagiere der I. Kajüte zu veranstalten. Während wir von 7 bis ¼ 9 Uhr beim Diner saßen, wurde das Promenadendeck mit bunten Flaggen und farbigen Glühlämpchen geschmückt. Als wir nach dem Diner auf dem Promenadendeck unsern gewohnten Spaziergang machen wollten, um dann wie gewöhnlich im Rauchsalon unsern Kaffee einzunehmen, erstrahlte das ganze Promenadendeck in tausendfarbigem Lichterglanz und man wähnte sich in eine Märchenwelt versetzt. Um 9 Uhr sollte der Tanz beginnen. Bis dahin musste man nun Toilette machen, um auch äußerlich zu dieser bunten, festlichen Umgebung zu passen. Ich wählte als Ballanzug Smoking, während andere Herren in Uniform, bzw. auch Smoking oder Frack erschienen. Die Damen hatten Balltoilette gewählt Punkt 9 Uhr begann die Musik einen flotten Straußschen Walzer und die Paare drehten sich im Tanz. Ich tanzte nur wenig und auch nur mit den mir seit Hamburg näher bekannten Damen, besonders aber mit der Braut, von der ich Dir schon erzählte, mit der ich auch Quadrille tanzte. – Zur Erfrischung wurde eine Citronenbowle, Torte und Fruchteis gereicht. Um 11 Uhr erreichte das kleine Bordvergnügen sein Ende, und wir saßen dann mit dem Kapitän des Schiffes und den Offizieren zwanglos bis 2 Uhr zusammen, um darauf den wohlverdienten Schlaf aufzusuchen. Selbst an solchem Tage wird in dem recht regelmäßigen Bordleben wenig geändert, das ganze Leben geht hier genau nach der Uhr.

21.10.1906

Heute Morgen erhob ich mich um ½ 8 Uhr und habe bisher den Tag wie gewöhnlich verbracht. Verschiedene Male sind wir wieder photographiert worden, und ich habe hoffentlich Gelegenheit, Dir einige Aufnahmen zu schicken. Das Wetter ist unverändert schön. Gegen Mittag fuhren wir an der Inselgruppe der Balearen vorbei, ebenfalls riesige Felsengruppen, ohne viele menschliche Ansiedelungen. Wir sind jetzt auf der regelrechten Weiterfahrt nach Genua, wo wir morgen, Montag, Abend um 7 Uhr eintreffen sollen. Bis morgen lebe recht wohl…


Briefnummer 4

22.10.1906

Heute am Geburtstag der Kaiserin hat der Dampfer Flaggenschmuck angelegt, um den an Bord befindlichen Ausländern gegenüber diesen Nationalfeiertag würdiger zu gestalten. – Gestern Abend war großes Abschiedsdiner für die in Genua aussteigenden Passagiere. Ich habe Dir die Speisekarte beigefügt; was meinst Du zu diesem Menü? Ganz hervorragend gestaltete sich das illuminierte Eis, das Du ebenfalls auf der Karte verzeichnet siehst. – Der Speisesaal wird plötzlich verdunkelt und es kommen die Stewards (Kellner) in langer Reihe in den Saal spaziert; jeder hält eine Schüssel mit buntem richtigen Eis, das ausgehöhlt ist und dessen Höhlung ein Lämpchen steht, welches natürlich durch seinen Lichtschein das Eis erleuchtet; außerhalb des ausgehöhlten Eisblocks liegt das Speiseeis in allen möglichen Figuren und Arten. Die Reihe der Stewards (Kellner) wird unterbrochen durch Lampion tragende Chinesen, von denen wir etwa 60 Mann als Heizer und sonstiges Bedienungspersonal an Bord haben. Kurz, die ganze illuminierte Eispolonaise machte einen magisch gespensterhaften Eindruck und hat uns allen recht viel Vergnügen gemacht. Durch derartige Kurzweil muss eine kleine Abwechselung geschaffen werden.

Heute Morgen näherten wir uns der französischen Küste bei Toulon und Marseille bis wir um 11 Uhr die Riviera erreichten. Weißt Du, Liebling, ich habe schon viele Naturschönheiten gesehen, aber hier war ich einfach sprachlos, wie die Mutter Natur ihren Schönheitssinn betätigt…. Kleine Reise bis Genua wäre als Hochzeitsreise wie geeignet. Nun also eine kurze Beschreibung. Ganz weit im Hintergrund erheben sich die Seealpen (Alpes Maritimes) mit ihren schneegekrönten Häuptern, auf welchen sich hell und klar die Sonne spiegelt, weiter vor riesenhafte Felsen, die jedoch kahl wenig anziehendes bieten, dann an der Küste als erste der französischen Riviera die Stadt Cannes, rings umgeben von Oliven- und Palmenhainen mit herrlichen Schlössern, Villen und Palästen, dann folgt Villafranca, mehrere andre kleinere und größere Städte und als Perle der Riviera Nizza, die Rosenstadt, der schöne Lage bezaubernd wirkt, nach Nizza folgen wieder andere weniger erwähnenswerte Städte um Monte Carlo den Vorrang zu lassen. Hier sieht man zunächst das Schloss der Fürsten von Monaco und dann das Casino, jenen bekannten Spielpalast, der manchem unglücklichen Menschen das Ende seiner Leidenschaften und seines Lebens bedeutete und noch bedeuten wird. Von den Städten an der Riviera sind noch zu erwähnen: Mentone, Ventimiglia, Bordighera und schließlich San Remo, wo Kaiser Friedrich vergebens Heilung sucht. An der ganzen Küste schlängelt sich die Eisenbahn entlang von Marseille bis Genua, ab und zu in einen Tunnel verschwindend. Wir fuhren so nahe dem Lande, dass ich mir ein sehr gutes Bild von der gesamten Riviera machen kann. Kurzum, eine Naturschönheit, wie sie nur hier existiert... – Ich freue mich auf Genua, wo ich hoffentlich das Bild mit Brief von Dir vorfinde. Kaum kann ich die Zeit erwarten, bis ich endlich von Dir eine Nachricht erhalte.