Politische Justiz

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Politische Justiz
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Allen Opfern der politischen Justiz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft


Otto Kirchheimer (1905-1965), Politikwissenschaftler und Jurist, in der Weimarer Republik als kritischer Verfassungstheoretiker bekannt, beschäftigte sich im Exil als Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung mit der Analyse des Nationalsozialismus. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Office of Strategic Services und im US-amerikanischen Außenministerium. Ab Mitte der 1950er Jahre lehrte er an der New School, New York; ab 1960 an der Columbia University.

Seine wissenschaftliche Vielseitigkeit vereint sich in seinem Hauptwerk Politische Justiz, in dem Kirchheimer die gesellschaftstheoretische Perspektive kritischer Theorie mit empirisch-historischer Forschung zusammenführt. 1961 erschien das Werk bei der Princeton University Press auf Englisch, bevor es in überarbeiteter und erweiterter Fassung, von Arkadij Gurland übersetzt, erstmals 1965 im Luchterhand Verlag veröffentlicht wurde. 1981 erschien eine Neuausgabe in der Europäischen Verlagsanstalt, 1985 eine Taschenbuchausgabe beim S. Fischer Verlag und schließlich 1993 erneut eine Taschenbuchausgabe in der Europäischen Verlagsanstalt.

Das der überarbeiteten und korrigierten Neuausgabe angefügte Nachwort der Herausgeberinnen schildert die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte im zeitgeschichtlichen Kontext und verweist auf die heutigen aktuellen Bezüge.

Die Herausgeberinnen:

Lisa Klingsporn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald.

Merete Peetz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifswald.

Christiane Wilke ist Associate Professor am Department of Law and Legal Studies an der Carleton University in Ottawa, Kanada.

Otto Kirchheimer
Politische Justiz

Verwendung juristischer

Verfahrensmöglichkeiten zu

politischen Zwecken

Herausgegeben von

Lisa Klingsporn, Merete Peetz

und Christiane Wilke


Titel der amerikanischen Ausgabe: Otto Kirchheimer, Political Justice.

The Use of Legal Procedure for Political Ends.

© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

unter Verwendung eines Gemäldes von George Grosz,

„Die Stützen der Gesellschaft“, (c) Estate of George Grosz, Princeton, N. J. /

VG Bild-Kunst, Bonn 2020, mit freundlicher Genehmigung,

Bildnachweis: bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa«, 1945

eISBN 978-3-86393-552-8

Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-094-3

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Editorial zur Neuausgabe

Otto Kirchheimer (1905-1965) war ein der Kritischen Theorie verbundener deutsch-jüdischer Jurist und Politikwissenschaftler. In der Weimarer Republik als kritischer Verfassungstheoretiker bekannt, beschäftigte sich Kirchheimer im Exil als Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung mit der Analyse des Nationalsozialismus. Anschließend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Office of Strategic Services und im US-amerikanischen Außenministerium. Erst ab Mitte der 1950er Jahre gelang Kirchheimer der Sprung in die amerikanische Politikwissenschaft. Diese wissenschaftliche Vielseitigkeit vereint sich in seinem Hauptwerk Politische Justiz, das 1961 bei der Princeton University Press auf Englisch erschien, bevor es in überarbeiteter und erweiterter Fassung, von Arkadij Gurland übersetzt, 1965 im Luchterhand Verlag veröffentlicht wurde.

Otto Kirchheimer führt in seinen Arbeiten die gesellschaftstheoretische Perspektive kritischer Theorie mit empirisch-historischer Forschung zusammen. Während viele seiner kürzeren Texte auf konkrete politische oder verfassungsrechtliche Probleme antworteten und Anregungen für die politische Praxis geben wollten, war Politische Justiz das Ergebnis eines langwierigen Projektes. Das Werk gibt eine umfassende historisch-kritische Analyse des Zusammenwirkens von rechtlichen Formen und politischen Machtkämpfen an die Hand. Zusammen mit Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem (1963) und Judith Shklars Legalismus (1964) bildet Kirchheimers Politische Justiz ein Dreieck der in den 1960er Jahren entstandenen Klassiker zum Problemkomplex Politik und Strafprozesse.

Der hier abgedruckte Text Politische Justiz: Die Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken ist textgleich mit der Version, die im Sammelband Politische Justiz und Wandel der Rechtsstaatlichkeit, dem von Lisa Klingsporn, Merete Peetz und Christiane Wilke herausgegebenen vierten Band der Gesammelten Schriften von Otto Kirchheimer, erschien. Unter der Gesamtleitung von Hubertus Buchstein werden seit 2017 die Gesammelten Schriften Kirchheimers im Nomos Verlag veröffentlicht.

Zusätze der Herausgeberinnen in den Texten und Anmerkungen sind in eckige Klammern […] gesetzt. Soweit sich in den Originaltexten von Kirchheimer eckige Klammern fanden, sind sie in dieser Ausgabe durch geschwungene Klammern {…} ersetzt, um die darin enthaltenen Angaben von denen der Herausgeberinnen unterscheiden zu können. Die Rechtschreibung wurde vorsichtig an die modernisierten Regeln des Dudens angepasst; offensichtliche Druckfehler wurden ohne Nachweis berichtigt. Die Zitationen Kirchheimers wurden durchgehend auf das Fußnotensystem umgestellt und formal vereinheitlicht.

Die Seitenzahlen dieser Ausgabe sind mit denen in den bisher veröffentlichten deutschsprachigen Ausgaben von Politische Justiz identisch. Erstmalig erschien das Buch 1965 im Luchterhand Verlag, 1981 erschien ein Nachdruck in der Europäischen Verlagsanstalt, 1985 eine Taschenbuchausgabe beim S. Fischer Verlag und schließlich 1993 erneut eine Taschenbuchausgabe in der Europäischen Verlagsanstalt. Die Seitenzahlen weichen lediglich von der im Sammelband Politische Justiz und Wandel der Rechtsstaatlichkeit im Nomos Verlag 2019 veröffentlichten Version ab.

Die Ausgabe ist mit einem Fall-, Personen- und Sachregister versehen, wobei letzteres als Ergänzung zu den bisherigen Ausgaben neu erstellt wurde. Das schon in der Erstausgabe enthaltene Fallregister verzeichnet sämtliche im Buch besprochenen Rechtsfälle. Es ist nach den Ländern geordnet, in denen die Gerichtsentscheidungen gefällt wurden. Das Personenregister verzeichnet alle von Kirchheimer im Fließtext erwähnten Personen. Das Sachregister enthält wichtige Begriffe und Sachbezeichnungen. Ist ein Begriff für einen ganzen Text thematisch, werden nur zentrale Stellen und besondere Bedeutungen verzeichnet. Die Neuausgabe von Politische Justiz schließt mit einem Nachwort der Herausgeberinnen. Es stellt das Buch in den Kontext von Kirchheimers Biografie, seines wissenschaftlichen Werdegangs und umreißt die Rezeptionsgeschichte des Werks. Das Nachwort ist vom Personen- und Sachregister ausgenommen.

Die Herausgeberinnen danken Hubertus Buchstein, dem Nomos Verlag sowie den Erben von Otto Kirchheimer, Hanna Kirchheimer-Grossmann und Peter Kirchheimer, für die Abdruckgenehmigung des im Projekt überarbeiteten Umbruchs für diese Neuausgabe bei der Europäischen Verlagsanstalt. Erneut konnten wir von den Materialsammlungen und hilfreichen Hinweisen Frank Schales profitieren. Jodi Boyle und Brian Keough danken wir für ihre Hilfe bei der Sichtung des wissenschaftlichen Nachlasses von Otto Kirchheimer in der German Intellectual Émigré Collection der State University of New York in Albany. Gedankt sei auch Jenny Swadosh vom Archiv der New School for Social Research in New York, Felix Schmidbaur vom Archiv der Sozialen Demokratie (Nachlass Horst Ehmke) sowie den hilfsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs der Rockefeller-Stiftung, die uns die umfassenden Dokumente zu den Antragsverfahren Otto Kirchheimers zusandten. Bei den Korrekturarbeiten konnten die Herausgeberinnen auf die unersetzliche Hilfe von Steffi Krohn bauen. Für kritische Kommentare und hilfreiche Anregungen zum Nachwort schließlich danken wir Hubertus Buchstein, Jens Hacke, Aaron Jeuther, Tobias Müller und Frank Schale.

Greifswald und Ottawa, im Frühjahr 2020

Lisa Klingsporn, Merete Peetz und Christiane Wilke

Inhalt

Vorwort

ZUR EINFÜHRUNG

Kapitel IDie Justiz in der Politik

Von der Rolle der Gerichte

Der Staat und seine Gegner

Wer richtet?

Wandel, Ideologie, Opportunität und Gerichte

 

ERSTER TEILPOLITISCHE JUSTIZ: FÄLLE, GRÜNDE, METHODEN

Kapitel IIWandel in der Struktur des Staatsschutzes

1 Die Anfänge

2 Zeitalter der Rechtsstaatlichkeit

3 Staatsschutz in der Gegenwartsgesellschaft

Kapitel IIIDer politische Prozess

1 Kriminalprozess und politischer Prozess

2 Der Mordprozess eine politische Waffe

3 Vom Sinn und Zweck des Landesverräterstigmas

a) Der Oppositionsführer: Affäre Caillaux

b) Das geschmähte Staatsoberhaupt: Fall Ebert

4 Erweiterung der Verbotssphäre im politischen Aktionsbereich

a) Freiheit der Forschung stößt auf Schranken

b) Politik ohne Bindungen oder verbotene Verbindungen?

5 Prozesspraxis außerhalb des rechtsstaatlichen Raums

a) Vorstadien des Schauprozesses

b) Fehlschlag eines Inszenierungsplans

c) Prozess im Dienste didaktischer Fiktionen

6 Verwendbarkeit des Prozesses im politischen Kampf

Kapitel IVGesetzlicher Zwang gegen politische Organisationen

1 Minderheitsdiktat: Wert und Unwert der Legalität

2 Ausnahmegesetze im 19. Jahrhundert

3 Kriterien der Freiheitsbeschneidung bei Mehrheitsherrschaft

a) Vorwegbeurteilung »entlegener Folgewirkungen« straffreien Verhaltens

b) Verbindlichkeit der Parteilehre

c) Bedeutung und Gewicht spezifischer Handlungen

d) Taktische Gesichtspunkte bei Randerscheinungen

4 Unversöhnliche Systemfeindschaft in verschiedener Sicht

a) Politische und administrative Beschränkungen

b) Gleiches Recht für alle

c) Zukunftsaussichten der demokratischen Gesellschaft

ZWEITER TEILDER APPARAT DER JUSTIZ UND DER ANGEKLAGTE

Kapitel VInstitutionelle und gesellschaftliche Voraussetzungen

1 Von den Funktionen des Gerichts

a) Das Legitimierungsamt

b) Richterauslese

c) Die richterliche Entscheidung

2 Wie es zur politischen Strafverfolgung kommt

a) Die Staatsanwälte und ihre Vorgesetzten

b) Strafverfolgung und Regierung

c) Politische Polizei

3 Was es heißt, unparteiisch zu sein

a) Der Richter und das Rechtsbewusstsein der Gesellschaft

b) Exempel Weimar: regimefeindliche Richter

c) Zwischen Siegern und Besiegten

4 Ausstrahlungen des Geschworenengerichts

Kapitel VIAngeklagter, Verteidiger und Gericht

1 Die Gewissheit der Stifter

2 Muss man sich für die Organisation opfern?

3 Von Spitzeln und Verrätern

4 Inseln des Nichtkonformismus

5 Anwalt und Mandant

6 Typen politischer Verteidiger

7 Der politische Anwalt und die Richter

8 Internationalisierte Prozesse

Kapitel VIIDie »Gesetzlichkeit« der Justizfunktionäre

1 Ballade vom ermordeten Hund

2 Organisation der DDR-Gerichtsbarkeit

3 Richter als politische Funktionäre

4 Gerichte und andere Staatsorgane

5 Richter und Volk

6 Widersprüche der »sozialistischen Gesetzlichkeit«

7 Recht und richterliche Funktion

8 Recht und Hakenkreuz im Rückblick

Kapitel VIIISiegerprozesse gegen gestürzte Vorgänger

1 Politische Sondergerichte

2 Richtmaße für die »Abrechnung«?

3 »Verbrecherischer Staat« und individuelle Verantwortung

4 Nürnberg: was einen Prozess ausmacht

a) Charakter der Anklage

b) Einwände der Verteidigung

c) Beitrag eines überstaatlichen Gerichts

5 Ideale Prozesstechnik?

DRITTER TEILABWANDLUNGEN UND KORREKTUREN

Kapitel IXAsylrecht

1 Im Zeitalter des Massenexodus

2 Ehrenpflicht oder beschwerliche Last?

3 Damoklesschwert: Auslieferung ohne Rechtsverfahren

4 Politischer und diplomatischer Schutz

5 Auslieferungsverweigerung im Wandel der Lehrmeinungen

6 Und wieder Asylprinzip!

Kapitel XDie Art der Gnade

1 Politischer Kalkül, Willkür oder Milde?

2 Dialektik der Gnade

3 Typen der politischen Amnestie

4 Ein halbes Jahrhundert Amnestieschicksale

Kapitel XIVersuch einer Zusammenfassung

1 Strategie der politischen Justiz

2 Geplante Justiz und richterlicher Spielraum

3 Der Richter und das Risiko der politischen Freiheit

4 Gerechtigkeit auf Umwegen angestrebt

Kapitel XIIVorläufige Nachtragsbilanz

1 Grenzen der staatlichen Strafmacht

2 Gaullismus und Prozesspädagogik

3 Staatsräson gegen Asylrecht

4 Chancen für die Gerechtigkeit?

ANHANG ADAS RÖMISCHE REICH UND DIE CHRISTEN

ANHANG BTREUBRUCH MIT ERFOLG: GUILLAUME DU VAIR

REGISTER DER RECHTSFÄLLE

NAMENREGISTER

SACHREGISTER

Nachwort zur Neuausgabe

Vorwort

Vor einer Missdeutung des Titels des vorliegenden Buches braucht der deutsche Leser kaum gewarnt zu werden. Im Gegensatz zum englischen oder französischen justice hat das Wort »Justiz« die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen iustitia weitgehend eingebüßt; es bezeichnet nicht in einem höheren Sinne Gerechtigkeit, sondern faktisch nur noch das, was das organisierte Gebilde Staat auf dem Gebiet der Gerechtigkeit und des Rechts (oder der Rechte) tut, eine ganz konkrete »Rechtspflege«, deren Inhalt durch das bestimmt wird, was das jeweilige Staatsgebilde darstellt. Es geht dem Wortsinn nach weniger um Gerechtigkeit als um administration of justice, um die Anwendung bestimmter geronnener Rechtsvorstellungen, um die Verwaltung gegebener Rechtsverhältnisse; so kann »Justiz« mitunter sehr nahe an das lateinische iustitium herankommen, das einen Stillstand in der Abwicklung rechtlicher Dinge andeutet und zur Außerkraftsetzung aller Gerechtigkeit ausarten kann.

 

An den deutschen Leser tritt infolgedessen gar nicht erst die Versuchung heran, »politische Justiz« mit politischer Gerechtigkeit, also mit der Suche nach einer idealen Ordnung menschlichen Zusammenlebens gleichzusetzen, in deren Rahmen sich alle Angehörigen des Gemeinwesens in ständiger gemeinschaftlicher Anstrengung um die größtmögliche Vervollkommnung ihrer politischen Lebensform bemühen. Dass der Begriff »politische Justiz« auf den dubiosesten Abschnitt der »Rechtspflege« angewandt wird, in dem die Vorkehrungen und Einrichtungen des staatlich betreuten Rechts dazu benutzt werden, bestehende Machtpositionen zu festigen oder neue zu schaffen, entspricht dem traditionellen Sprachgebrauch und hat nichts Zynisches an sich. Das griechische Ideal tritt in dieser Ebene nur noch schärfer profiliert hervor, weil Justiz in politischen Dingen so viel schwindsüchtiger ist als in allen anderen Bezirken der Rechtsprechung, weil sie hier so leicht zur Farce werden kann.

Wenn sich die Politik der Vorrichtungen der Justiz bedient, geht sie gewisse Verpflichtungen ein, auch wenn sie nicht klar abgrenzt, ja vielleicht von vornherein nicht zu erfüllen gedenkt. Die ihrem Wesen nach zufällige und widerspruchsvolle Verbindung von Politik und Justiz birgt beides in sich: Verheißung und Verhängnis.

Das vorliegende Buch will das vielschichtige Problem der politischen Justiz darstellen und erhellen. Es ist weder eine Geschichte der politischen Justiz noch eine erschöpfende Sammlung ihrer besonders erwähnenswerten »Fälle« und Episoden; hier wird nicht das Panorama der wichtigsten politischen Auseinandersetzungen, die über die Bühne der Gerichte gegangen sind, nachgezeichnet, sondern der Versuch unternommen, den politischen Inhalt von Machtkämpfen zu der Rechtsform in Beziehung zu setzen, in der sich »Fälle« präsentieren. Zum Beispiel habe ich darauf verzichtet, den Fall Dreyfus zu erörtern, der immer noch als die cause célèbre der politischen Justiz in der neueren Zeit gilt. Im Grunde war Dreyfus ein karrierebeflissener Militärbürokrat, dem jegliches Verständnis für die Konflikte und Widersprüche seiner Zeit abging; in den Irrgarten der politischen Justiz war er unschuldig, ohne eigenes Zutun hineingeraten: ein bloßer Statist in dem historischen Schauspiel, in dem sich sein Schicksal entscheiden sollte.

Er hatte keinen Anteil an dem großen Drama aller Zeiten, auch unserer Zeit, in dem es darum geht, inwieweit die bestehenden Gewalten die Unterwerfung, den Gehorsam derer verlangen dürfen, die ihren moralischen Anspruch und ihre Zukunftsperspektive nicht anerkennen. In diesem Drama sind die Mitwirkenden bisweilen mutig und heldenhaft, bisweilen ängstlich und verwirrt, nie aber unschuldig,1 mögen sie sich als Politiker oder Meinungsbeeinflusser geben, als Beamte oder Richter, als Anwälte, Verschwörer oder Revolutionäre. Der Moskauer Hauptankläger Vyšinskij und der große Angeklagte Bucharin, der New Yorker Richter Medina und seine kommunistischen Widersacher, die französischen Militärgerichte und die FLN-Kämpfer auf der Anklagebank mitsamt ihren Bewunderern in der französischen Öffentlichkeit, sie alle kannten den wahren Inhalt der Anklage und den wahren Inhalt der gegen sie gerichteten Argumente; sie wussten, dass beides nur politische Systeme symbolisierte, Systeme von gestern, heute oder morgen, und dass sie alle, Ankläger und Angeklagte, je ein bestimmtes System verkörperten und vertraten.

Je nach Augenblicksbedürfnissen können Anklagebehörde und Verteidigung das, was die Anklagepunkte und die Anklagewiderlegung mit ihrem wirklichen politischen Sinngehalt verbindet, energisch in den Vordergrund rücken oder nach Kräften verschleiern. Je nach der Situation können die Angeklagten von der Unausweichlichkeit ihres kommenden Sieges überzeugt sein, sich in Positur setzen, um der Nachwelt das erwünschte heroische Bild zu übermitteln, oder verzweifelt daran arbeiten, jede Erinnerung an das, was sie einst getan oder gedacht hatten, auszulöschen. Wer das Material kritisch sichten will, kann nur die Referenzen und Leistungen aller Beteiligten unter die Lupe nehmen, ihre Methoden und Voraussetzungen prüfen, ihre Ansprüche und Gegenansprüche miteinander vergleichen.

Die Literatur über politische Justiz ist unübersehbar. Jeder neue Prozess, der irgendwo auf dieser Erde gegen einen wirklichen oder vermeintlichen Gegner der herrschenden Ordnung geführt wird, öffnet die Schleusen literarischer Polemik und füllt die Bücherborde. Wer ein besonderes Interesse zu vertreten hat, unterlässt es nicht, auch noch sein Scherflein beizutragen, sei es in der individualisierten Fassung, die im Westen üblich ist, sei es in der schablonenartigen Form der kommunistischen Martyrologien und Pauschalanklagen. Es fehlt auch nicht an Publikationen der Verbände zum Schutz staatsbürgerlicher Freiheiten und der westlichen und östlichen Juristenorganisationen mit internationalem Geltungsanspruch. Gerade die Sachwalter der Juristenvereine eilen von Land zu Land, um jeweils die Verstöße der Gegenseite anzuprangern. Sie organisieren Protestaufrufe, stellen Fragebogen zusammen und sammeln Auskünfte, um zu zeigen, wie weit es die verschiedenen Länder mit der so schwer fassbaren Rechtsstaatlichkeit oder »Gesetzlichkeit« gebracht haben, auf deren Verankerung in ihren Verfassungen und Verhaltensgrundsätzen sie sich alle berufen.

Hinzu kommen die gelehrten Interpreten des geltenden Rechts und die nicht minder gelehrten Kommentatoren der Rechtsprechung. Von ihrer autoritativen juristischen Exegese sind sie freilich nicht mehr ganz so eingenommen wie ehedem. Da sie nicht mehr den Anspruch darauf erheben, aus der logischen Analyse der Texte unverbrüchliche Vorschriften ableiten zu können, versuchen sie nur noch, in die für den Tagesgebrauch bestimmte Auslegung der wechselnden Bestimmungen einen gewissen logischen Zusammenhang hineinzubringen. Manchmal sieht es so aus, als sei der Richter, das Hauptorakel des Gesetzes, sogar schon geneigt, ganz und gar darauf zu verzichten, die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten miteinander in Einklang zu bringen; zum mindesten ist er, wenn er dem unbeständigen Geschäft des Staatsschutzes obliegt, versucht, weniger der Partitur zu folgen als nach dem Gehör zu spielen: dann wird der Rechtsgrundsatz vom Lärm der Augenblickserfordernisse übertönt. Schließlich wären die Rechtstheoretiker zu erwähnen: Nicht selten steht ihr intellektueller Aufwand im umgekehrten Verhältnis zu dem Einfluss, den sie auf die Alltagspraxis ausüben. Theorie und Praxis gehen verschiedene Wege.

In sich selbst ist das Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis noch kein ausreichender Grund, über das Wesen der Gerechtigkeit keine Erörterung anzustellen. So mancher Leser mag es als unbefriedigend empfinden, dass ich solche fundamentalen Fragen nur aufwerfe, wenn sie sich bei der Behandlung eines konkreten Gegenstandes zwingend aufdrängen. Wie sollte man sich mit politischer Justiz beschäftigen können, ohne nach Gerechtigkeitsprinzipien Ausschau zu halten, an denen die Handlungen der Machthaber und die sie begleitenden Rechtfertigungskonstruktionen ebenso gemessen werden können wie die Taten, Ziele, Absichten und Ideologien ihrer Opfer? Dazu ist einiges anzumerken.

In einem stets wechselnden Maße ist die politische Justiz an die Interessen der jeweiligen Machthaber gebunden. Dennoch muss sie in gewissem Umfang die Billigung der Allgemeinheit, mindestens aber eines überwiegenden Teils der Bevölkerung anstreben. Findet sie diese Billigung nicht, so stößt sie – auf lange Sicht gesehen – ins Leere. In dieser Doppelrolle wurzelt der unaufhebbare Widerspruch, der aller politischen Justiz innewohnt: Sie muss, ohne die Machtverwirklichung zu durchkreuzen, die Macht so legitimieren, dass die Aussicht, die Bevölkerung für die Anerkennung des Machtgebildes zu gewinnen, nicht gefährdet wird oder wenigstens die geringstmögliche Beeinträchtigung erfährt.

Rechtskategorien, mit deren Hilfe politische Machtgebilde anerkannt oder verworfen werden können, stehen seit Jahr und Tage zur Genüge bereit. Von welchen Vorstellungen sich die Masse der Staatsbürger bei ihrer Zustimmung zu einem bestimmten Machtgebilde oder bei ihrer Ablehnung dieses Machtgebildes leiten lässt, ist indes eine Frage, die darüber weit hinausgeht und die außerordentlich komplex ist. Es wäre vermessen, wollte ich sie in diesem Buch beantworten. Ob sich diese Vorstellungen in bestimmten Situationen mit den Anerkennungs- und Verwerfungskategorien decken, die die Rechtslehre zur Verfügung stellt, und inwieweit sie sich überhaupt mit diesen Kategorien vereinbaren lassen, steht wiederum auf einem anderen Blatte.

Die von mir unternommene Schilderung und Kategorisierung der typischen Abläufe der politischen Justiz ersetzt weder eine Untersuchung der Kategorien der Rechtslehre noch eine systematische Erforschung des Verhältnisses dieser Kategorien zu den Legitimierungskriterien, die in dieser oder jener geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation bei der Gesamtbevölkerung oder bei einzelnen ihrer Schichten den Vorrang behaupten.

Ich hatte mir eine bescheidenere Aufgabe gestellt: die konkrete Beschaffenheit und Zweckbedingtheit der politischen Justiz in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Situationen, in denen an sie appelliert wird, zu beleuchten. Dieser Aufgabe kommt ein nennenswerter Vorteil zugute: der Streit um die konkrete Fixierung von Gerechtigkeitskriterien verweist, wenn auch manchmal in indirekter und verwickelter Form – bei Naturrechtlern nicht weniger als bei Rechtspositivisten –, auf dieselben Kategorien zurück, mit denen politische Kämpfe ausgetragen werden. Könnte nicht der Spiegel, den eine Analyse der politischen Justiz allen Beteiligten vorhält, ein anspruchsloserer, aber auch weniger widerspruchsvoller Anreiz zur Selbstprüfung sein?

An dieser Stelle kann ich unmöglich allen danken, die mir ihren Beistand geliehen haben. Dankbar erwähne ich die Unterstützung der Rockefeller Foundation und das Interesse, das ihr jetziger geschäftsführender Vizepräsident Dr. Kenneth W. Thompson meiner Arbeit entgegengebracht hat. Professor Dr. Karl Loewenstein hatte die Rohfassung des Manuskripts gelesen und mir mit seiner erschöpfenden Kritik wertvolle Winke gegeben, die der endgültigen Gestalt des Buches zugutegekommen sind. Die Hilfsbereitschaft Dr. Edmond Janns und seiner Mitarbeiter in der rechtswissenschaftlichen Abteilung der United States Library of Congress hat meine Streifzüge durch deren Schätze überaus ertragreich und erfreulich gemacht. Dem Museum Busch-Reisinger in Cambridge (Massachusetts) verdanke ich die freundliche Erlaubnis, die Zeichnung von George Grosz zu benutzen.

Mein Freund Dr. A. R. L. Gurland, jetzt Professor für Wissenschaftliche Politik an der Technischen Hochschule Darmstadt, hatte mir in den Anfangsstadien der Arbeit mit vielen kritischen Anregungen und redaktionellen Ratschlägen geholfen. Er hat es dann auf sich genommen, meinem englischen Text eine deutsche Fassung zu geben. Diese Fassung wird jetzt dem Leser vorgelegt. Der englische Text ist, soweit das möglich war, für die deutsche Ausgabe ergänzt, Mängel der amerikanischen Ausgabe sind ausgemerzt worden. Vor allem sind Quellenapparat und Registerteil dank der Sorgfalt und Beharrlichkeit Professor Gurlands und seiner Mitarbeiter, Dipl.-Soz. Rudolf Billerbeck und Assessor Jürgen Seifert, in einer Weise gestaltet worden, die dem deutschen Leser das Auffinden der Quellen und die kritische Auseinandersetzung mit dem von mir vorgelegten Material wesentlich erleichtert. Die mühevolle mehrstufige Herstellung des deutschen Buchmanuskripts wurde dankenswerterweise von cand. phil. Johanna Struckmeier und Frau Helga Bill besorgt.

Einige Abschnitte des Buches hatten deutschen Beiträgen zugrunde gelegen, die ich vor der Fertigstellung des vorliegenden Bandes veröffentlicht habe: in den Publikationen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 82 (Westdeutscher Verlag, Köln-Opladen 1959), im Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 85 (H.1, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen Juni 1960), in Politische Vierteljahresschrift, Jahrgang 2 (Heft 4, (Westdeutscher Verlag), Köln-Opladen Dezember 1961), und in Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend zum 80. Geburtstag, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1962. Sie erscheinen hier in revidierter, zum Teil nicht unwesentlich veränderter Fassung.

Da seit der Veröffentlichung der amerikanischen Ausgabe zwei Jahre vergangen sind, habe ich dem deutschen Text als Kapitel XII einen Nachtrag hinzugefügt, der neuere Entwicklungen und markante Ereignisse aus dieser für die Phänomene der politischen Justiz nicht ganz unwichtigen Zeit Revue passieren lässt. Im September 1963 abgeschlossen, hinkt natürlich auch dieser Nachtrag dem tagtäglichen Geschehen nach. Er berücksichtigt weder die entscheidende Gleichgewichtsverschiebung in Südafrika noch neuerliche Verschlechterungen in der internationalen Asylrechtspraxis. Veränderungen, die der Tag mit sich bringt, unterstreichen die ärgerliche Vorläufigkeit aller Nachtragsbilanzen. Einstweilen muss es dabei bleiben: es wäre verfrüht, jetzt schon eine neue Bilanz zu ziehen.


Columbia University, New York, im Frühjahr 1964 O.K.

1 Dem Problem der Todesstrafe habe ich in diesem Buch keine ausdrückliche Behandlung gewidmet. Dem Leser, der sich für meine Meinung über die Vernichtung von Menschenleben im Zusammenhang mit dem Komplex »politische Justiz« interessiert, will ich sie gleichwohl nicht vorenthalten: 1. Das Recht, im Kampf um ein politisches System oder bei der Verteidigung eines politischen Systems Menschen zu töten, setzt voraus, dass man von den unermesslichen Vorzügen dieses Systems unerschütterlich überzeugt ist. 2. Wenn es auf unserem Planeten ein System gibt, das eine so enorme Macht verdiente, habe ich von seiner Existenz – das kann freilich eine Bildungslücke sein – noch nichts erfahren. Möglicherweise kämen solche Befugnisse einer Weltregierung deswegen zu, weil sie es nicht nötig hätte, von ihnen Gebrauch zu machen. (Auch das kann natürlich eine Illusion sein.) Solange es eine Weltordnung von dauerhaftem Bestand nicht gibt, könnte man sich als Träger solcher Befugnisse allenfalls einen umfassenden Mächtezusammenschluss vorstellen, dem zum mindesten die antagonistischen Machtblöcke der Gegenwart angehören müssten. 3. Nicht selten geben politische Systeme jedweder Observanz vor, dass sie Gegner nur aus Notwehr umgebracht haben oder werden umbringen müssen. Häufig ist diese Begründung offenkundig unwahr; aber je seriöser sie präsentiert wird, umso gründlicher entzieht sie sich der Nachprüfung.