Buch lesen: «Die andere Reformation»

Schriftart:

Ottmar Fuchs

Die andere Reformation

Ökumenisch

für eine solidarische Welt

OTTMAR FUCHS

Die andere

Reformation

Ökumenisch

für eine solidarische Welt

echter

Meiner

Schwester

Irene

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-03987-5

978-3-429-04882-2 (PDF)

978-3-429-06302-3 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Vorwort

Damals, als mir während meines Theologiestudiums zur Vorbereitung einer Seminargestaltung in Gedanken und im Herzen aufgegangen ist, welche Bekehrung Martin Luther erlebt haben muss, als ihm intensiv klar wurde, dass er nichts dafür tun muss, um von Gott geliebt zu werden, dass er als Sünder, noch bevor er etwas geleistet haben könnte, von Gott „gerechtfertigt“ ist, hat dies bei mir selber die Bekehrung ausgelöst, Seelsorge, Verkündigung und Lebenshilfe und auch die Pastoraltheologie immer mehr in einer ganz zentralen Weise aus der Perspektive der Rechtfertigungstheologie und damit einer radikalen Gnadentheologie zu begreifen. Als in dieser Hinsicht „lutherischer Katholik“ war ich immer wieder dabei, meine katholische Identität aufihre rechtfertigungstheologischen Möglichkeiten hin durchzubuchstabieren, zuletzt hinsichtlich der Sakramententheologie und -pastoral.1

Weil Luthers Entdeckung für meinen Glauben und für meine Theologie so entscheidend geworden ist, glaube ich, auch das benennen zu dürfen, wo ich gerne (in mancher Hinsicht auch durch die neuere Theologie des Zweiten Vatikanums mitbewegt) mit Luther über Luther hinaus gehen möchte, nicht um einer rechthaberischen Auseinandersetzung, sondern um der authentischen Zukunft der Kirchen willen. Inhaltlich geht es dabei um die solidarische Notwendigkeit der guten Werke genauso wie um die unbegrenzte Reichweite der Rechtfertigungstheologie. Das „mit Luther“ ist dabei sehr ernst zu nehmen, denn ohne Luther ginge es nicht über Luther hinaus.

Auch ist keine zeitenthobene Kritik an Luther angezielt, sondern ich will gerade in der Dynamik seiner unschätzbaren Errungenschaften in Glaube und Theologie aus meiner Perspektive Entscheidendes für die Kirchen fruchtbar werden lassen. Konfessionalistische Auseinandersetzungen weichen der gemeinsamen Auseinandersetzung um eine ökumenische Zukunft des Christentums zum „Heil der Welt“.

„Es geht … um die Rechtfertigungslehre, es geht um eine theologische Grundbotschaft für den Menschen im 21. Jahrhundert – das ist der eine Aspekt. Und der andere Aspekt, dass man immer stärker die ökumenische Frage in den Vordergrund gestellt hat ..: Die großen Kirchen in Deutschland wollen in diesem Reformationsjubiläum Akzente der Gemeinsamkeit setzen. Das halte ich für eine ganz große außerordentliche Entwicklung.“2 Dafür will dieses Buch ein Beitrag sein, ganz im Sinne einer gegenseitigen „Mitreformation“ für die Zukunft.3

Mein Zugang ist kein primär historischer, sondern ein praktisch-theologischer. Selbstverständlich berufe ich mich dabei auf historische Forschungen. Direkte Textbelege zu den Schriften Luthers sind solchen Forschungen zu entnehmen. Es ist das Ziel meines Faches, unsere Gegenwart und Zukunft in eine „Begegnung“ mit Luther und der Lutherrezeption einzubringen. Die gegenwärtigen Herausforderungen und Probleme sind dabei genauso ernst zu nehmen wie die Kontexte, in denen sich Luther und die Menschen, die seine Botschaft annahmen, befanden.4

Das Buch hat vier Kapitel: Nach der Eröffnung des Themenkreises zum Erinnerungsfest der Gnade im Jahr 2017 folgen einige zusätzliche Vertiefungen der in diesem Fest angesprochenen Inhalte. Man muss die Vertiefungen nicht gelesen haben, um drittens zu den Reformatorischen Wegweisungen zu kommen, in denen etwas andere Reformatoren und Reformatorinnen Luther beigesellt werden, vor allem jene andere Wartburgreformatorin Elisabeth, die Luther selbst sehr geschätzt hat. Das Buch endet mit Mut und Demut für eine gemeinsame Solidarität ohne Selbstüberschätzung und für einen Glauben, der Leben und Leiden trägt. Mit jedem der vier Kapitel beginnen in den Anmerkungen die Erstnennungen der Publikationen von Neuem.

Diese Thematik beschäftigt mich seit etlichen Jahren. Was davon bereits publiziert wurde, findet sich in der Liste der Vorarbeiten (sie werden in den Anmerkungen mit Kurztitel zitiert) am Ende des Buches.

Dem Lektor des Echter Verlags, Herrn Heribert Handwerk, danke ich herzlich für das intensive Lektorat und für seinen Einsatz für dieses Projekt und Rolf Bechmann für die abschließende Durchsicht des Manuskripts.

Ca. 1944, also in der für viele Verfolgte und Gequälte und überhaupt für Millionen von Menschen hoffnungslosen Zeit, haben Menschen aus ihrem evangelischen Glauben heraus Martin Luther inhaltlich mit Recht das Wort in den Mund gelegt: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“5 Eine wunderbare Erfindung, die Hoffnung in hoffnungsarmer Zeit mit dem Autoritätsbezug auf Luther selbst zu stärken. Wenn es nicht zu vermessen ist, möchte auch ich, nicht vergleichbar mit den Bedrängnissen um 1944, aber doch aus drängenden Sorgen für die ökonomische, ökologische und religiöse Zukunft der Welt heraus, Martin Luther eine neue Apfelbaumgeschichte in den Mund legen: dass aus der Dynamik seiner Theologie in den Kirchen jenes „Bäumchen“ gepflanzt und gehegt wird, in dem unbegrenzte Solidarität (einschließlich damit verbundener Verzichtbereitschaft) und unendliche Liebe Gottes im Glauben der Menschen heranwachsen können. Martin Luther selbst möge, wie auf dem Titelbild dieses Buches, sein Auge darauf haben, dass dieses Bäumchen zu einem mächtigen Baum wird.

Ich widme dieses Buch meiner Schwester Irene in Dankbarkeit für eine herzliche Geschwisterschaft, für unzählige wertvolle Anregungen in unseren Gesprächen und dafür, wie sie auf ihre Weise den Weg der „anderen Reformation“ geht.

Lichtenfels,

am 25. Juni 2016,

am Fest „Petrus und Paulus“

Ottmar Fuchs

Inhalt

Vorwort

Erinnerungsfest der Gnade

1. Luthers Herz

1.1 Erfahrung der Gnade

1.2 Gnade als Rechtfertigung

1.3 Realistische Wahrnehmung

1.4 Nur Liebe hilft auf!

2. Erweiterte Reform

2.1 In Wort und Tat

2.2 Bedeutung der Werke

2.3 In der Gottesliebe

2.4 Gedächtniskorrektur

2.5 Entgrenzung schafft Grenzen

3. Sehnsucht nach Rechtfertigung

3.1 Gnadenlos im Teufelskreis?

3.2 Rechtfertigung der Menschheit?

3.3 Rettung vom Kreuz her

3.4 Wider die Arroganz der „Guten“

Vertiefungen

1. Böse und geliebt

1.1 Ein „Abgrund“

1.2 Versöhnung ohne Entschärfung

1.3 Keine Bedingung?

2. Kirche und Glaube

2.1 Entgrenzungswege

2.2 Die ganze Welt

2.3 Unterschiedslos und unterscheidend

2.4 Gabe des Glaubens

3. Unmöglich, aber wahr

3.1 Absolut gegeben

3.2 Grundlos geschenkt

3.3 Hört niemals auf

Reformatorische Wegweisungen

1. Wartburger Reformatorin Elisabeth

1.1 Elisabeth und Luther

1.2 „Wider-wärtige“ Elisabeth

1.3 Vitalität der zweiten Liebe

1.4 Wort- und leibnah

1.5 Macht der Unterwerfung

2. Johannes Ciudad in Granada

2.1 Unruhige Jahre

2.2 Vom Buch zum Leben

2.3 Das Herz befehle!

2.4 Spiritualität des Dienens

2.5 Integrative Pflege

3. Viele andere

3.1 Weltgebetstag der Frauen

3.2 Bernhard Lichtenberg

3.3 Madeleine Delbrêl

3.4 Rudolf Lunkenbein

Mut und Demut

1. Demut der Werke

1.1 Kein Selbstruhm durch die Werke

1.2 Bonhoeffer und Becket

2. Gnade der Sühne

2.1 Vergebung und Genugtuung

2.2 Sühne für andere

2.3 Ablass als Weg der Sühne

2.4 Sühnesolidarität über den Tod hinaus

3. Glaube als Lebenshilfe

3.1 Bilder des Glaubens

3.2 „Illusion“ als Energie

3.3 Wenn nichts hilft

Eigene Vorarbeiten

Anmerkungen

Erinnerungsfest der Gnade

1. Luthers Herz

In der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, dieser epochalen Einigung zwischen dem Lutherischen Weltbund, der Römisch-katholischen Kirche und dem Weltrat methodistischer Kirchen am 31. Oktober 1999, am Reformationstag also, ist zu lesen: Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade. Grundlage dieser Einsicht6 ist jener biblische Theologe, dessen Briefe für den Glauben aller Kirchen höchst bedeutsam sind – der Apostel Paulus, der Urheber der Rechtfertigungstheologie.7 Darin versucht er dem Glauben auf seinen tiefsten Grund zu kommen, sein tiefstes Geheimnis ins Wort zu bringen. Für Luther lag darin die Entdeckung seines Glaubens und seines Lebens. Zugleich hat er damit in der Praxis der Kirche aufgedeckt, was dort unterbelichtet oder gar abgedunkelt war.

Was ist dieses Herzstück der Theologie Luthers? Welche Kernerfahrung stand dahinter? Warum konnte er, nachdem er einmal diese Erfahrung gemacht und diese Einsicht gewonnen hatte, danach nie mehr aufhören, von ihr her die ganze Theologie und die christliche wie auch kirchliche Praxis zu entwickeln? Wie bei allen Theologien hat auch diese Theologie mit der Biographie zu tun und ist ohne Letztere nicht denkbar.

1.1 Erfahrung der Gnade

Und zu dieser Biographie gehört, dass Luther in vieler Hinsicht Glaube und Kirche als etwas erlebt, das ständig fordert, Lasten auferlegt, und das alles mit Gott als Legitimationsgrundlage: dass es Gott so will (vgl. Lk 11,43–52). Für den jungen Luther ist es gerade diese Seite der Frömmigkeit, die er nicht nur erlebt, sondern die er selber in sich bestätigt und verschärft. Denn er will sich unterwerfen, er versucht, die Gebote zu erfüllen. Gegen sein marterndes Sündenbewusstsein kämpft er durch häufige Bußübungen und Beichten an. Gnadenlos gegen sich selbst will er Gottes Gnade durch seine spirituellen Leistungen erwerben und erzwingen.

„Luthers theologische Entwicklung hin zu einem neuen Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Menschen hatte sich an der quälenden Erfahrung des Sünder-Seins entzündet, umso mehr je stärker er sich als Augustiner-Eremit um ein regelstrenges und spirituell verdichtetes Mönchsleben bemüht hatte.“ Diese „Radikalität seiner Anfechtungsängste“ bestimmte die „existenzielle Wucht der religiösen Erfahrung … in ihrer die ganze Richtung des theologischen Nachdenkens neuordnenden und strukturierenden Dynamik“.8

Luther kann seiner Sündigkeit und seiner Unzulänglichkeit nicht entfliehen. Je weniger dies gelingt, desto mehr schiebt sich die Schraube tiefer mit der immer wieder einbrechenden, quälenden Frage, ob denn die religiösen Übungen genug waren. Immer wieder stößt seine Heilsangst die Tür zum Zweifel auf: wieder nicht genug? Hinter allem steht die Grundfrage: Wie gewinne ich einen gnädigen Gott? Und er kommt nicht davon los, dass man von Gott nichts geschenkt bekommt, sondern dass man sich Gottes Zuneigung zu verdienen hat. Diese Wenn-dann-Struktur hat schon in jenem bezeichnenden Gewittererlebnis ihren Ausdruck gefunden, als er Gott verspricht, in einen Orden einzutreten, wenn er aus dieser Situation heil herauskomme. Und Luther erfüllt dieses Gelübde konsequent. Aber je mehr er auf diese Weise mit Gott umgeht, je mehr er sich abfordert, desto deutlicher wird ihm auch, dass dies alles nicht gelingen kann. Die Liebe des unendlichen Gottes kann nicht mit endlichen Mitteln erworben werden. Man kann sich Gottes Liebe nicht verdienen.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Dreht sich diese Spirale nämlich immer weiter nach unten, dann bleibt am Schluss nur noch der zwanghaft-paranoide Wahnsinn, oder aber man muss sich der Magie ergeben, indem man daraus ein Spiel macht, diese Wenn-dann-Beziehung zu Gott so in die Hand zu nehmen, dass man damit Gott selber austrickst: Wenn ich das und das tue, dann kann Gott gar nicht anders, als so und so mit mir zu verfahren. Mit jedem Wenn-dann, das Gott angeblich dem Menschen auferlegt, gewinnt Letzterer seinerseits gerade mit der Erfüllung dieses Wenn-dann einen Zugriff auf Gott selbst. Ein solches Verhalten Gott gegenüber nennt Paulus Hybris und Selbstruhm des Menschen (vgl. Gal 6,3 und 14), zwar mit dem schönen Gefühl des Menschen, Gott gegenüber eine Leistung zu erbringen, aber im Sinne eines Verrechnungszusammenhanges und nicht einer lebendigen Beziehung der Freundschaft und des Vertrauens. Genau das ist das Problem des Petrus: nicht, dass er den anderen nicht die Füße wäscht, sondern dass er sich von Jesus nicht die Füße waschen lässt. Jesus antwortet: „Werde ich dich nicht waschen, so hast du keinen Teil mit mir“ (Joh 13,8, nach der Lutherübersetzung), wobei sich diese Bedingung nicht auf die Liebe, sondern auf die Erfahrung der Liebe in diesem Dienst und auf die von daher mögliche Gestaltung des eigenen Dienstes bezieht. Sich bedingungslos lieben zu lassen ist nicht einfach.9

Luther kann noch rechtzeitig aus dieser letztlich alles zerstörenden Dynamik aussteigen. Es kommt zur Wende. Beim Studium der Paulusbriefe fällt es wie Schuppen von seinen Augen: Man kann sich die Liebe Gottes nicht verdienen, und man braucht dies auch gar nicht, weil sie längst durch Jesus Christus „verdient“ ist. Hier schlägt das Herz der Reformation, hier ist die tiefe religiöse Erfahrung, die alles Weitere trägt. Hier bringt Luther den Kern der christlichen Botschaft zum Vorschein. Er entdeckt auf schmerzlichem Weg und darum umso erlösender etwas, was leicht vergessen werden kann und was alle angeht. Luther erfährt die beglückende Einsicht: Nichts, gar nichts muss ich tun, damit mich Gott liebt. Er liebt mich unbedingt, ohne Bedingungen, und zwar als Sünder, noch bevor ich mich verändert habe. Nicht ein Wenn-dann, sondern ein Ohne-Wenn-und-Aber bestimmt diese Beziehung. Was für eine Befreiung: Gott ist nicht eine Belastung, sondern eine Entlastung im Leben, er fordert nicht erst, sondern er schenkt. Seine Gnade ist voraussetzungslos. Und darin liebt er das Gegenteil seiner selbst, nämlich die sündigen Menschen. Diese Anerkennung und Liebe umfasst die Menschen nicht ausschließlich, sondern einschließlich ihrer dunklen Schattenseiten. Denn was nicht angenommen ist, ist auch nicht erlöst. Luther erkennt: Es ist ein Wahn, sich Gottes Liebe erwirtschaften zu wollen. Gott liebt bedingungslos, jeden Augenblick neu.

So findet Luther den gnädigen Gott. Und diese Erfahrung erfasst ihn so sehr, dass sich dabei auch seine Psyche verändert. Die zwanghaften Ketten fallen ab, und er fühlt sich als Freigelassener. Das ist die evangelische Grunderfahrung, die auch viele Gläubige, viele Heilige und nicht zuletzt auch Theologien in den Kirchen geprägt hat und prägt.

1.2 Gnade als Rechtfertigung

Gnade ist ein ziemlich heikles Wort. Kommt es doch aus der feudalen Welt, wo der König Gnade vor Recht ergehen lässt. Ein Verurteilter müsste eigentlich von Rechts wegen bestraft werden. Der König aber setzt die Strafe aus und begnadigt ihn. Allerdings kann der König auch Ungnade vor Recht ergehen lassen. Dies macht deutlich, wie sehr die Gnade in diesem Zusammenhang ein Willkürakt des Herrschers ist. Dieses Missverständnis kann sich aber nicht einstellen, wenn man den Gedanken des Apostels Paulus genauer nachgeht. Denn er formuliert diese Gnade weniger im Bereich der Barmherzigkeit Gottes als im Bereich seiner Gerechtigkeit. Es ist nicht so, als ob Gott eigentlich gerecht wäre und bestrafen müsste, aber dann doch mit seiner Barmherzigkeit Kompromisse eingeht und Gnade walten lässt. Vielmehr ist die Gnade selbst ein Vollzug seiner Gerechtigkeit, also kein Willkür-, sondern ein Rechtsakt. Die Gnade ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, von der es keine Ausnahmen gibt.

So kann Paulus sagen: Gott rechtfertigt die Menschen als Sünder und Sünderinnen, er spricht sie gerecht, obwohl sie unrecht tun, oder, besser: weil sie von sich aus nicht gerecht sind. Luther bringt dies auf die faszinierende Formel: gerechtfertigt und Sünder*in zugleich! Übertragen auf die Gerichtswelt, würde dies bedeuten: Da wird jemand verurteilt und nicht etwa begnadigt, sondern im Urteil selber und gleichzeitig damit gerechtgesprochen. Hier ergeht nicht Gnade vor Recht, sondern göttliches vor menschlichem Recht.

Die Menschen sind mit ihrer sündigen Seite gerecht gesprochen. Als Sünder und Sünderinnen werden sie in ihrem Lebens- und Überlebensrecht rehabilitiert, und Gott kann die Sünde der Menschen nie zum Anlass nehmen, ihr Leben zu schädigen oder zu beseitigen. Die Sintflut kann nicht mehr geschehen. Der Bogen des neuen Bundes läuft nicht mehr über das vernichtende Strafgericht, sondern über Gericht und Freisprechung, über die Rechtfertigung des Lebensrechts der Welt und der Menschen (vgl. Gen 8,21–22; 9,11 und 15). Der Verfluchte ist Gottes Augapfel.

Mit dem Gerichtsakt der Rechtfertigung ist von Gott her garantiert: Gottes Liebe uns gegenüber ist weder Laune noch Herablassung, sondern ein „Rechtstitel“. Dies klingt verrückt, denn darin setzt Gott sein Geschöpf ins Recht, von ihm geliebt zu werden. Was wir Menschen gegenüber nie haben könnten, haben wir Gott gegenüber: ein von ihm selbst verbrieftes Recht darauf, von ihm geliebt zu werden. Damit gibt Gott den Menschen das Recht der Einklage, von Gott geliebt zu werden: Warum erfahren wir dich nicht als Liebe? (vgl. Ps 22). Wenn du uns schon ins Dasein setzt, dann hoffentlich aus Liebe und nicht aus der grausamen Lust am Leben, um zuzuschauen, wie es sich vernichtet und zu Grunde geht. Wie man sich Gladiatoren hält, damit sie sich zum Vergnügen des Kaisergottes zerstören.

Gott verzichtet auf jedes Wenn-dann den Menschen gegenüber und erfüllt damit die wichtigste Bedingung seines Geschöpfs, um an einen guten Gott glauben zu können. Ohne diese Liebesleistung Gottes kann man Gott vergessen, ja muss man ihn bekämpfen, sollte er tatsächlich als solcher Willkürgott und damit als Satan existieren. Das ist die asymmetrischste Entsprechung, die es gibt und die allein Gott einen guten Gott sein lässt: Der Mensch muss keine Werke leisten, um von Gott von Geburt an geliebt zu werden, Gott aber muss das Erlösungswerk für die Menschen setzen, um angesichts des faktischen Unerlöstseins das Vertrauen, den Glauben eben, der Menschen zu gewinnen und zu ermöglichen.

Gottes Liebe ist Leben, auch über den Tod hinaus. Wir haben ein Recht auf die Schöpfung und ein Recht auf die neue Schöpfung. Nicht weil wir uns dieses Recht genommen hätten, sondern weil Gott es zugesprochen hat, dürfen wir es beanspruchen. Hier geschieht so etwas wie eine nachträgliche Wurzelheilung, wie ein „Ausgleich“ für diese auch zerstörende Schöpfung, in der wir ohne Sünde nicht leben können, für die schlimmen Verhältnisse der Ungerechtigkeit, der Gewalt und des Todes, in denen wir nicht ohne Leid leben können. Weder als Sündige noch als Leidende werden die Menschen vor Gott rechtlos oder würdelos. Wenn sie sündig werden, verlieren sie nicht das Recht, von Gott geschützt zu werden. Und die Bedrängten bekommen auch dann das Recht, Gott im Leid anzurufen und anzuklagen,10 wenn sie selbst sündig sind. Denn niemals mehr können Sünde oder Aufbegehren zur Rechtfertigung dafür dienen, den Menschen Leid oder gar den Tod zuzufügen. Gnade Gottes erfahren bedeutet, dass die Menschen Gott diese Unbedingtheit seiner Liebe sich gegenüber zutrauen und dass sie diesbezügliche Blockaden, die sie durch ihre Missgunst und Kleinkrämerei zwischen sich und Gott aufrichten, abbauen.

1.3 Realistische Wahrnehmung

Wenn weder Umkehr noch gute Werke „eine Bedingung der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott“ sind,11 wenn Gott also die sündigen Menschen als solche rechtfertigt, dann rechtfertigt er nicht die Sünde. Gott heißt nicht das Böse gut, vielmehr hasst er die Sünde, weil sie immer Zerstörung und Tod um sich verbreitet. Gerade deshalb will Gott aber auch die Zerstörung und die Vernichtung der Sünder und Sünderinnen nicht. Jede Leben einschränkende oder Leben zerstörende Strafe verschärft immer nur das Problem sowohl des Leidens und des Todes wie auch der darin gesteigerten Unmöglichkeit der Menschen, sich für die Liebe und für die Gerechtigkeit zu öffnen. Rechtfertigende Gnade Gottes bedeutet also nicht, dass Gott zu uns sagte: Du bist eigentlich kein Sünder bzw. keine Sünderin. Die Täter werden nicht verharmlost und auch nicht therapeutisiert. Um der Leiden willen, bewirkt vom Bösen und von der Gewalttätigkeit der Menschen, darf dies niemals geschehen. Es wäre die schlimmste Missachtung der Opfer. Die Sünde wird offengelegt in all ihren verschleierten Verästelungen und in ihrer offensichtlichen Monstrosität. So erkennt Luther: Sünder sind wir alle, das ist wahr! Aber dieser Schuldspruch wird nicht zum Straf- oder gar Todesurteil. Auf Dauer ist gegen das Schlimme kein anderes „Kraut“ gewachsen als die niemals zurückgezogene Liebe.

Nicht dass man sich vor Gott selbstherrlich, als ob man keine Sünde hätte, hinstellen könnte wie jener Pharisäer im Tempel, sondern dass man sich vor Gott hinstellt wie jener Zöllner, der sich seiner Sündhaftigkeit bewusst ist und sich gerade deshalb nicht vor Gott zu verstecken braucht (vgl. Lk 18,11 bzw. 13). Dahinter steht kein pessimistisches, sondern ein realistisches Menschenbild. Wer das furchtbare Elend sieht, das sich Menschen antun, in Vergangenheit und Gegenwart, kann nicht mehr davon sprechen, dass die Menschen doch eigentlich nicht so schlimm seien. Sie sind schlimm genug und können überall schlimm werden, wenn sich die Verhältnisse entsprechend verändern und die Lizenz zur Schädigung und zur Vernichtung von Menschen oder Menschengruppen ausgegeben wird.

Wer sich Gottes Gnade aussetzt, entdeckt vielmehr auf dem Hintergrund der unverdienten und umfassenden Rechtfertigung der Existenz, also des Lebens jetzt und über den Tod hinaus, umso intensiver, dass er/sie im Bösen, in der Schädigung vieler Menschen, verhaftet ist und dass es die rechtfertigende Gnade Gottes nicht ohne den Schuldspruch Gottes gegenüber den Menschen gibt.

Genau dies gibt den Menschen die Möglichkeit, sich vor Gott und vor sich selbst nicht mehr verstecken zu müssen, wie es Adam und Eva nach dem Sündenfall tun (vgl. Gen 3,8). Gott kennt die Menschen und erkennt sie als sündig, aber nicht nur verurteilend, sondern auch freiund gerechtsprechend. Ihr Gutsein ist nicht die Bedingung seiner Gnade, aber die Gnade ist die Bedingung für ihr Gutwerden. Wer dagegen immer gut dastehen muss, um Achtung und Selbstwert zu erfahren, wer die abgrundtiefe Anfälligkeit für Missgunst nicht „wahr“haben darf, bei dem und bei der wachsen unter der Decke umso größere Aggressionen heran, die dann in bestimmten kritischen Augenblicken umso unkontrollierter und zerstörerischer hervorbrechen. Und dies alles gilt von einzelnen Menschen (und ihrem Egoismus) genauso wie von Gruppen (und ihren Ausgrenzungen) und Völkern (und ihren Chauvinismen). Wer die eigenen dunklen Seiten verdrängen muss, muss sie in die anderen hineinverlegen und dort zerstören. Wer groß dastehen will, muss die anderen kleinmachen. Wer die eigenen Grenzen und Schwächen verheimlichen muss, muss dies meist auf Kosten der anderen tun, und er tut dies mit entsprechenden Selbstrechtfertigungen. Und so steigert man sich in die Hölle der Selbstrechtfertigungen hinein, immer auf Kosten derer, denen dabei Recht entzogen wird. Selbstrechtfertigung und Entsolidarisierung sind die zwei Seiten der gleichen Medaille.

Wir müssen uns aber nicht rechtfertigen, wir können es gar nicht: Gott hat dies längst getan. Und er tut dies in jeder Sekunde neu. Mögen wir noch so sehr fallen, mögen wir uns als noch so unwürdig erweisen, er macht seine Liebe davon nicht abhängig. Sage niemand abfällig, dies sei „billige“ Gnade! Denn diese Billigkeit für uns Menschen ist mit Gottes „teuerstem“ Solidareinsatz bezeugt: in seiner Menschwerdung im Leben, Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth.

1.4 Nur Liebe hilft auf!

Die „Erbsünde“ ist weniger ein Glaubensartikel denn eine Wirklichkeitsbeschreibung: Gewalttätigkeit, Vernichtungswünsche, Hass, Neid und Missgunst stecken zu tief in uns und brechen immer wieder hoch, im Einzelnen wie im Kollektiven. Aber das verhindert die Gnade Gottes: dass diese Selbsterkenntnis zur Erniedrigung und Verkleinerung des Menschen führt. Wenn es eine Hoffnung aufVeränderung des Menschen gibt, dann nicht über die kalten Vollzüge der Bestrafung und der Forderung, sondern dann sind die Zusammenhänge anders zu denken: zuerst die Gnade, dann die Verantwortung; zuerst wird uns das Leben geschenkt, dann kommt die Gestaltung; zuerst erfahren wir Gnade in Freundschaft und Liebe zwischen den Menschen, dann folgt daraus die Aufgabe, die Beziehungen in Zuverlässigkeit und Treue zu gestalten.

Gott fordert nichts, wofür er nicht die Ermöglichungen geschenkt hat oder schenken wird. In unserem Glauben kommt nun alles darauf an, dass wir ihm diese Gnade uns gegenüber abnehmen, ihrer „inne“werden, sie mit dem Herzen auf uns beziehen und nicht selber verdunkeln. Letzteres geschieht schon, wenn gestresste Eltern oder Erzieher*innen den Kindern damit drohen, dass Gott sie bestrafen werde, wenn sie jetzt nicht gehorchten. Gott ist kein Erziehungsmittel, sondern Beziehungswirklichkeit fern von Strafe und Drohung. Auch die Christenheit ist immer wieder in den Fehler verfallen, Gott mit den eigenen Wenn-dann-Kategorien und Strafprojektionen zu verdunkeln.

Wenn Gott die Menschen als Sünder und Sünderinnen in seine Anerkennung und Liebe aufnimmt, kann das dann nicht auf Seiten der Menschen zur großen Versuchung führen: Wenn mich Gott als Sünder oder Sünderin liebt, dann kann ich ja tun, was ich will? Denn ich kann niemals aus der Liebe Gottes herausfallen. In der Tat: Wer so spricht, hat die Liebe Gottes durchaus verstanden, aber er hat sich noch nicht in sie hineinbegeben, sonst könnte er so etwas nicht sagen. Er steht noch außerhalb, benutzt die Liebe Gottes als Instrument gegen ihn, anstatt aus ihr heraus zu leben. Gott kann nichts dagegen tun. Dies zeigt eindrucksvoll die Geschichte Jesu über den barmherzigen Vater und den verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11–32). Der Vater lässt den Sohn ziehen. Aber seine Liebe bleibt und geht mit ihm. Sie wartet auf seine Rückkehr. Und sie bliebe auch, wenn er nicht zurückkehrte. Eigentlich dürfte man auch hier nicht nur vom barmherzigen Vater sprechen, sondern von dem Vater, der dem weggehenden Sohn sein Recht erhält und sichert: sein Recht, wegzugehen, sein Recht auf Heimkehr, sein Recht auf ein Leben zu Hause, sein Recht auf Rettung beim Vater, auf seine Anerkennung und Geborgenheit. Aus Gottes Wesen heraus gibt es nur einen Weg, die sündigen Menschen zu bekehren und zu retten, nämlich den einer rechtlich gesicherten, unendlichen Ausdauer in Liebe.

2. Erweiterte Reform

Das 500. Reformationsgedächtnis am 31. Oktober 2017 ist vom bisher Gesagten und aus vielen anderen Gründen ein großes Fest für die Gnadengeschichte des Christentums und für die Freiheitsgeschichte Europas. Daran ist nichts zu schmälern, auch nicht daran, dass diese Erinnerung für die Zukunft zu mobilisieren ist.

Doch was die selbstkritische Zukunft der Religionen und ihre universal solidarisierende Verantwortung anbelangt, wäre von den Kirchen gemeinsam eine darüber hinausgehende Gedächtnisarbeit anzustrengen, die die auch von Martin Luther nicht gänzlich beseitigten Zwiespältigkeiten religiösen Glaubens nach innen und nach außen angeht. Im katholischen Bereich durchaus mit dem Blick auf das 50-jährige Jubiläum zum Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils zwei Jahre zuvor (am 8. Dezember 2015), gewissermaßen der katholischen „Reformation“, wo der Finger auf die neuralgische Stelle des Verhältnisses von universalem Heil und christlichem Glauben, von entgrenzender Solidarität und abzugrenzendem religiösem Eigengut gelegt wurde, bis heute mit schmerzenden Turbulenzen.

Für die heute geschärfte Problematik der Religionen ist charakteristisch, was Frank-Markus Barwasser in der Sendung „Pelzig hält sich“ am 7. Oktober 2014 in die Frage gekleidet hat: „Mal grundsätzlich nachgedacht. Wenn man sich überlegt, was im Namen von Religionen schon an Verbrechen passiert ist in dieser Welt, auch der christlichen, wäre die Welt vielleicht besser ohne Religion?“ Das Publikum hat heftig geklatscht! Man traut den Religionen offensichtlich wenig Gutes und alles Schlechte zu. Es gibt ja auch eine jahrtausendelange Gewaltgeschichte der Religionen, auch der christlichen Kirchen, die bitter in die Kriege der Gegenwart hineinreicht. Dahinter steht eine theologische Vernachlässigung des Ethischen genauso wie ein hinter der Fassade der Liebesrhetorik dräuender Drohungsgott. Zuerst zum Ersteren.

2.1 In Wort und Tat

Die „Reformation“12, die der Messias gegenüber seinen Gegnern zur Geltung gebracht hat, ist hauptsächlich in einem bestimmten Verhältnis von Wort und Tat, von Glaube und Erfahrung zu finden. Dementsprechend leistet sich Jesus selbst keine Rede von Gott außerhalb konkreter, heilender und rettender Begegnung. Er spricht vom Reich Gottes, wenn er in der Begegnung mit Armen, Stigmatisierten und Schwachen seine Heilsbotschaft im Heilen tut bzw. indem er den Sünder*innen Gottes Vergebung zuspricht. Er spricht auch vom Reich Gottes, wenn er sich in seinen Reden und Gleichnissen mit den Armen und Leidenden solidarisiert: Wenn ich mit dem Finger meiner Hand heile, schlimme Entfremdungen austreibe und wenn ich gegen die Marginalisierung der Leidenden und Ausgegrenzten spreche und handle, dann ist das Reich Gottes zu euch gekommen! (Vgl. Lk 11,20).

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