Politische Philosophie des Gemeinsinns

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*Mit dieser Anrede begann Negt jede seiner Vorlesungen. Im Buch verzichten wir nachfolgend darauf.

Revolution der Denkungsart und Revolutionsangst bei Kant

Vorlesungen vom 25. und 31. Oktober 1974

Ich habe zunächst erläutert, dass es mir darauf ankommt, einen geschichtlichen Bezugsrahmen für die Neuaneignung jener philosophischen Theorien zu formulieren, die sich – beginnend mit Kant – auf das Bürgertum beziehen. Dieser Bezugsrahmen soll zu erkennen geben, in welcher Weise substanzielle Aneignungsprozesse von heute aus notwendig sind. Gleichzeitig kann es keineswegs darum gehen, die Klassizität dieser Philosophie unangetastet zu lassen. Vielmehr ist damit das Aufsprengen jenes klassizistischen Rahmens verbunden, in dem die Philosophie von Kant, Hegel sowie die Theorie von Marx stehen und von dem Brecht erläuterte, er führe nur zur Einschüchterung und nicht dazu, sich kritisch mit Schriften und Philosophien auseinanderzusetzen.15 Das setze Zugangsweisen zu diesen philosophischen Problemen voraus, die nicht von vornherein festgelegt sind.

Ich habe bereits angedeutet, dass es keine konstante, ein für alle Mal bestimmbare Beziehung zwischen den einzelnen Philosophien, zwischen der Theorie von Kant und jener von Hegel oder der Theorie von Hegel zu jener von Marx gibt. Wenn wir uns die dort angesprochenen gesellschaftlichen Probleme wirklich unter gegenwärtigen Voraussetzungen aneignen wollen, dann ist das nur in einer völlig neuen Weise möglich, die unseren eigenen geschichtlichen Bedingungen entspricht.16

Ich will gleich mit einem großen Sprung zu Kant einsetzen, nur zuvor noch den allgemeineren Verlauf skizzieren: Zunächst werde ich kurz das Problem von Geschichte und Diskontinuität bei Kant verhandeln, um anschließend zu dem Versuch zurückzukehren, meine Position der Aneignung und Neubestimmung des Marxismus genau darzulegen. Dabei geht es mir darum, nicht bloß die Reihenfolge Kant, Hegel, Marx, Freud im bestehenden Interpretationsrahmen der Marx’schen Theorie zu rekonstruieren, sondern diesen Interpretationsrahmen neu zu bestimmen. Es wird also die folgende zyklische Bewegung stattfinden: Ich werde nach einer kurzen Kantinterpretation versuchen, mein Aneignungsverständnis mit vorläufigen Fragestellungen an die Marx’sche Theorie und hauptsächlich an den späten Engels einzuleiten, um – im Vorgriff auf eine Aneignung der Theorien von Kant und Hegel – überhaupt Interpretationshinweise zu geben. All das wird gegen Ende auf eine Marxinterpretation in Verbindung mit einer Neubestimmung von Kant, Hegel und der nachmarxschen Theorie von Freud hinauslaufen.17 Dieser tastende oder tentative Zugang lässt zunächst noch Fragen offen, denen ich mich erst im weiteren Verlauf zuwenden werde. Für Diskussionen bleibt dazwischen immer wieder Raum.

Wenden wir uns nun einem ersten Problem bei Kant zu, das in der Schrift »Der Streit der Fakultäten« von 1797 enthalten ist. Es handelt sich um eine nachrevolutionäre Schrift in dem Sinne, dass sie nach der Französischen Revolution und nach der Beseitigung der Jakobinerherrschaft entstanden ist. Kant geht darin der Frage nach, ob es so etwas wie einen Fortschritt in der Geschichte geben kann – eine fortschreitende Entwicklung der Moral, ein Fortschritt in der gesellschaftlichen Organisierung und so weiter – und ob man solchen Fortschritt prognostizieren könne. Er formuliert im dritten Abschnitt »Einteilung des Begriffs von dem, was man für die Zukunft vorherwissen will«:

Der Fälle, die eine Vorhersagung enthalten können, sind drei. Das menschliche Geschlecht ist entweder im kontinuierlichen Rückgange zum Ärgeren, oder im beständigen Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe seines sittlichen Werts unter den Gliedern der Schöpfung (mit welchem die ewige Umdrehung im Kreise um denselben Punkt einerlei ist). Die erste Behauptung kann man den moralischen Terrorismus, die zweite den Eudämonismus (der, das Ziel des Fortschreitens im weiten Prospekt gesehen, auch Chiliasmus genannt werden würde), die dritte aber den Abderitismus nennen: weil, da ein wahrer Stillstand im moralischen nicht möglich ist, ein beständig wechselndes Steigen, und eben so öfteres und tiefes Zurückfallen (gleichsam ein ewiges Schwanken) nichts mehr austrägt, als ob das Subjekt auf derselben Stelle und im Stillstande geblieben wäre.18

Dieses Problem skizziert Kant hier nicht, um es schon zu lösen, sondern um überhaupt ein Erkenntnisinteresse an der Frage, ob die Menschheit etwas wie Fortschritt, Rückschritt oder Stillstand kennzeichne, zu formulieren. Denn darin liegt etwas ganz und gar Nachrevolutionäres, das es nicht zu übersehen gilt: Für die Aufklärer Diderot (1713–1784), Condorcet (1743–1794) oder Voltaire (1694–1778) wären Fragestellungen dieser Art nicht denkbar gewesen, so selbstverständlich war für sie die Menschheit im Fortschritt begriffen, was in einer explosiven Bestätigung eben dieses Fortschritts kulminieren würde. Entsprechend gab es auch bei Voltaire und Diderot schon Hinweise auf die Notwendigkeit einer Revolution. Im Gegensatz zu diesem vorrevolutionären Pathos der Aufklärer findet bei Kant etwas geradezu Szientifisches statt: Nüchtern unterscheidet er formal drei Arten der möglichen Vorhersagen, um das Problem an sich vorzustellen, das zu lösen er dann angeht. Dabei hält er Prognosen allein auf der Basis von Erfahrungen zunächst nicht für zuverlässig:

Wenn das menschliche Geschlecht, im Ganzen betrachtet, eine noch so lange Zeit vorwärts gehend und im Fortschreiten begriffen gewesen zu sein befunden würde, so kann doch niemand dafür stehen, daß nun nicht gerade jetzt, vermöge der physischen Anlage unserer Gattung, die Epoche seines Rückganges eintrete; und umgekehrt, wenn es rücklings und, mit beschleunigtem Falle, zum Ärgeren geht, so darf man nicht verzagen, da nicht eben da der Umwendungspunkt (punctum flexus contrarii) anzutreffen wäre, wo, vermöge der moralischen Anlage in unserem Geschlecht, der Gang desselben sich wiederum zum Besseren wendete.19

Selbst wenn über Jahrtausende ein Fortschritt zu beobachten gewesen ist, besage das also noch gar nichts für die Zukunft, weil es eben jetzt auf derselben Erfahrungsebene rückwärts gehen könne. Schon hier fragt Kant nach der Möglichkeit, nach dem Prinzipiellen, dem Übergeschichtlichen, Apriorischen und danach, wie reine Vernunft eine solche Frage überhaupt beantworten kann. Und schon hier ist das Taumeln in der empirischen Erscheinungswelt für Kant keine angemessene Methode, um eine solch fundamentale Frage zu beantworten.

Im eben zitierten Passus findet sich darüber hinaus ein für Kant charakteristischer Begriff: die moralische Anlage des Menschengeschlechts, der Gattung. Diese moralische Anlage ist dabei etwas Potenzielles, etwas Mögliches, was sich keineswegs ausdrücken muss, was einmal nur unterstellt ist. Kant geht es zunächst lediglich darum, die Entfaltung der moralischen Anlage zweifelsfrei festzumachen, einen Fortschritt, der sich für ihn darin äußert, dass die moralische Anlage nicht bloße Potenz bleibt, eine immer gleichbleibende Energie, sondern etwas, das sich ausdrückt. Diese Frage der Potenzialität – das Vermögen, die moralische Anlage, das Erkenntnisvermögen, das Vermögen der theoretischen und der praktischen Vernunft und so weiter – hat Hegel einmal als Kants »Seelensack«20 bezeichnet. Gewissermaßen ist bei ihm die ganze Seele durch solche Abteilungen von Vermögen definiert, wobei es hier um ein Vermögen des moralischen Verhaltens und Denkens geht.

Eines gilt es noch vorauszuschicken: Kant war derjenige Theoretiker des deutschen Idealismus und derjenige in der bürgerlichen Philosophie, der die Französische Revolution am entschiedensten verteidigt hat. Wie, das wird noch zu zeigen sein, aber er hat nie an ihr gezweifelt wie viele der Romantiker, die in ihrer späteren Entwicklung zu Konterrevolutionären geworden sind, so zum Teil auch Hegel. Dessen Begeisterung reduzierte sich Berichten von Zeitgenossen zufolge am Ende darauf, dass er jedes Jahr am 14. Juli ein Glas Wein auf die Französische Revolution trank – immerhin, für einen deutschen Philosophen war schon das keine Kleinigkeit. Doch weiter mit Kant:

Es muß irgend eine Erfahrung im Menschengeschlechte vorkommen, die, als eine Begebenheit, auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen desselben hinweiset, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren, und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein; aus einer gegebenen Ursache aber läßt sich eine Begebenheit als Wirkung vorhersagen, wenn sich die Umstände eräugnen, welche dazu mitwirkend sind. Daß diese letztere sich aber irgend einmal eräugnen müssen, kann wie beim Kalkul der Wahrscheinlichkeit im Spiel, wohl im Allgemeinen vorhergesagt, aber nicht bestimmt werden, ob es sich in meinem Leben zutragen und ich die Erfahrung davon haben werde, die jene Vorhersagung bestätigte. – Also muß eine Begebenheit nachgesucht werden, welche auf das Dasein einer solchen Ursache und auch auf den Akt ihrer Kausalität im Menschengeschlechte unbestimmt in Ansehung der Zeit hinweise, und die auf das Fortschreiten zum Besseren, als unausbleibliche Folge, schließen ließe, welcher Schluß dann auch auf die Geschichte der vergangenen Zeit (daß es immer im Fortschritt gewesen sei) ausgedehnt werden könnte, doch so, daß jene Begebenheit nicht selbst als Ursache des letzteren, sondern nur als hindeutend, als Geschichtszeichen (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon), angesehen werden müsse, und so die Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen, d. i., nicht nach den Individuen betrachtet (denn das würde eine nicht zu beendigende Aufzählung und Berechnung abgeben), sondern, wie es in Völkerschaften und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, beweisen könnte. […] Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.21

 

Es ist also im Grunde unmöglich, aus Erfahrung auf etwas zu schließen, was wie eine moralische Anlage erfahrungsunabhängig ist. Aber wenn wir einem geschichtlichen Ereignis mitfiebernd beiwohnen, gibt das immerhin einen Hinweis darauf, dass eine moralische Anlage des Menschen existiert. Diese zeigt sich nun merkwürdigerweise nicht in den Agierenden, in den Revolutionären selbst, sondern bei demjenigen, der in Berlin oder Königsberg sitzt und die Revolution betrachtet, das heißt, unmittelbar keine Interessen mir ihr verbindet, aber etwas dabei riskiert. Das, meint Kant, könne nur der Hinweis auf eine moralische Anlage sein, weil sich darin eine moralische Denkungsart ausdrücke und zwar nicht der Betroffenen, sondern derjenigen, die in der Revolution etwas erblicken, das in ihnen einen Enthusiasmus der Rechtsbehauptung auslöst.

Kant will vermeiden, diese moralische Anlage empirisch durch ein geschichtliches Ereignis, etwa die Französische Revolution, zu belegen, weshalb das Ereignis selbst zum Geschichtszeichen denaturiert. Nicht um das Ereignis, die Französische Revolution, die er sehr gut interpretiert und kennt, geht es ihm, sondern das Wichtige sind die Reaktionen auf dieses Ereignis. Diese Reaktionen aber können wiederum keine Handlungen, etwa revolutionäre Folgerungen sein. Kant wehrt sich explizit gegen dieses Missverständnis:

Es ist aber hiemit nicht gemeint, daß ein Volk, welches eine monarchische Konstitution hat, sich damit das Recht anmaße, ja auch nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen; denn seine vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa kann ihm jene Verfassung als die einzige anempfehlen, bei der es sich zwischen mächtigen Nachbaren erhalten kann. Auch ist das Murren der Untertanen, nicht des Innern der Regierung halber, sondern des Benehmens derselben gegen Auswärtige, wenn sie diese etwa am Republikanisieren hinderte, gar kein Beweis der Unzufriedenheit des Volks mit seiner eigenen Verfassung, sondern vielmehr der Liebe für dieselbe, weil sie wider eigene Gefahr desto mehr gesichert ist, je mehr sich andere Völker republikanisieren. – Dennoch haben verleumderische Sykophanten, um sich wichtig zu machen, diese unschuldige Kannegießerei für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung, die dem Staat Gefahr drohe, auszugeben versucht: indessen daß auch nicht der mindeste Grund zu diesem Vorgeben da war, vornehmlich nicht in einem Lande, was vom Schauplatz der Revolution mehr als hundert Meilen entfernt war.22

Wir sehen hier eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution: Hier entsteht eine Theorie, die, glaube ich, als revolutionäre Theorie des Bürgertums zu bezeichnen ist und die alle Widersprüche unvermittelt stehen lässt, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft zeigen.

Ich habe hier zunächst das Verhältnis zwischen Aktionszeit und Reflexionszeit problematisiert und mit einem Sprung in die Kantische Theorie behandelt. Bei diesem Problem des Revolutionsbegriffs und des Revolutionsverständnisses sowie des Kantischen Geschichtsbegriffs möchte ich noch einen Augenblick verweilen, bevor ich, wie angekündigt, den Bezugsrahmen diskutiere, in dem sich meine Kant-, Hegel- und Marxaneignung vollzieht. Diesen Rahmen liefert im Wesentlichen die Frage, inwieweit sich die Diskussion über den historisch substanziellen Gehalt der Marx’schen Theorie selbst verändern muss, damit eine Aneignung im heutigen Marxismus möglich wird.23 Es geht mir grundsätzlich darum, zu zeigen, dass jede Epoche und jede Klasse jene epochale Theorie sozialer Emanzipation, wie sie bei Marx vorliegt, umschreiben, das heißt neu konstituieren muss, wenn sie historisch wirksam werden soll. Die Marx’sche Gesellschaftstheorie muss also reformuliert werden, wenn sie Bezugsrahmen für die Aneignung der bürgerlichen Philosophie sein soll. Nur so bleibt der Bezugsrahmen der Marx’schen Theorie, so absurd es erscheinen mag, erhalten und werden nicht bestimmte Komplexe, Gebiete, Gegenstandsbereiche naturwüchsig ausgegliedert oder vernachlässigt. Ich habe bereits einige Beispiele genannt, etwa die Industriesoziologie, die angedeutet ist im »Kapital«, aber eigentlich liegen geblieben ist und deshalb von den bürgerlichen Wissenschaften okkupiert wurde. Das gilt auch für psychologische Ansätze, die es bei Marx in den Frühschriften gibt. Mit anderen Worten: Selbst wenn wir aktuell zu Kant übergehen, wird am Ende dieses Vorlesungszyklus wiederum der Versuch stehen, die Marx’sche Theorie unter neuen Voraussetzungen im Detail zu diskutieren. Was nun unmittelbar folgt, ist nichts weiter als der Versuch, Prinzipien dieser Neuaneignung zu formulieren.24

Doch worum geht es mir in diesem Zusammenhang bei Kant? Es geht um die Frage, ob nicht gerade in der Geschichtslosigkeit seines Geschichtsbegriffs und seines Revolutionsbegriffs, die geschichtliche Substanz des bürgerlichen Denkens zum Ausdruck kommt. Es geht um dieses prekäre Problem der Beziehung zwischen geschichtlicher Betrachtungsweise, geschichtlichen Ereignissen und geschichtlicher Substanz. Nun zeigt sich bei Kant im »Streit der Fakultäten«, zumal im für uns wesentlichen Streit zwischen der philosophischen und der juristischen Fakultät, in jeder Hinsicht die prägnanteste widersprüchliche Beziehung, die es im bürgerlichen Denken zu diesem Problem gibt.

Es geht Kant in diesem Text, wie wir gesehen haben, zentral um die Frage: Gibt es einen Fortschritt der Menschen – nicht wie bei Hegel im Bewusstsein der Freiheit, sondern eher im Bewusstsein der Weiterentwicklung seiner moralischen Qualität? Um diese Frage zu beantworten, begibt Kant sich auf die Suche nach einem Ereignis, das empirisch feststellbar, also erfahrbar ist und dessen genaue Analyse nicht nur auf die Existenz einer moralischen Anlage, sondern sogar mit Vorbehalten auf ihre mögliche Weiterentwicklung schließen lässt. Kant kommt – nicht explizit, aber doch klar bezogen auf die Französische Revolution – zu dem Schluss: Wir können nicht empirisch feststellen, ob sich die moralische Anlage weiterentwickelt, aber wir können immerhin ein »Geschichtszeichen«, einen Hinweis, einen Wink der Geschichte auf diese moralische Anlage suchen.

Warum sagt Kant nicht einfach: Das ist die Französische Revolution, und in ihr zeigt sich eine Rechtsbehauptung des Volkes, wie er es an anderer Stelle nennt? Warum spricht er von einem »Geschichtszeichen«? Damit macht er klar, dass dieses Zeichen nicht die Ursache für, sondern nur ein Hinweis auf die Weiterentwicklung ist. Er erklärt das weiter:

Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie gleich als durch Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von allem dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachtheilig werden, dennoch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im ganzen, und zugleich (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.25

Bei Kant deutet, wie wir bereits gesehen haben, auf die moralische Anlage nicht die Denkungsart der Revolutionäre hin, weil bei ihnen eigennützige Interessen im Spiel sein können, sondern nur der Enthusiasmus derjenigen, die dem Ereignis ohne unmittelbare eigene Beteiligung und ohne eigene Interessen lediglich beiwohnen. Es ist also nicht wie in der Ästhetik von Kant ein interesseloses Wohlgefallen an bestimmten Produkten, sondern ein interesseloses Verhalten gegenüber der Revolution, das auf eine moralische Grundlage seitens der Betrachter schließen lässt. Mit anderen Worten, Kant möchte eine Veränderung der revolutionären Denkungsart, eine Veränderung der Denkungsart ohne Revolution. Am liebsten wäre ihm ein Geschichtszeichen, das nicht mit Gräueltaten und Elend verbunden ist. Er möchte gewissermaßen die Revolutionierung der Denkungsart – nicht des Denkens, sondern der Art, wie sich reales Verhalten gegenüber anderen Menschen angeeignet wird – ohne revolutionäre Umwälzung.

Damit werden zunächst Prozesse, die äußerlich in der Geschichte ablaufen, in geschichtslose Formen transponiert. In dieser revolutionären Denkungsart schlägt sich das nieder, was einen Anstoß braucht, um sich zu entwickeln. Es geht um eine bestimmte verinnerlichte Form der Anschauung und des Denkens, des moralischen Verhaltens und so weiter, eben um eine Denkungsart. Das Zweite ist, dass diese Denkungsart von Bildungsprozessen gekennzeichnet ist und nicht durch äußerliches Handeln zustande kommt, denn keine einzige Handlung, weder eine zufällige noch eine Interessen geleitete, beweist ein moralisches Verhalten. Nur die Gesinnung oder die Maxime des Handelns macht Moralität und damit auch Fortschritt in der Moralität aus. Das bedeutet, dass sich hier der Begriff des revolutionären Ereignisses in die Subjekte schlägt, zu einer Angelegenheit von Subjekten wird, aber nicht von Individuen, sondern von Kollektiven: Es sind Völkerschaften und Staaten verteilt auf der Erde, die einen solchen Prozess durchlaufen.

Diese Denkungsart aktualisiert das Gesetz der Menschheit in der Person, denn sie bezieht sich auf das, was Kant mit Menschheit und mit dem Allgemeinen bezeichnet. Was sich hier, so Kant, herausbildet angesichts der Französischen Revolution ist der Citoyen, der allgemeine Bürger, der sich im Grunde von materiellen Interessen emanzipiert hat und nur das Interesse der Menschheit vertritt. Worin zeigt sich das am deutlichsten? Er nimmt Gefahren auf sich für Dinge, von denen er nach Kant nicht profitiert. Das heißt, er spricht diese revolutionäre Denkungsart in einzelnen Dingen aus und riskiert damit Amt und Würden, riskiert damit, dass die Menschen ihn als einen Revolutionär ansehen. Warum macht er das? Kant ist überzeugt, dass ein Mensch nur etwas riskiert entweder aus materiellen Interessen, also Interessen des Bourgeois, oder wenn er die Menschheit vertritt. Dieser Dualismus zwischen Interessen und Moralität ist damit ein für alle Mal zementiert: Ein Mensch, der Interessen vertritt, vertritt nicht die Würde. Alles was einen Preis hat, hat keine Würde, und die Würde definiert sich dadurch, dass sie nicht austauschbar ist. Die absolute Unaustauschbarkeit der Würde ist das, was sie mit Interessen unvereinbar macht. Die absolute Unaustauschbarkeit der revolutionären Denkungsart ist das, was sie vom Bourgeois-Interesse absetzt. Diese Unaustauschbarkeit hat immer zur Grundlage die direkte Beziehung zur Menschheit, zu dem, was man mit dem Begriff der Menschheit und dem Begriff von Emanzipation verbindet.

Der Begriff der Revolution und der Geschichte als einem geschichtslosen Prozess bezieht sich bei Kant auf eine Form von Affekten, die keine mehr sind. Wenn man so will, transponiert er alle realen materiellen Bewegungsmomente in eine allgemeine Innerlichkeit. Nicht nur die empirische Revolution wird zur Revolution der Denkungsart, sondern auch die Affekte werden zu allgemeinen Affekten.

Dies also und die Teilnehmung am Guten mit Affekt, der Enthusiasm, ob er zwar, weil aller Affekt als ein solcher Tadel verdient, nicht ganz zu billigen ist, gibt doch vermittelst dieser Geschichte zu der, für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann.26

 

Wir sehen auch hier eine Transposition von Empirischem – Gefühle, Affekte sind etwas Erfahrbares – in eine Dimension, die etwas Allgemeines ist. Kant versucht eigentlich immer, Geschichtliches und Materielles in Allgemeines zu transponieren. Das ergibt natürlich eine spezifische Widersprüchlichkeit: Wie er sich eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution vorstellt, imaginiert er Affekte ohne Gefühle. Was hier Affekt ist, ist das Allgemeinste von Gefühlen, ist eigentlich eine rein allgemeine Beziehung zum Idealischen, was immer das heißen mag, jedenfalls eine Beziehung, die frei ist von der Zufälligkeit der Gefühle, von Glück, Wohlwollen, Wohlstand und so weiter. Die Teilnahme am Guten, das enthusiastische Zuschauen bei der Revolution als dem Guten, ist eigentlich ohne Gefühle nicht zu denken, aber anderenfalls würde sich darin wieder etwas Zufälliges ausdrücken, etwas Empirisches, Vergängliches, Nicht-Allgemeines. Deshalb ist diese Transposition von etwas Empirischem in Affekte ein wichtiger Mechanismus, um die Revolution ins Subjekt zu transponieren. Kant führt das weiter aus:

Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden [die konterrevolutionären Heere, die Paris eingrenzten, konnten durch Geld und Belohnung und die Antreiberei von Offizieren nicht zur Seelengröße gespannt werden, Anm. Negt], den der bloße Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels [ein Analogon des Enthusiasm, Anm. d. Ver.] verschwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten, und sich als Beschützer desselben dachten; mit welcher Exaltation das äußere, zuschauende Publikum dann, ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung, sympathisierte.27

Hier argumentiert Kant wirklich filigran und in mehrfacher Hinsicht äußerst komplex. Immer wieder betont er, dass er in den eigentlich Mitwirkenden nicht das Subjekt erblickt. Allerdings lässt sich mit der Aktivität der Sympathisanten nicht erklären, warum sich die Revolution gegenüber den Konterrevolutionären halten konnte, was nur durch die Aktivität von Revolutionären selbst gelang, die doch dem alten Ehrbegriff nicht viel abgewinnen konnten. Kant erläutert: Was einst der kriegerische Adel mit seinem Ehrbegriff als einem Allgemeinen, Verpflichtenden versucht hat, habe hier die reine Form bewirkt, nämlich die reine Rechtsbehauptung, das Recht als ein Allgemeines, ein Recht der Menschheit und der Menschlichkeit. Die Rechtsbehauptung ist es, die den Enthusiasmus erzeugt.

Was aber bedeutet Rechtsbehauptung hier? Es bedeutet, dass sich die Menschen, unabhängig von allen partikularen Interessen, direkt auf das Allgemeine beziehen, auf das, was alle verbindet, was für alle verbindlich ist, was formal ist. Die Form macht gewissermaßen die Kraft aus: Bloße Rechtsbehauptung kann also einen Enthusiasmus bewirken, der – völlig unangesehen der eigenen Interessen – dem Volk bestimmt, sich selbst zu befreien.

Diese Revolution abzüglich der empirischen Revolution drückt sich noch in einem weiteren prekären Punkt bei Kant aus. Er spricht auf der einen Seite von Revolution, von der Revolution eines geistreichen Volkes, und an einer anderen Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« von einer revolutionären Denkungsart. Er gebraucht dabei den Begriff der Revolution sehr präzise für die Umstülpung der gesamten Verhältnisse, und gleichwohl sagt er, diese Revolution sei nichts weiter als die »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung«.

Diese Begebenheit ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. Erhard ausdrückt) der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, die zwar nur unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen wird – indem der Krieg von innen und außen alle bisher bestandene statutarische zerstört [statutarisch bedeutet das traditionelle Naturrecht, im Unterschied zum rationalen, modernen Naturrecht, Anm. Negt], die aber doch dahin führt, zu einer Verfassung hinzustreben, welche nicht kriegssüchtig sein kann, nämlich der republikanischen; die es entweder selbst der Staatsform nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart.28

Diese naturrechtliche Verfassung zeichnet sich gegenüber allen bisherigen dadurch aus, dass sie friedlich ist, ihrem Sinngehalt nach auf das Allgemeine verpflichtet, also nicht auf das Partikulare, antagonistisch Kämpfende. Diese per se friedliche Verfassung, wie Kant sie erstrebt, verbietet den Angriffskrieg. Ein wesentliches Element der Kantischen Sichtweise auf die Französische Revolution ist die Tatsache, dass sie Angriffskriege verbiete, diese jedenfalls nicht nötig habe, während für alle feudalen Systeme der Angriffskrieg ein wesentliches Merkmal oder jedenfalls nicht grundsätzlich abgeschafft sei. Darauf, dass in der republikanischen Verfassung der Angriffskrieg, wenn auch nicht empirisch, so doch grundsätzlich aufgrund allgemeiner Regeln abgeschafft ist, kommt es ihm an. Selbstverständlich gibt es Kriege, aber sie sollten nicht sein und sind unter republikanischer Verfassung nicht legitimierbar:

Nun behaupte ich dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen, unserer Tage die Erreichung dieses Zwecks und hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte [hier kommt wieder das ungeheure Pathos Kants zum Ausdruck, was die Französische Revolution betrifft, Anm. Negt] vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte.29

Ich möchte noch einmal die widersprüchlichen Gesichtspunkte kurz zusammenfassen, die sich in dieser Konzeption von Revolution ausdrücken. Kant ist aus systematischen Gründen nicht imstande, einen geschichtlichen Beweis aus der Erfahrung dafür zu gewinnen, dass das Menschengeschlecht im Fortschritt begriffen ist, denn alles empirische Wissen bedarf ja der Vernunftprinzipien und der allgemeinen Grundsätze des transzendentalen Verstandes, um Allgemeines werden zu können. Gleichwohl ist für Kant ein Abderitismus unmöglich, dieses Schwanken der moralischen Grundlage auf ein und derselben Ebene, wäre die moralische Grundlage dann doch eine rein anthropologische Angelegenheit, die sich dem Potenzial nach nicht verändert. Seine »Kritik der praktischen Vernunft« und die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« waren noch rein auf dieser Grundlage konstruiert, dass die moralische Anlage heute genauso wie vor tausend und zehntausend Jahren gleichgeblieben sei, dass sich gar keine Veränderung vollziehe. Diese Konstanz der moralischen Anlage kann Kant jedoch in einer Zeit, da Umbrüche größten Ausmaßes erfolgen, nicht mehr aufrechterhalten. Inzwischen beginnt eine Erosion des allgemeinen preußischen Landrechts, auch die neuen Rechtskodifikationen beginnen, erste Kritik an den Offenbarungsreligionen wird laut und so weiter. Es werden dogmatische Systeme gestürzt, und nicht nur das: Es werden ganze Staaten durch Revolutionsheere umgekrempelt, die auch nach außen dringen. In diesem Umwälzungsprozess muss Kant zwar die Vorstellung der Unveränderlichkeit aufgeben, allerdings ist er nur imstande, einen vermittelten Hinweis darauf zu geben, wenn man so will, theologisch zu deuten, was sich vollzieht. Es ist ein Fitzel empirischer Realität, ein Teilchen, ein Fanal, ein Hinweis, an dem er zeigen kann, dass doch etwas wie eine Besserung der Menschheit im Moralischen stattfindet. Aber es ist für ihn in dieser Periode nur möglich, das nachzuvollziehen, was sich auch geschichtlich ereignet hat. Die empirische Revolution, die in Frankreich ein wirkliches Ereignis war, wird in Deutschland zu einem virtuellen Ereignis, zu einem Bildungserlebnis. Was später Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« sagt, der Geist aus der Unruhe der französischen Gesellschaft gehe im Bereich der Bildung in die deutsche über,30 das ist bei Kant genau und viel widersprüchlicher ohne irgendwelche Vermittlungsebenen ausgedrückt.