Zen – Den Klang der Stille hören

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Der Vater will sich zur Ruhe setzen und der Sohn bittet ihn: Bevor du dich zur Ruhe setzt, lehre mich deine Kunst.“ Der Vater willigte ein und nahm ihn noch am selben Abend zu einem Einbruch mit. Kaum hatte er eine große Kleidertruhe geöffnet, forderte er seinen Sohn auf hineinzusteigen und die Gewänder an sich zu nehmen. Sobald der Junge drin war, verschloss der Vater die Truhe und begann so laut zu lärmen, dass das ganze Haus erwachte und machte sich leise aus dem Staub.

Offenbar war er ein echter Meister, kein gewöhnlicher Einbrecher.

Eingesperrt in der Truhe packte den Jungen der Zorn, und vor Schreck wusste er nicht aus noch ein…

Was Wunder – natürlich! Was für eine Lehre sollte das sein? Er hatte ihn in Lebensgefahr gebracht! Aber nur so kann man jemanden das Unbekannte lehren, nur so erschließt sich die rechte Gehirnhälfte. Die linke Gehirnhälfte kann man in Schulen belehren: dort kann man etwas lernen, diszipliniert werden, stufenweise aufsteigen. So werdet ihr nach und nach, Klasse auf Klasse, zu Meistern aller möglichen Künste und Wissenschaften. Aber für die rechte Gehirnhälfte gibt es keine Schulen – die ist intuitiv; die lernt nicht stufenweise, sondern plötzlich. Quasi wie ein Blitz in finsterer Nacht. Wenn’s passiert, dann passiert’s – wenn nicht, dann nicht. Da ist nichts zu machen. Du kannst dich nur einer Situation aussetzen, wo die Wahrscheinlichkeit dafür größer ist. Darum sage ich, dass der alte Mann offenbar ein echter Meister war.

Eingesperrt in der Truhe packte den Jungen der Zorn, und vor Schreck wusste er nicht aus noch ein…

Dies sind die drei Stadien, die eure Vernunft dann durchlaufen muss. In all meinen Meditionsformen widerfährt euch dasselbe. Eingesperrt in eine Truhe, deren Schlüssel weggeworfen wurde, werdet ihr zuerst wütend.

Viele Sannyasins kommen zu mir und sagen, wie wütend sie auf mich seien. Kann ich gut verstehen; das ist natürlich: Ich zwänge sie in Situationen, wo ihr alter Verstand aussetzt. Das ist der eigentliche Grund aller Wut. Sie fühlen sich einfach machtlos, ihr alter Verstand greift nicht mehr, sie stehen vor einem Rätsel: „Was ist nur los?!“ Und wenn ihr euch in einer Situation seht, wo euer Verstand nicht mehr funktioniert, richtet sich eure Wut auf mich; erst seid ihr wütend und dann erschreckt ihr. Dann versteht man die ganze Situation und dass einem alles Gelernte einfach nutzlos vorkommt – daher die Angst.

Nun gab es keine logische Möglichkeit, aus dieser Truhe herauszukommen: Sie war von außen abgeschlossen, der Vater hatte Lärm gemacht und das ganze Haus aufgeweckt, Leute liefen suchend herum und der Vater hatte das Weite gesucht. Wie soll es da einen logischen Weg geben, sich aus dieser Klemme zu befreien? Die Logik streikt einfach, der Verstand führt zu nichts. Was meint ihr wohl? Das Denken steht plötzlich still – und darauf hat der Vater es abgesehen, genau das ist der springende Punkt. Er will seinen Sohn in eine Situation bringen, wo der logische Verstand aussetzt – denn ein Einbrecher braucht keine Logik. Wenn er dem logischen Denken folgt, schnappt ihn früher oder später die Polizei, weil die genauso denken.

Im zweiten Weltkrieg war es auch so… Drei Jahre lang gewann Hitler ununterbrochen, und zwar nur, weil er unlogisch war. Alle anderen Länder, die ihn bekämpften, taten es logisch. Freilich, denn sie waren geübter in der Kriegsführung, eingeweiht in militärische Praktiken, in dieses und jenes, und sie hatten Experten, die versichern konnten: „Diesmal wird Hitler von dieser Seite aus angreifen.“ Und wäre Hitler bei Sinnen gewesen, hätte er genau das getan, weil die feindliche Abwehr dort ihren Schwachpunkt hatte. Natürlich muss man den Feind an seiner schwächsten Stelle angreifen, das ist logisch. Also erwarteten sie Hitler am schwächsten Punkt, zogen sie dort alle Kräfte zusammen … und was tat er? Er schlug irgendwo anders zu, unvorhersehbar. Nicht einmal auf seine eigenen Generäle wollte er hören. Er hatte einen Astrologen, der ihm riet, wo er angreifen solle. Nun, dergleichen hatte es noch nie gegeben: Kriege werden nicht von Astrologen geführt! Sobald Churchill Wind davon bekam, sobald seine Spione ihn wissen ließen, dass gegen diesen Mann nichts zu machen war, weil er absolut unlogisch war, dass alle Entscheidungen von einem törichten Astrologen nach den Sternen getroffen wurden, der keine Ahnung vom Krieg hatte, der nie an der Front gewesen war – was hatten denn die Sterne mit einem Krieg zu tun, der sich auf der Erde abspielte? Also berief Churchill sofort einen Astrologen des Königs und man richtete sich fortan nach dem königlichen Astrologen. Auf einmal passte alles zusammen, denn jetzt wahrsagten zwei Narren. Da wurde es einfacher.

Würde sich ein Einbrecher nach Aristoteles richten, würde man ihn früher oder später schnappen, da die Polizei sich nach derselben aristotelischen Logik richtet.

Erst vor ein paar Tagen hatte Vedanta die schöne Idee, sich mit dem Jeep des Ashrams davon zu machen. Natürlich musste man das der Polizei melden. Alle nahmen an, dass er in Richtung Chanda fahren würde, weil er immer davon geredet hatte, nach Chanda gehen zu wollen, um einen Ashram wiederzueröffnen, den es dort mal gegeben hatte – Kailash. Wäre er tatsächlich dort hingefahren, wäre ihm die Polizei kaum gefolgt, aber die Polizei dachte logisch und befand: „Wenn er ständig davon geredet hat, nach Chanda zu fahren, wird er jetzt nicht nach Chanda fahren, weil er befürchten müsste, auf der Straße dorthin abgefangen zu werden. Da fährt er nicht hin.“ Also kümmerten sie sich gar nicht um jene Strecke und schnappten Vedanta in Lonavla – er war nach Mumbai unterwegs. Die Polizei hatte sich das schon gedacht.

Wenn du dich an die Logik hältst, dann kriegt dich jeder zu fassen, der sich an dieselbe logische Methode hält. Ein Einbrecher muss unberechenbar sein, Logik ist ausgeschlossen. Er muss unlogisch sein, in einem Maße, dass er für niemanden vorhersagbar ist. Aber unlogisch kann nur der sein, dessen gesamte Energie durch die rechte Gehirnhälfte fließt.

Eingesperrt in der Truhe packte den Jungen der Zorn, und vor Schreck wusste er nicht aus noch ein, wie er entkommen könne…

„Wie?“ ist eine logische Frage, folglich erschrak er, denn es gab keinen Ausweg, das „wie“ griff einfach nicht. Da kam ihm blitzartig eine Idee. Nun, hier verlagert sich etwas: Nur in gefährlichen Lagen, wo die linke Gehirnhälfte aussetzt, kann sie zulassen, dass die rechte Hälfte ein Wörtchen mitredet, als letzter Strohhalm. Wenn sie selber nicht weiter weiß, wenn sie das Gefühl hat, in der Patsche zu sitzen, wenn sie sich geschlagen geben muss, dann sagt sie: „Warum nicht der unterdrückten, der eingesperrten Hirnhälfte eine Chance geben? Soll die auch ihre Chance kriegen. Wer weiß… schaden kann es jedenfalls nicht!“ Bis plötzlich …

Bis ihm blitzartig eine Eingebung kam: Er miaute wie eine Katze.

Nun, das ist nicht logisch. Zu miauen wie eine Katze ist einfach eine absurde Idee. Aber es funktionierte.

Man schickte eine Magd mit einer Kerze, um die Truhe zu untersuchen. Kaum wurde der Deckel gehoben, sprang der Bursche raus, blies die Kerze aus, schob die erstaunte Magd beiseite und suchte, von allen verfolgt, das Weite.

Am Straßenrand sah er einen Brunnen, warf einen dicken Stein rein und verschwand im Dunkeln. Seine Verfolger scharten sich um den Brunnen und reckten die Hälse, um den Einbrecher ertrinken zu sehen.

Auch dies hat nichts mit logischem Denken zu tun, denn das erfordert Zeit. Logik erfordert Zeit um fortzuschreiten, nachzudenken, zu argumentieren, ob so oder so, welche Alternative von vielen… und man hat tausendundeine Alternative. Wenn man sich in einer Lage befindet, wo es keine Zeit gibt zu denken – und wenn man verfolgt wird, wie kann man da denken? Denken taugt nur, wenn man in einem Sessel sitzt. Mit geschlossenen Augen kann man philosophieren und grübeln, danach suchen, was dafür oder dagegen spricht und alles abwägen, aber wenn die Leute hinter einem her sind und es ums Überleben geht, gibt es keine Zeit nachzudenken, lebt man im Augenblick, wird man einfach spontan.

Er beschloss nicht etwa, den Stein zu werfen, es passierte einfach. Es war keine Schlussfolgerung, er hat nicht erst groß drüber nachgedacht, sondern sah sich’s nur machen. Er warf einen Stein in den Brunnen und versteckte sich im Dunkeln. Die Verfolger blieben in dem Glauben stehen, der Einbrecher sei im Brunnen ertrunken.

Kaum zu Hause angelangt, beschimpfte er seinen Vater, doch als er ihm zu erzählen begann, wie er entkommen war, sagte der Vater nur: „Vergiss die Einzelheiten: Du bist wieder da – folglich hast du die Kunst erlernt.“

Wozu noch Einzelheiten erzählen? Sie taugen nichts. Was die Intuition betrifft, taugen Einzelheiten deshalb nichts, weil sich die Intuition nie wiederholt. Einzelheiten taugen erst etwas, wenn es um Logik geht. Daher gehen logische Leute immer bis in die winzigsten Einzelheiten, damit sie, falls sich dieselbe Situation wiederholt, alles unter Kontrolle haben und wissen, was zu tun ist. Aber im Leben eines Einbrechers wiederholt sich nie dieselbe Situation. Und auch im wirklichen Leben wiederholt sich nie dieselbe Situation. Wenn du alles im Voraus weißt, bist du so gut wie tot, gehst du auf nichts mehr ein. Im Leben muss man auf alles eingehen können, nicht reagieren: Da musst du aus dem Nichts heraus handeln, innerlich unvoreingenommen. Man muss unroutiniert handeln. Man muss aus dem Unbekannten heraus ins Unbekannte hinein handeln.

Und genau das pflegte Goso Hoyen zu sagen, wenn man ihn fragte, was es mit Zen auf sich habe. Dann erzählte er immer diese Geschichte. Zen ist haargenau wie ein Einbruch. Es ist eine Kunst, keine Wissenschaft; es ist weiblich, nicht männlich, nicht aggressiv, sondern empfänglich; es ist keine gut durchdachte Methode, sondern immer spontan. Es hat nicht mit Theorien, Hypothesen, Glaubenssätzen, heiligen Schriften zu tun – es hat nur mit Einem zu tun, und zwar Bewusstheit.

 

Was ist in jenem Moment geschehen, da der Junge in der Truhe saß? In solcher Gefahr darfst du nicht dösen. In solcher Gefahr bist du hellwach. Du musst es sein: Dein Leben steht auf dem Spiel, du musst total wach sein. Genauso hellwach sollte man jeden Augenblick sein. Und wenn du hellwach bist, kommt es zu dieser Verlagerung: aus der linken Gehirnhälfte wechselt die Energie in die rechte Gehirnhälfte. Wann immer du hellwach bist, wirst du intuitiv, hast du blitzartige Eingebungen – aus dem Unbekannten, aus heiterem Himmel. Du magst sie nicht beachten, aber dann lässt du dir viel entgehen. Tatsächlich stammen sämtliche wissenschaftlichen Entdeckungen aus der rechten Gehirnhälfte, nicht der linken.

Ihr kennt sicherlich Madame Curie – die einzige Frau, die je einen Nobelpreis bekommen hat… Seit drei Jahren hatte sie an einer bestimmten Mathematikaufgabe geknobelt, ohne sie lösen zu können. Sie hatte ihr Bestes gegeben, war das Problem von allen denkbaren Seiten angegangen, aber keinen Weg finden können. Eines Nachts wachte sie auf, ging zum Schreibtisch, schrieb die Antwort auf einen Zettel, ging zurück und schlief wieder ein.

Am nächsten Morgen fand sie die Antwort auf ihrem Schreibtisch liegen. Sie konnte es nicht fassen: Wer hatte das getan? Das konnte doch keiner! Der Diener? – von dem war das nicht zu erwarten, er hatte keine Ahnung von Mathematik. Sie erinnerte sich wohl, dass sie am Abend zuvor noch einmal eine Riesenanstrengung gemacht hatte… aber ohne Erfolg. Was war da passiert? Sie versuchte sich zu erinnern, denn es war ihre eigene Handschrift! Und dann dämmerte ihr dunkel, dass sie sich in der Nacht wie im Traum an den Tisch gesetzt und etwas geschrieben hatte. Woher war diese Antwort gekommen?

Jedenfalls nicht aus der linken Gehirnhälfte; die hatte sich drei Jahre lang damit abgequält. Und auf dem Blatt stand nur die Lösung, nicht der Rechenvorgang. Wäre es ihre linke Seite gewesen, wäre ein Vorgang erkennbar, da sie Schritt für Schritt arbeitet. Aber das hier sah ganz aus wie eine Eingebung, ähnlich wie sie dem Jungen in der Truhe widerfahren war. Die linke Hälfte hatte – müde, erschöpft, hilflos, wie sie war, die Hilfe der rechten Hälfte erbeten…

Ihr dürft, wenn ihr so in der Patsche sitzt und eure Logik versagt, nie verzweifeln, nie die Hoffnung aufgeben. Solche Augenblicke könnten sich als die größten Glücksfälle eures Lebens erweisen, denn in solchen Augenblicken gewährt die Linke der Rechten den Vortritt. Dann beschert euch die weibliche Seite, die empfängliche Seite, eine Idee. Falls man ihr folgt, werden viele Türen aufgehen. Aber möglicherweise verfehlt ihr es, könntet sagen: „Was für ein Quatsch!“ Dieser Junge hätte es verfehlen können, weil die Idee nicht sehr normal, ordentlich, logisch war. Wie eine Katze miauen?! Wozu? Er hätte es mit der Frage: „Warum?“ abtun können, und dann hätte er seine Chance verpasst. Aber das konnte er nicht fragen, da seine Lage so ausweglos war. Also dachte er sich: „Versuchen kann ich‘s. Kann ja nicht schaden.“ Er nutzte den Fingerzeig. Der Vater hatte Recht.

Er sagte: ‚Vergiss die Einzelheiten. Die sind nicht wichtig. Du bist wieder zu Hause; du hast die Kunst erlernt.‘

Die ganze Kunst besteht darin, von eurer femininen Gehirnhälfte herzukommen, da die feminine mit dem Ganzen verbunden ist und die maskuline nicht mit dem Ganzen verbunden ist. Die maskuline ist aggressiv, die maskuline sucht ständig Streit; die feminine gibt sich immerzu hin, in tiefem Vertrauen. Daher ist der weibliche Körper so schön, so rund. Dort waltet tiefes Vertrauen und Einklang mit der Natur. Eine Frau lebt in tiefer Hingabe; ein Mann liegt ständig im Kampf – wütend unternimmt er alles Mögliche, um etwas zu beweisen, um irgendwo hinzugelangen. Eine Frau ist zufrieden – sie braucht nirgendwo hinzugelangen. Fragt Frauen, ob sie gern zum Mond fliegen würden: Sie werden einfach nur staunen. „Wozu? Was soll das bringen? Wozu die Mühe? Zuhause ist es doch wunderschön!“ Die Frau ist nicht daran interessiert, was in Vietnam los ist oder in Korea oder in Israel. Sie ist höchstens daran interessiert, was in der Nachbarschaft los ist, höchstens daran interessiert, wer sich in wen verliebt hat, wer mit wem durchgebrannt ist – an Klatsch, nicht an Politik. Ihr liegt das Unmittelbare, das Hier-Jetzt näher. Das verleiht ihr ihre Harmonie, ihre Anmut. Der Mann muss immerzu etwas beweisen, und wer etwas beweisen will, der muss natürlich kämpfen und rivalisieren und anhäufen.

Eine Frau versuchte einmal die Aufmerksamkeit von Dr. Johnson auf sich zu ziehen, er aber schien sie kaum zu bemerken. „Wissen Sie, Doktor,“ sagte sie neckisch, „ich glaube fast, Ihnen ist männliche Gesellschaft lieber als weibliche.“

„Madam,“ erwiderte Johnson, „ich liebe die Gesellschaft der Damen außerordentlich. Ich mag ihre Schönheit, ihre Zartheit, ich mag ihre Lebhaftigkeit – und ich mag ihr Schweigen.“

Der Mann hat die Frau gezwungen zu schweigen, nicht nur äußerlich, auch innerlich – er hat der weiblichen Seite den Mund verboten. Beobachtet euch nur mal innerlich. Wenn die weibliche Seite etwas sagt, müsst ihr euch sofort auf sie stürzen und sagen: „Logisch? Absurd!“

Es kommen Leute zu mir und sagen: „Unser Herz möchte Sannyasin werden, aber der Kopf sagt Nein“ – Dr. Johnson, der die Frau zum Schweigen bringen will!

Das Herz ist weiblich. Euch entgeht vieles im Leben, weil der Kopf ständig weiterredet; er macht das Herz mundtot. Und der einzige Vorteil, den der Kopf hat, ist der, dass er artikulierter, listiger, gefährlicher, gewaltsamer ist. Aufgrund seiner Gewalt konnte er in euch die Führung an sich reißen. Und so konnte aus der inneren Führerschaft des Mannes auch seine äußere Führerschaft werden. Der Mann hat die Frau seit jeher auch in der Außenwelt beherrscht – über die Anmut herrscht die Gewalt.

Einmal wurde ich in eine Schule eingeladen. Die Schulkinder machten einen Umzug, der nach Körpergröße aufgestellt war, vorn die Kleinen, hinten die Größten. Aber das Muster wurde, wie ich feststellte, gleich am Anfang der Prozession durchbrochen, von einem hochgeschossenen Jungen, der einen Kopf größer war als die anderen um ihn herum.

„Warum ist er vorne?“, fragte ich ein Mädchen, „ist das der Schulsprecher, der Kapitän der Fußballer oder so etwas?“

„Nein,“ antwortete sie, „der ist ein Drängler.“

Männer müssen immerzu drängeln, Probleme machen. Störenfriede werden zu Anführern. In den Schulen ernennen alle klugen Lehrer die größten Störenfriede zu Klassen- und Schulsprechern – die Störenfriede, die Missetäter. Sobald sie einen mächtigen Posten haben, unterstützen sie den Lehrer mit ihrer gesamten Störenergie: Dann sorgen ausgerechnet die Störenfriede für Ordnung!

Beobachtet nur mal die Politiker auf der Welt: Wenn die eine Partei an der Macht ist, stiftet die Gegenpartei Unruhe im Lande. Das sind die Gesetzesbrecher, die Revolutionäre. Und die Partei an der Macht sorgt für Disziplin. Sobald sie die Macht verlieren, sind sie die Unruhestifter. Und sobald die Opposition regiert, werden sie zu den Hütern der Disziplin. Sie alle sind Störenfriede. Der männliche Verstand ist ein Unruhestifter, also muss er überrumpeln, dominieren. Aber im Grunde verfehlt ihr das Leben, auch wenn ihr Macht gewinnt – und untendrunter geht die weibliche Mentalität weiter. Und nur wenn ihr euch von der weiblichen Mentalität tragen lasst und euch ihr hingebt, nur wenn aus Widerstand und Kampf Hingabe wird, werdet ihr erkennen, was wahres Leben und Lebensfeier heißt.

Ich habe folgende Anekdote gehört:

Ein amerikanischer Wissenschaftler besuchte Niels Bohr, den großen Physik-Nobelpreisträger, an seinem Arbeitsplatz in Kopenhagen. Erstaunt sah er, dass über seinem Schreibtisch ein Hufeisen hing – die Öffnung nach oben, so wie es sich gehört, damit es das Glück einfängt statt es auszuschütten.

Nervös lachend bemerkte der Amerikaner: „Erzählen Sie mir nicht, Professor Bohr, dass Sie glauben, das Hufeisen werde Ihnen Glück bringen?! Sie, als nüchterner Wissenschaftler.“

Bohr schmunzelte: „Natürlich glaub ich nicht an so etwas, guter Freund. Doch hab ich mir sagen lassen, dass einem ein Hufeisen Glück bringt, egal ob man daran glaubt oder nicht.“

Schaut ein wenig tiefer, und gleich unter eurer Logik werdet ihr frische Quellen von Intuition, frische Quellen von Vertrauen sprudeln sehen. Yoga ist ein Weg, seine Vernunft zu gebrauchen, um zur Wahrheit zu gelangen – natürlich eine sehr beschwerliche Reise, und die längste obendrein. Folgt man Patanjali, dem Begründer von Yoga, dann versucht man etwas, das auch ohne alles Tun geschehen kann; man setzt all seine Kräfte für etwas ein, was jetzt sofort ganz mühelos geschehen kann. Du versuchst, sich an deinen eigenen Schnürsenkeln hochzuziehen – sich selbst hochzuziehen. Zen ist der Weg der spontanen, mühelosen Mühe, der Weg der Intuition.

Ikkyu, ein Zen-Meister und großer Dichter, hat gesagt: „Ich kann Wolken aus tausend Meilen Entfernung sehen und den uralten Klang der Stille in den Föhren vernehmen.“

Um nichts anderes geht es im Zen. Mit dem logischen Denken könnt ihr keine tausend Meilen entfernte Wolken sehen. Das logische Denken ist wie eine verschmutzte Brille, viel zu verstaubt von Ideen, Theorien, Glaubensinhalten. Doch könnt ihr Wolken aus tausend Meilen Entfernung durch die klare Brille der Intuition erkennen – mit keinem Gedanken, nur mit reiner Bewusstheit. Der Spiegel ist blank und die Klarsicht unübertroffen. Mit dem gewöhnlichen logischen Denken könnt ihr die uralte Musik der Stille nicht vernehmen. Wie solltest du sie hören können? Musik, kaum verklungen, ist auf ewig verklungen. Aber lasst euch gesagt sein: Ikkyu hat Recht. Ihr könnt die uralte Musik vernehmen – ich habe sie gehört – aber dazu muss erst eine Verlagerung, eine komplette Verschiebung, eine Veränderung der Gestalt stattfinden. Dann könnt ihr Buddha wieder predigen sehen und Buddha wieder sprechen hören – dann könnt auch ihr den Klang der Stille vernehmen; denn dieser Klang ist ewig, er geht niemals verloren. Ihr habt nur die Fähigkeit verloren, ihn zu hören. Dieser Klang ist ewig. Sobald ihr euer Gehör wiedererlangt habt, ist der Klang plötzlich wieder da. Er ist immer schon dagewesen, nur ihr wart nicht da. Seid hier und jetzt, und dann seht auch ihr Wolken in tausend Meilen Entfernung, hört auch ihr den Klang der Stille in den Föhren.

Geht mehr und mehr zur rechten Gehirnhälfte über. Werdet immer weiblicher, immer liebevoller, hingebungsvoller, vertrauensvoller – kommt dem Ganzen immer näher. Wollt keine Insel sein, werdet Teil des Festlandes.

Genug für heute.