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Das Bildnis des Dorian Gray

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„Basil, mein lieber Junge, tränkt seine Werke mit allem, was an ihm entzückend ist. Die Folge ist, daß ihm fürs Leben nichts übrigbleibt als seine Vorurteile, seine Grundsätze und sein gesunder Menschenverstand. Alle Künstler, die ich kennengelernt habe, und die persönlich von Anziehungskraft sind, waren schlechte Künstler. Gute Künstler leben nur in ihren Schöpfungen und sind daher im Leben vollständig uninteressant. Ein großer Dichter, ein wirklich großer Dichter ist das unpoetischste Geschöpf von der Welt. Aber untergeordnete Dichter bezaubern immer. Je schlechter ihre Reime sind, desto malerischer ist ihr Aussehen. Die bloße Tatsache, eine Sammlung mittelmäßiger Sonette veröffentlicht zu haben, macht solchen Menschen einfach unwiderstehlich. Er lebt die Poesie, die er nicht schreiben kann. Die anderen schreiben die Poesie, die sie nicht zu leben wagen.“

„Ich möchte wissen, ob das wirklich so ist, Harry“, sagte Dorian Gray, der inzwischen aus einem großen goldgefaßten Flakon auf dem Tische etwas Parfüm auf sein Taschentuch gegossen hatte. „Es wird wohl sein, wenn du es sagst. Jetzt aber muß ich fort. Imogen wartet auf mich. Vergiß nicht, morgen! Adieu!“

Als er das Zimmer verlassen hatte, schloß Lord Henry die schweren Lider und begann nachzudenken. Gewiß hatten ihn wenige Menschen bisher so interessiert wie Dorian Gray, und doch verursachte ihm die wahnsinnige Leidenschaft des Jünglings für eine andere Person nicht im entferntesten Ärger oder Eifersucht. Es freute ihn. Dorian wurde dadurch nur noch interessanter. Die Methoden der Naturwissenschaft hatten ihn immer entzückt, aber der gewöhnliche Gegenstand dieser Wissenschaft war ihm kleinlich und belanglos erschienen, und so hatte er begonnen, sich selbst zu vivisezieren und hatte damit geendet, andere zu vivisezieren. Das Menschenleben – das schien ihm der einzige einer Untersuchung werte Gegenstand. Verglichen damit war alles andere ohne jegliche Bedeutung. Freilich, wenn man das Leben in dem seltsamen Schmelztiegel des Schmerzes und der Lust beobachtete, konnte man keine Glasmaske über dem Gesicht tragen, konnte auch nicht die Schwefeldämpfe abhalten, die einem das Gehirn verwirrten und die Phantasie mit monströsen Ausgeburten und mißratenen Träumen umwirbelten. Es gab so feine Gifte, daß man an ihnen erkrankt sein mußte, um ihre Eigenheiten zu kennen. Es gab so seltsame Krankheiten, daß man sie durchgemacht haben mußte, um ihre Art zu begreifen. Und doch, welchen Lohn empfing man dafür! Wie wunderbar wandelt sich einem dann die ganze Welt! Die merkwürdig strenge Logik der Leidenschaft und das buntgefärbte Trieb- und Gefühlsleben des Geistes anzumerken – zu beobachten, wo sich die beiden Linien schneiden und wo sie auseinandergehen, in welchem Punkte sie in Eintracht leben und in welchem sie sich wieder bekriegen – das ist ein Genuß! Was liegt an dem Preise dafür! Man kann nie einen zu hohen Preis für ein Sinnenerlebnis geben.

Er war sich bewußt – und dieser Gedanke brachte einen freudigen Glanz in seine achatbraunen Augen – daß sich durch gewisse Worte, die er gesprochen hatte, musikalische Worte in melodischem Tonfall, Dorian Grays Seele diesem weißen Mädchen zugewendet und sich in Verehrung vor ihr gebeugt hatte. In hohem Maße war der Jüngling sein Geschöpf. Er hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Das war schon was. Die gewöhnlichen Menschen warten, bis ihnen das Leben seine Geheimnisse aufschließt, aber den wenigen Auserwählten werden die Mysterien des Daseins enthüllt, bevor der Schleier weggezogen wird. Manchmal ist das die Wirkung der Kunst, besonders der Dichtung, die ja unmittelbar die Leidenschaften und den Intellekt behandelt. Ab und zu nimmt aber eine komplizierte Persönlichkeit diesen Platz ein und übt das Amt der Kunst aus, ist eigentlich auf ihre Weise ein richtiges Kunstwerk, denn das Leben schafft ebenso seine vollendeten Meisterwerke wie die Poesie oder die Bildhauerkunst oder die Malerei.

Ja, dieser Jüngling war vor der Zeit reich. Er erntete, während er noch lenzte. Der Puls und die Leidenschaft der Jugend wohnten in ihm, und er begann, seiner bewußt zu werden. Es war entzückend, ihn zu beobachten. Mit seinem schönen Angesicht und seiner schönen Seele war er ein Stück Leben zum Anstaunen. Es lag nichts daran, wie das alles endete, oder enden sollte. Er glich einer der graziösen Gestalten auf einem Gobelin oder in einem Schauspiel, deren Freuden von den unseren weit entfernt zu sein scheinen, aber deren Schmerzen unseren Schönheitssinn erregen und deren Wunden wie rote Rosen sind.

Seele und Leib, Leib und Seele – wie geheimnisvoll das alles ist! Animalisches ist in der Seele, und der Leib hat seine Augenblicke geistiger Veredlung. Die Sinne können sich läutern, und der Intellekt kann sich vergröbern. Wer kann sagen, wo die fleischlichen Triebe endigen und die seelischen beginnen? Wie flach sind die willkürlichen Erklärungen der handwerksmäßigen Psychologen! Und doch, wie schwierig ist die Entscheidung zwischen den Lehren der einzelnen Schulen. Ist die Seele ein Schatten, der im Hause der Sünde wohnt? Oder ist der Körper wirklich in der Seele eingeschlossen, wie es sich Giordano Bruno dachte? Die Trennung von Geist und Stoff ist ein Geheimnis, und die Vereinigung von Geist und Stoff ist abermals ein Geheimnis.

Er dachte darüber nach, ob wir je die Psychologie zu einer so exakten Wissenschaft machen können, daß uns auch das kleinste Triebrädchen des Lebens offenbar würde. Wie die Dinge heute liegen, begreifen wir uns selbst nie und die anderen nur selten. Die Erfahrung hat keinerlei ethische Bedeutung. Sie ist nur das Firmenschild, das die Menschen ihren Irrtümern anhängen. Die Moralisten haben sie meist als eine Art Warnung betrachtet, haben für sie eine gewisse ethische Wirksamkeit in der Bildung der Charaktere beansprucht, haben sie als Mittel gepriesen, das uns darüber aufklärt, was wir tun und lassen sollen. Aber in der Erfahrung liegt keine bewegende Kraft. Sie ist ebensowenig eine tätige Ursache wie das Gewissen. Alles, was sie in Wirklichkeit lehrt, ist, daß unsere Zukunft ebenso sein wird wie unsere Vergangenheit, und daß wir die Sünde, die wir dereinst mit Abscheu und Widerwillen begangen haben, immer und immer wieder und dann mit Genuß wiederholen werden.

Er war sich darüber klar, daß die Versuchsmethode die einzige sei, durch die man zu irgendeiner wissenschaftlichen Erklärung der Leidenschaften kommen könne; und sicher war ihm Dorian Gray ein bequemes Objekt und schien reiche und wertvolle Erfolge zu versprechen. Seine jähe sturmartige Liebe zu Sibyl Vane war eine psychologische Tatsache von großem Interesse. Kein Zweifel, daß die Neugier dabei stark im Spiele war, Neugier und Lust an neuen Erlebnissen; doch es war keine einfache, sondern eher eine recht komplizierte Leidenschaft. Was von dem rein sinnlichen Triebe des Knabenalters in ihr war, das hatte die Mitarbeit der Phantasie umgebildet, in irgendwas verwandelt, das dem Jüngling selbst ganz fern von allem Sinnlichen schien und gerade deshalb um so gefährlicher war. Alle Leidenschaften, über deren Ursprung wir uns selbst täuschen, üben die stärkste Herrschaft auf uns aus. Unsere schwächsten Triebkräfte sind die, über deren Natur wir klar sehen. Es kommt oft vor, daß wir im Denken mit uns selbst Experimente anstellen und glauben, sie mit anderen zu versuchen.

Während Lord Henry noch dasaß und über diese Dinge nachgrübelte, wurde an die Tür geklopft; ein Diener trat ein und erinnerte ihn, daß es Zeit sei, sich für das Abendessen umzukleiden. Er erhob sich und blickte auf die Straße hinab. Der Sonnenuntergang hatte die oberen Fenster der gegenüberliegenden Häuser in ein feuerrotes Gold getaucht. Die Scheiben glühten wie erhitzte Metallplatten. Der Himmel drüber glich einer verwelkten Rose. Es erinnerte ihn an das junge, flammenlodernde Leben seines Freundes, und er fragte sich, wie das alles enden würde.

Als er dann gegen halb ein Uhr nachts nach Hause kam, fand er im Vorflur auf dem Tische ein Telegramm liegen. Er öffnete es und sah, daß es von Dorian Gray war. Es teilte ihm mit, daß er sich mit Sibyl Vane verlobt habe.

Fünftes Kapitel

„Mutter, Mutter, ich bin so glücklich!“ flüsterte das Mädchen und barg ihr Gesicht im Schoße der verblühten, müde aussehenden Frau, die mit dem Rücken gegen das grell eindringende Licht in dem einzigen Armstuhl saß, den ihr armseliges Wohnzimmer enthielt. „Ich bin so glücklich!“ wiederholte sie, „und du wirst auch glücklich sein.“

Frau Vane zuckte zusammen und legte ihre dünnen, wismutweißen Hände auf den Kopf ihrer Tochter. „Glücklich!“ echote sie, „ich bin nur glücklich, Sibyl, wenn ich dich spielen sehe. Du darfst an nichts anderes denken als an deine Rollen. Herr Isaacs ist sehr gut gegen uns gewesen, und wir sind ihm Geld schuldig.“

Das Mädchen sah auf und ließ die Lippen hängen. „Geld, Mutter?“ rief sie, „was liegt an Geld? Liebe ist mehr als Geld!“

„Herr Isaacs hat uns tausend Mark Vorschuß gegeben, damit wir unsere Schulden zahlen und für James eine anständige Ausrüstung anschaffen können. Das darfst du nicht vergessen, Sibyl. Tausend Mark sind ein sehr großer Betrag. Herr Isaacs benahm sich sehr anständig.“

„Er ist kein Gentleman, Mutter, und ich hasse die Art, wie er mit mir spricht“, sagte das Mädchen, stand auf und trat ans Fenster.

„Ich wüßte nicht, wie wir ohne ihn vorwärts kämen“, entgegnete die alte Frau weinerlich.

Sibyl Vane warf den Kopf in den Nacken und lachte: „Wir brauchen ihn nicht mehr, Mutter, der Prinz Märchenschön bestimmt von jetzt ab über unser Leben.“ Dann schwieg sie. Eine Blutwelle schoß in ihre Wangen und tauchte sie in ein dunkles Rot. Der rasche Atem öffnete ihre blühenden Lippen. Sie zitterten. Ein Südwind heißer Leidenschaft durchbrauste sie und bewegte die glatten Falten ihrer Gewandung. „Ich liebe ihn“, sagte sie mit einfachem Ausdruck.

„Närrisches Kind! närrisches Kind!“ waren die papageienhaften Worte, die ihr als Antwort entgegenflogen. Dabei machte die beschwörende Bewegung ihrer gekrümmten, mit unechten Ringen gezierten Finger diesen Ausruf noch komischer.

 

Das Mädchen lachte wieder. In ihrer Stimme lag etwas wie der Jubel eines Vogels im Käfig. Ihre Augen fingen die Lachmelodie auf und wiederholten sie in ihrem Glanze: dann schlossen sie sich einen Augenblick, als wollten sie ihr Geheimnis verbergen. Als sie sich wieder öffneten, war der Schimmer eines Traumes über sie dahingegangen.

Aus dem abgenutzten Stuhl sprach die Weisheit zu ihr mit dünnen Lippen, mahnte zur Besinnung und gab Ratschläge aus dem Buch der Feigheit, dem sein Autor irrtümlich den Titel „Gesunder Menschenverstand“ beigelegt hat. Sie hörte nicht hin. Im Kerker ihrer Leidenschaft fühlte sie sich frei. Ihr Prinz, der Prinz Märchenschön, war bei ihr. Sie hatte das Gedächtnis beschworen, ihn herbeizuschaffen. Sie hatte ihre Seele auf die Suche nach ihm geschickt, und die hatte ihn wieder hergebracht. Sein Kuß brannte wieder auf ihrem Munde. Ihre Lider brannten wieder von seinem Atem.

Dann zog die Weisheit andere Register auf und sprach von Erkundigen und Nachforschen. Es mochte ja sein, daß dieser junge Mann reich sei. Wenn dem so wäre, dann müßte man ans Heiraten denken. Um die Ohrmuschel des Mädchens plätscherten die Wellen weltlicher Schlauheit. Die Pfeile der Weltklugheit schwirrten an ihr vorüber. Sie sah, wie sich die dünnen Lippen bewegten, und lächelte.

Plötzlich fühlte sie das Bedürfnis, zu sprechen. Die wortüberfüllte Schweigsamkeit verwirrte sie. „Mutter, Mutter,“ rief sie, „warum liebt er mich so innig? Ich weiß, warum ich ihn liebe. Ich liebe ihn, weil er so ist, wie die Liebe selbst sein muß. Aber was findet er an mir? Ich bin seiner nicht wert. Und doch – ich weiß nicht, warum – ich fühle mich wohl tief unter ihm, aber ich fühle mich nicht gering. Stolz bin ich, schrecklich stolz. Mutter, hast du meinen Vater so geliebt, wie ich den Prinzen Märchenschön liebe?“

Die alte Frau wurde bleich unter dem dicken Puder, womit ihre Wangen beklebt waren, und ihre verwelkten Lippen zitterten in krampfigem Schmerz. Sibyl stürzte zu ihr hin, schlang ihr ihre Arme um den Hals und küßte sie. „Verzeih mir, Mutter! Ich weiß, es schmerzt dich, an unseren Vater zu denken. Aber es schmerzt dich nur, weil du ihn so lieb gehabt hast. Sieh nicht so traurig drein. Heute bin ich so glücklich, wie du es warst vor zwanzig Jahren. Ach, könnte ich für immer so glücklich sein!“

„Mein Kind, du bist viel zu jung, um an eine Liebschaft zu denken. Zudem, was weißt du von diesem jungen Mann? Du weißt nicht mal seinen Namen. Die ganze Sache ist höchst unpassend, und wahrhaftig, gerade jetzt, wo sich James nach Australien rüstet, und ich an so viele Dinge zu denken habe, da muß ich sagen, du hättest mehr Überlegung zeigen sollen. Immerhin, wie ich schon sagte, wenn er reich ist…“

„Ach Mutter, Mutter, laß mich glücklich sein!“

Frau Vane blickte sie an und schloß sie plötzlich mit einer der unwahren theatralischen Gesten in die Arme, wie sie den Schauspielern oft zur zweiten Natur werden. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein junger Bursche mit struppigem, braunem Haar kam in die Stube. Er war von untersetzter Gestalt, und seine Hände und Füße waren groß und bewegten sich etwas ungelenk. Er war nicht so gut erzogen wie seine Schwester. Man hätte kaum die nahe Verwandtschaft erraten können, die zwischen beiden bestand. Frau Vane richtete ihre Augen auf ihn, und ihr Lächeln verstärkte sich. In ihrem Geiste ließ sie ihren Sohn die Rolle des Publikums spielen. Sie war überzeugt, daß das Tableau interessant war.

„Du könntest dir wohl ein paar Küsse für mich aufheben, Sibyl“, sagte der Bursche mit gutmütigem Knurren.

„Ach, Jim, du machst dir doch gar nichts aus Küssen!“ rief sie. „Du bist ein greulicher alter Bär!“ Und sie hüpfte durchs Zimmer zu ihm hin und umhalste ihn.

James Vane sah seiner Schwester zärtlich in das Gesicht. „Ich möchte mit dir spazieren gehen, Sibyl. Ich glaube kaum, daß ich dies schreckliche London jemals wiedersehe. Ich mache mir auch wirklich nicht im geringsten was draus.“

„Mein Sohn, rede doch nicht so schreckliche Dinge“, grollte Frau Vane, während sie seufzend ein flitteriges Theaterkostüm zur Hand nahm und es auszubessern begann. Sie fühlte eine kleine Enttäuschung, daß er sich der Gruppe nicht angeschlossen hatte. Es hätte die malerische Wirkung der Szene so hübsch erhöht.

„Warum nicht, Mutter? Ich meine es im Ernst.“

„Du kränkst mich, mein Sohn. Ich hoffe, daß du von Australien als ein gemachter Mann zurückkehrst. Ich vermute, es gibt in den Kolonien sozusagen keine Gesellschaft, wenigstens nichts, was ich Gesellschaft nenne; wenn du also dein Glück gemacht hast, mußt du zurückkommen und dich zur Geltung bringen in London.“

„Gesellschaft“, brummelte der junge Mann. „Will davon nichts wissen. Möchte nur soviel Geld verdienen, um dich und Sibyl vom Theater wegzukriegen. Ich hasse es.“

„O Jim,“ sagte Sibyl lachend, „wie unfreundlich von dir! Aber, willst du wirklich mit mir spazieren gehen? Das ist nett! Ich fürchtete schon, du wolltest dich bei deinen Freunden verabschieden, bei Tom Hardy, der dir diese gräßliche Pfeife geschenkt hat, oder bei Nell Langton, der dich auslacht, weil du sie rauchst. Es ist sehr hübsch von dir, daß du mir deinen letzten Nachmittag schenkst. Wohin werden wir gehen? Komm, wir wollen in den Park.“

„Dazu bin ich zu schäbig angezogen“, antwortete er mit gerunzelter Stirn. „Nur Elegants gehen in den Park.“

„Unsinn, Jim“, flüsterte sie, und streichelte seinen Ärmel.

Er zauderte einen Augenblick. „Schön denn,“ sagte er schließlich, „mach' aber nicht zu lang mit dem Anziehen.“

Sie tanzte zur Tür hinaus. Man konnte sie singen hören, während sie die Treppe hinauflief. Ihre kleinen Füße trippelten oben.

Er ging zwei oder dreimal durch die Stube, dann wandte er sich zu der schweigsamen Gestalt im Lehnstuhl.

„Mutter, sind meine Sachen gepackt?“ fragte er.

„Alles fertig, James“, antwortete sie, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen. Seit einigen Monaten war es ihr unbehaglich, wenn sie mit ihrem rauhen, finsteren Sohn allein war. Ihre oberflächliche Natur mit ihrem unterdrückten Geheimnis wurde beunruhigt, wenn sich ihre Augen trafen. Sie fragte sich, ob er einen Verdacht habe. Sein Schweigen, da er sonst keine Bemerkungen machte, wurde ihr unerträglich. Sie fing also zu jammern an. Frauen verteidigen sich, indem sie angreifen, gerade, wie sie dadurch angreifen, daß sie unvermutet die Waffen strecken. „Ich hoffe, James, dein Seefahrerleben wird dich befriedigen. Du darfst nie vergessen, daß es deine eigene Wahl war. Du hättest in das Bureau eines Anwalts treten können. Anwälte sind eine sehr geachtete Menschenklasse und werden auf dem Lande oft in den besten Familien eingeladen.“

„Ich hasse Bureaus und ich hasse Schreiber“, erwiderte er. „Aber du hast ganz recht, mein Leben habe ich mir selbst gewählt. Alles, was ich sage, ist: Wache über Sibyl! Laß ihr kein Unglück zustoßen. Mutter, du mußt über sie wachen!“

„James, du hast eine merkwürdige Art, zu sprechen. Natürlich wache ich über sie.“

„Ich höre, ein Herr kommt jeden Abend ins Theater und geht hinter die Kulissen und spricht mit ihr. Ist das wahr? Wie verhält sich's damit?“

„James, du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Wir in unserem Beruf sind gewöhnt, eine Menge wohltuender Aufmerksamkeiten zu empfangen. Ich selbst habe zu meiner Zeit viel Blumen bekommen. Damals verstand man noch etwas vom Spielen. Was Sibyl betrifft, so weiß ich im Augenblick nicht, ob ihre Neigung ernst ist oder nicht. Aber darüber besteht kein Zweifel, daß der fragliche junge Mann ein vollendeter Kavalier ist. Er ist immer ausgesucht höflich zu mir. Auch sieht er aus, als ob er reich wäre, und die Buketts, die er schickt, sind ganz allerliebst.“

„Aber du weißt nicht mal seinen Namen“, warf der junge Mann barsch ein.

„Nein“, antwortete die Mutter mit gelassener Miene. „Er hat uns seinen wirklichen Namen noch nicht verraten. Ich finde das sehr romantisch von ihm. Wahrscheinlich ist er ein Herr von Adel.“

James Vane biß sich auf die Lippen. „Wache über Sibyl!“ schrie er. „Wache über sie!“

„Mein Sohn, du verletzt mich ungemein. Sibyl steht unablässig unter meiner besonderen Obhut. Natürlich, falls dieser Herr vermögend ist, sehe ich den Grund nicht ein, um einer Verbindung mit ihm auszuweichen. Ich bin fest davon überzeugt, er gehört zur Aristokratie. Er sieht ganz so aus, muß ich sagen. Es wird eine brillante Partie für Sibyl werden. Sie würden ein entzückendes Paar abgeben. Seine Schönheit ist wirklich ganz bedeutend; sie fällt jedem auf.“

Der junge Mann brummte etwas in sich hinein und trommelte mit seinen dicken Fingern gegen die Fensterscheibe. Er hatte sich gerade umgewandt, um etwas zu sagen, als die Tür aufging und Sibyl hereinflitzte.

„Was macht ihr beide denn für ernste Gesichter!“ rief sie aus. „Was gibt's denn?“

„Nichts“, antwortete er. „Man muß auch mal ernst sein. Adieu, Mutter; ich will um fünf essen. Alles ist gepackt bis auf die Hemden; du brauchst dich also um nichts mehr zu kümmern.“

„Adieu, mein Sohn“, antwortete sie mit einer Verbeugung gemachter hoheitsvoller Würde.

Sie war äußerst gekränkt durch den Ton, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte, und in seinem Blick lag etwas, das ihr Angst eingeflößt hatte.

„Gib mir einen Kuß, Mutter“, sagte das Mädchen. Ihre blütengleichen Lippen berührten die welken Wangen und wärmten ihre Frostigkeit.

„Mein Kind! Mein Kind!“ rief Frau Vane und schaute zur Decke auf, als suchte sie in ihrer Einbildung eine Galerie.

„Komm, Sibyl“, sagte ihr Bruder ungeduldig. Er konnte die Attitüden seiner Mutter nicht ausstehen.

Sie traten hinaus in den flimmernden, windbewegten Sonnenschein und schlenderten die trostlose Euston Road hinab. Die Vorübergehenden blickten verwundert auf den unfreundlichen, schwerfälligen jungen Menschen in den groben schlechtsitzenden Kleidern, den ein so liebliches, fein aussehendes Mädchen begleitete. Er glich einem Gärtnerburschen, der eine Rose trägt.

Jim runzelte von Zeit zu Zeit die Stirn, wenn er den forschenden Blick eines Fremden bemerkte. Er hatte jene Abneigung gegen das Angestarrtwerden, die Menschen von Geist erst spät im Leben bekommen und die den Herdenmenschen nie verläßt. Sibyl dagegen wußte nichts von der Wirkung, die sie ausübte. Ihre Liebe zitterte auf ihren lächelnden Lippen. Sie dachte an ihren Märchenprinzen, und damit sie um so besser an ihn denken könnte, sprach sie nicht von ihm, sondern plauderte nur von dem Schiff, mit dem Jim abfahren sollte, von dem Gold, das er sicher finden würde, von der wunderhübschen Millionenerbin, deren Leben er verruchten rotblusigen Buschräubern entreißen sollte. Denn er würde nicht Matrose bleiben oder Verfrachter oder was er jetzt fürs erste werden sollte. O nein! Solch Matrosendasein war schrecklich. Er solle nur daran denken, in ein schreckliches Schiff hineingepfercht zu sein, wenn die brüllenden, katzenbuckelnden Wellen immer eindringen wollen und ein schwarzer Wind die Masten umblase und die Segel in lange, klatschnasse Streifen zerreiße. Er sollte in Melbourne das Schiff verlassen, dem Kapitän höflich Lebewohl sagen und sich sofort in die Goldfelder begeben. Bevor noch eine Woche um sei, werde er auf einen großen Klumpen puren Goldes stoßen, auf den größten, der je gefunden worden sei, und werde ihn zur Küste schaffen in einem großen Wagen, den sechs berittene Polizisten bewachen sollten. Die Buschklepper überfielen sie dreimal, würden aber nach einem ungeheuren Gemetzel zurückgeschlagen werden. Oder nein! Er sollte überhaupt nicht in die Goldfelder wandern. Das sind schreckliche Örter, wo sich die Leute betrinken und einander in Kneipen totschössen und eine schreckliche Sprache führten. Er sollte ein friedsamer Viehzüchter werden, und eines Abends, wenn er heimritte, begegnete er der schönen Erbin, die gerade von einem Räuber auf einem Rappen entführt würde, und dann setzt er ihm nach und befreit sie. Natürlich würde sie sich in ihn verlieben und er in sie, und sie heirateten dann und kehrten heim und wohnten in einem großen Palais in London. Ja, entzückende Dinge warteten auf ihn. Aber er müsse auch sehr brav sein, nie die Geduld verlieren oder sein Geld vergeuden. Sie sei nur ein Jahr älter als er, aber sie wisse schon genügend mehr vom Leben. Er müsse ihr auch zuverlässig an jedem Posttag schreiben und jeden Abend, wenn er schlafen gehe, beten. Gott sei sehr gut und werde über ihn wachen. Auch sie werde für ihn beten, und in ein paar Jahren werde er reich und glücklich nach Hause kommen.

Der Bursche hörte ihr brummig zu und gab keine Antwort. Ihm tat das Herz weh, weil er von der Heimat weg mußte.

 

Aber es war nicht das allein, was ihn düster und verstimmt sein ließ. So unerfahren er war, fühlte er doch sehr die Gefahr, die in Sibyls Stellung lag. Dieser junge Stutzer, der ihr den Hof machte, konnte es nicht ehrlich mit ihr meinen. Es war ein vornehmes Herrchen, und das trug ihm seinen Haß ein, einen Haß, der aus einem sonderbaren Rasseinstinkt herrührte, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte und der ihn gerade deshalb um so stärker beherrschte. Er kannte auch die Oberflächlichkeit und Eitelkeit seiner Mutter und sah darin ungeheure Gefahren für Sibyl und Sibyls Glück. Kinder fangen damit an, ihre Eltern zu lieben; wenn sie älter werden, sitzen sie über ihnen zu Gericht, manchmal vergeben sie ihnen auch.

Seine Mutter! Es brütete in ihm, sie über etwas zu fragen, was er viele schweigsame Monate hindurch mit sich herumgeschleppt hatte. Ein zufälliges Wort, das er im Theater aufgeschnappt hatte, ein hingeflüstertes Scherzwort, das er eines Abends auffing, als er an der Bühnentür wartete, hatte eine Flucht schrecklicher Gedanken entfesselt. Die Erinnerung daran schmerzte ihn wie der Hieb einer Reitpeitsche in sein Gesicht. Seine Brauen kniffen sich in eine tiefe Furche zusammen, und in schmerzlichem Krampf biß er sich auf die Lippen.

„Du hörst auch nicht ein einziges Wort, das ich sage, Jim!“ rief Sibyl, „und ich schmiede die entzückendsten Pläne für deine Zukunft. Sag' doch mal was!“

„Was soll ich denn sagen?“

„Oh, daß du ein braver Bursche sein willst und uns nicht vergessen“, antwortete sie und lächelte ihn an.

Er zuckte die Schultern. „Es wäre eher möglich, daß du mich vergißt, als daß ich dich vergesse, Sibyl.“

Sie errötete. „Wie meinst du das, Jim?“ fragte sie.

„Du hast einen neuen Freund, wie ich höre. Wer ist es? Warum hast du mir nicht von ihm erzählt? Er meint es nicht gut mit dir.“

„Hör' auf, Jim“, rief sie aus. „Du darfst nichts gegen ihn sagen. Ich liebe ihn.“

„Was, und du weißt nicht mal seinen Namen?“ erwiderte er. „Wer ist es? Ich habe ein Recht, das zu wissen.“

„Er heißt der Prinz Märchenschön. Gefällt dir der Name nicht? Oh, du törichtes Jungchen! du solltest ihn nie vergessen. Wenn du ihn nur ein einzigesmal sähest, müßtest du ihn für den entzückendsten Menschen auf Erden halten. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen: wenn du von Australien zurückkommst. Er wird dir sehr gefallen. Allen Menschen gefällt er, und ich … ich liebe ihn. Ich wollte, du könntest heute abend ins Theater kommen. Er wird kommen, und ich spiele die Julia! Oh, wie ich sie spielen werde! Denk dir, Jim, lieben und die Julia spielen! Wissen, daß er dasitzt! Zu seiner Freude spielen! Ich fürchte, ich werde meine Kollegen erschrecken, erschrecken oder hinreißen. Lieben heißt, hinauswachsen über sich selbst. Der gräßliche Herr Isaacs wird seinen Kumpanen am Schenktisch zuschreien, ich sei ein Genie. Er hat mich wie ein Dogma ausposaunt; heute abend wird er mich als Offenbarung verkündigen. Ich fühle das. Und all das ist sein Werk, nur sein, des Prinzen Märchenschön, meines wunderbaren Geliebten, meines Musengottes. Aber ich bin ein armes Ding neben ihm. Arm. Was liegt daran? Schleicht Armut in ein Haus, fliegt Liebe durchs Fenster hinaus. Unsere Sprichwörter müssen umgeändert werden. Sie sind im Winter erdacht worden, und jetzt ist Sommer, für mich freilich Frühling, ein Tanz von Blüten unter blauem Himmel.“

„Er ist ein Herr der feinen Gesellschaft“, sagte der Bursche finster.

„Ein Prinz!“ rief sie mit melodischer Stimme. „Was willst du mehr?“

„Er wird dich zu seiner Sklavin machen.“

„Ich erschrecke bei dem Gedanken, frei zu sein!“

„Ich rate dir, dich vor ihm zu hüten.“

„Ihn sehen, heißt ihn anbeten, ihn kennen, heißt ihm vertrauen!“

„Sibyl, deine Liebe macht dich verrückt.“

Sie lachte und nahm seinen Arm. „Du lieber, alter Jim, du sprichst, als wärest du hundert Jahre alt. Eines schönen Tages wirst du selbst lieben. Dann wirst du wissen, was das heißt. Guck mich nicht so brummig an. Du solltest dich freuen in dem Bewußtsein, daß du mich, obwohl du gehst, glücklicher zurückläßt, als ich je gewesen bin. Das Leben ist bisher hart für uns gewesen, furchtbar hart und schwer. Aber jetzt wird's anders. Du gehst in eine neue Welt, und ich habe eine neue gefunden. – Da sind zwei Stühle frei, wir wollen uns setzen und die eleganten Leute Revue passieren lassen.“

Sie setzten sich mitten in eine Menge von Zuschauern. Die Tulpenbeete längs des Weges flammten wie beschwörende Feuerglocken. Ein weißer Dunst wie eine zitternde Wolke von Veilchenpuder hing in der schwülen Luft. Die hellfarbigen Sonnenschirme tanzten auf und ab wie Riesenschmetterlinge.

Sie brachte ihren Bruder dazu, daß er von sich, seinen Aussichten und seinen Plänen sprach. Er redete zögernd und mühsam. Sie ließen ihre Worte langsam aufeinanderfolgen, wie sich Spieler ihre Points ansagen. Sibyl fühlte sich niedergedrückt. Sie konnte ihre Freude nicht mitteilen. Ein schwaches Lächeln, das seinen vergrämten Mund umspielte, war die einzige Antwort, die sie erhielt. Nach einiger Zeit verstummten sie beide. Plötzlich erblickte sie den Schimmer goldenen Haares und lachende Lippen, und in einem offenen Wagen fuhr Dorian Gray mit zwei Damen vorbei.

Sie sprang auf. „Da ist er!“ rief sie.

„Wer?“ fragte Jim Vane.

„Der Märchenprinz“, antwortete sie, und spähte dem Wagen nach.

Er sprang auf und faßte rauh ihren Arm. „Zeig' ihn mir. Welcher ist es? Zeig' ihn mir, ich muß ihn sehen!“ rief er. Aber in diesem Augenblick fuhr der Viererzug des Herzogs von Verwick dazwischen, und als die Aussicht wieder frei war, hatte der Wagen schon den Park verlassen.

„Er ist fort“, murmelte Sibyl traurig. „Ich wünschte, du hättest ihn gesehen.“

„Ich wünschte es auch, denn so wahr ein Gott im Himmel ist, wenn er dir je ein Leides antut, bring' ich ihn um!“

Sie sah ihn erschreckt an. Er wiederholte seine Worte. Sie durchschnitten die Luft wie ein Dolch. Die Leute ringsherum fingen an, auf sie hinzustarren. Eine Dame ganz in der Nähe kicherte.

„Komm fort, Jim; komm fort“, flüsterte sie. Er ging ihr verbissenen Mundes nach, als sie die Menge durchschritt. Er war zufrieden, daß er das gesagt hatte.

Als sie bei der Achillesstatue war, drehte sie sich nach ihm um. In ihren Augen lag Mitleid, das auf ihren Lippen zu einem Lachen wurde. Sie schüttelte den Kopf über ihn. „Du bist verdreht, Jim, völlig verdreht; ein ungezogener Bubi, sonst nichts. Wie kannst du so was Häßliches sagen? Du weißt gar nicht, was du zusammensprichst. Du bist einfach eifersüchtig und unfreundlich. Ach! ich wollte, daß du dich einmal verliebst. Liebe macht die Menschen gut, und was du gesagt hast, war schlecht.“

„Ich bin erst sechzehn,“ antwortete er, „aber ich weiß, was ich zu tun habe. Mutter kann dir nicht helfen. Sie versteht es nicht, dich zu beschützen. Ich wünschte jetzt, ich ginge überhaupt nicht nach Australien. Ich hab' nicht übel Lust, die ganze Sache zu lassen. Ich tät's, wenn mein Vertrag nicht schon unterschrieben wäre.“

„Ach, sei nicht so ernsthaft, Jim. Du bist wie einer von den Helden aus den albernen Melodramen, in denen Mutter so gern gespielt hat. Ich will mich mit dir nicht streiten. Ich hab' ihn gesehen, und ihn sehen, ist vollkommenes Glück. Wir wollen nicht streiten. Ich weiß, daß du einem, den ich liebe, nie etwas antun wirst, nicht?“

„Solange du ihn liebst, wohl kaum“, war die finstere Antwort.

„Ich werde ihn immer lieben!“ rief sie.

„Und er?“

„Auch immer.“