Hannes

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«Nein, die erste nicht, aber sie war anders als andere Frauen. Sie war unheimlicher.»

«Können Sie mir das näher erklären?»

«Sie war unberechenbar, sie hatte eine dämonische Seite. Vielleicht faszinierte mich das.»

«Sie waren in Griechenland, sind dann vor den andern heimgekehrt – angeblich wegen Kopfschmerzen.»

«Ich hielt es nicht aus, fern von ihr zu sein.»

«Trotz jener schönen Griechin, die Ihre Gruppe leitete und die Ihnen offenbar gefiel?»

«Ach, das wissen Sie auch? Ja, die war tatsächlich schön, aber vor allem erinnerte sie mich an Franziska; ich weiss nicht warum, aber ich sah in ihr ständig meine Frau.»

«Haben Sie es ihr gesagt?»

«Was gesagt?»

«Dass sie Ihnen gefalle.»

«Ich denke, sie hat es gemerkt.»

Eine Weile schien der Kommissar über etwas nachzudenken, kritzelte dabei mit seinem Stift schräge und senkrechte Striche auf ein Blatt – eine Art Regen-Zeichnung wie bei Klee oder Flora. Auf seine Frage, warum Paolo ihn ab und zu ‹Gaspard de la nuit› nannte, musste Hannes lachen. Er hatte früher oft jenes so betitelte Werk von Ravel gespielt. Zudem habe vielleicht dieser Übername zu ihm gepasst.

«Wegen der Nacht?»

«Ja, vielleicht.»

Er blätterte in seinem Dossier: «Sie haben offenbar ein enges Verhältnis zu Ihrer Schwester Sonja. Ich übergehe ein Vorkommnis, von dem mir Ihre Stiefmutter Lille erzählt hat. Mich interessiert etwas anderes, nämlich das Verhältnis Ihrer Schwester Sonja zu Ihrer Frau. Wie kamen die miteinander aus?»

Hannes zuckte die Achseln.

«Es heisst, Ihre Schwester sei sehr impulsiv. War sie eifersüchtig?»

«Kennen Sie Frauen, die nicht eifersüchtig sind?»

«Sie weichen meiner Frage aus, Herr Monstein. – Anders gefragt: Hat Ihre Schwester Sie geliebt?»

«Mich geliebt? Wie kommen Sie darauf?»

«Es wäre doch denkbar, nicht?»

«Natürlich wäre es denkbar, aber ich weiss nicht, worauf Sie mit Ihrer Frage hinauswollen.»

Der Kommissar insistierte nicht. Nachher war von Plözzer die Rede, von seinem Absturz, seinem vorangegan­genen Streit mit Paolo. Der Kommissar wusste, dass es dabei um ein Stück Bauland bei Stäfa ging, das Paolo kaufen wollte und das ihm Plözzer wegschnappte.

«Was war dieser Plözzer für ein Typ?»

«Eine Art Schwergewicht. Kantonsrat, Immobilienhändler, steinreich, grosszügig. Zudem ein bisschen verrückt.»

«Inwiefern verrückt?»

«Er stellte gern die Welt auf den Kopf, hatte eine Vorliebe für Paradoxe. Exzentrisch wie er war, behauptete er zum Beispiel, ein Mord sei für ihn etwas völlig Normales, jedenfalls nicht eine Frage der Moral, sondern des klaren Verstandes und des Selbstwertgefühls.»

Diese Aussage musste Hannes wiederholen. Während Grädel notierte, klopfte jemand an die Tür; er ging hinaus, unterhielt sich mit jemandem, kam wieder zurück, setzte sich, blätterte in seinem Dossier. Irgendwo tauchten ein paar Fotos auf – Hannes erkannte flüchtig sein Haus, sein Wohnzimmer und das Sofa. Der Mann schien etwas zu suchen. Nachher, halb abwesend, zeichnete er wieder Regenstriche. Ohne aufzuschauen, fragte er:

«Und Sie, was denken Sie über diesen Mord?»

Hannes schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht.

«Stimmt es, dass Sie ab und zu unberechenbare Reaktionen haben?»

«Wer ist schon berechenbar? Ich bin auch nur ein Mensch.»

«Es heisst, dass Sie manchmal plötzliche Wutanfälle haben.» Hannes schwieg, er fuhr fort: «Da gab es zum Beispiel in Ihrer Jugend eine Auseinandersetzung mit ihrem Stiefbruder Paolo, an einem Flussufer, wo Sie ihn beinahe gesteinigt hätten. Offenbar hatten Sie ihn so unglücklich getroffen, dass er bewusstlos am Boden lag. Könnten Sie mir das etwas genauer erzählen?»

«Nein, ich mag nicht. Wozu die Vergangenheit aufwühlen?»

«Es ist sicher besser, darüber zu reden, als es zu verdrängen.»

«Ich verdränge es ja gar nicht.»

«Dann sagen Sie mir doch, wie es war.»

«Einfach ein Streit. Er hatte mich ins Wasser gestossen, worauf ich einen Stein nach ihm warf; nachher lag er am Boden, und ich wusste nicht, was tun.»

«Hatten Sie Angst?»

«Natürlich.»

Der Kommissar schwieg, ihm ins Gesicht schauend. Die merkwürdige Stille dieses Mannes. Hannes fragte ihn:

«Sagen Sie, Herr Grädel, ist dies eigentlich ein Verhör?»

«Aber nein, wer redet hier von Verhör. Ich versuche nur herauszufinden, wer Sie sind. Verstehen Sie? Sie interessieren mich, und deshalb unterhalte ich mich mit Ihnen.»

«Privat oder dienstlich?»

«Ach, wissen Sie, das geht bei mir immer ein bisschen ineinander. Ich kann den Beruf nie ganz von mir abstreifen.»

«Sodass jeder, dem Sie begegnen, im Grunde ein Krimineller sein könnte?»

«Nein, das sehen Sie falsch. Aber wenn man es ein Leben lang mit Menschen zu tun hat, entsteht mit der Zeit eine gewisse Neugier, über den Beruf hinaus.»

Es dämmerte bereits, und im Halbdunkel schien sein Gesicht leicht verändert. Endlich stand er auf, sie verliessen das Zimmer. Draussen wieder eine Treppe, ein Gang und nochmals eine Treppe. Grädel begleitete ihn bis zum Ausgang, wo sie sich verabschiedeten. Als Hannes nach ein paar Schritten flüchtig zurückschaute, stand der Mann immer noch in der Tür, winkte kurz mit der Hand.

Auf dem Heimweg erinnerte er sich an jenen Vorfall. Sie waren damals noch halbwüchsig, dreizehn- und vierzehnjährig, sie weilten in Falön in den Ferien, spielten eines Tages am Flussufer. Er zeigte Paolo, wie man flache Steine so über das Wasser werfen konnte, dass sie an den Wellen abprallten und weiterhüpften. Einmal geschah Folgendes: Er stand auf einem abgeschliffenen Steinbrocken, als ihm Paolo plötzlich von hinten einen wuchtigen Stoss versetzte. Er stürzte ins Wasser, wurde ein paar Meter fortgeschwemmt, konnte sich aber wieder aufrichten und ans Ufer steigen. Passiert war nichts, ausser dass er platschnass war, während Paolo laut lachte. Er war masslos wütend, begann Steine nach ihm zu werfen; einer traf ihn am Kopf, Paolo fiel hin und lag dann reglos am Boden. In einer plötzlichen Verwirrung wusste er nicht mehr, was passiert sei, er sah nur Sandbänke und eilende Wellen, während das Rauschen des Flusses immer lauter wurde. Zum Glück erschien jemand, man brachte den Verletzten zu einem Arzt, wo er sich langsam erholte. Eine Zeit lang trug er einen Verband um den Kopf, hatte oft Schwindelanfälle, bis es ihm allmählich besser ging und er das Geschehene wieder vergas.

Hannes selber konnte nicht vergessen. Die Erinnerung verfolgte ihn wie ein Schatten.

Das Begräbnis hätte im engeren Familienkreis stattfinden sollen, doch erschienen dann mehr Leute, als einem lieb war. Die Menschen langweilen sich und sind froh, wenn einmal etwas passiert. Während der Geistliche vor den zwei Gräbern redete, zählte er unauffällig die Anwesenden. Im ganzen etwa siebzig Personen. Irgendwo sein Chef Dr. Rehberg, der Dichter Isidor Turell, Kunstmaler Möcklin und Frau, dazu Charles, sein Mitarbeiter der FAVILLA. Ganz vorne die Leidtragenden – Lille, die Schwiegereltern, Franziskas blonde Patin, in der Mitte, am Arm gestützt, sein Vater. Er selber stand mit Sonja etwas erhöht auf der Seite gegenüber. Vor ihnen zwei Erdhaufen, zerschnittene Wurzeln, Blumen und Totenkränze. Sein Freund Leon war nicht da. Hingegen sah er irgendwo den pensionierten Kommissar Locher. Sein verwittertes Bauerngesicht. Er stand etwas am Rande, Hut in den Händen, Gebete schienen nicht seine Stärke; einmal strich er sich mit der Hand über den borstigen Schädel und blinzelte am Kirchturm in die Höhe.

«Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn …» Jemand schaufelte Erde in beide Gräber, Frauen warfen Blumen hinein, auch Sonja. Das Stillstehen ermüdete. Übrigens war es zu warm für die Jahreszeit – Mitte April, das war früher noch Vorfrühling, während heutzutage die Hitze immer überfallar­tiger hereinbrach. Wahrscheinlich herrschte Föhn. Man sah bewegtes Gezweig, junges Laub, irgendwo hinter der Mauer blühte ein Kirschbaum. Der Himmel fast dunkelblau.

Er war froh, als man nach der Grabzeremonie den kühlen Kirchenraum betreten konnte. Drinnen tönte Orgelmusik. Als sich die Leute gesetzt hatten, folgte eine Stille. Dann wieder die Stimme des Geistlichen, wieder ein Gebet, hierauf die Trauerrede, von der er mangels Kon­zentration fast nichts mitbekam. Er realisierte höchstens, dass einmal mehr Paulus das passende Stichwort lieferte. Stichworte, dachte er, das war immer etwas vom Wichtigsten. Stichworte waren auch Paolos Stärke gewesen, mit ihnen hatte er oft lebhafte Diskussionen ausgelöst. Bei Paolo ging es überhaupt immer lebhaft zu. Seltsam zu denken, dass er und Franziska jetzt für immer verstummt waren. Während der Pfarrer auf seiner Kanzel redete, dachte er an die beiden Gräber da draussen, beide dicht nebeneinander, sodass sie, falls es eine Totensprache gab, fast miteinander flüstern konnten. Die gute Lille war sogar auf den Gedanken gekommen, sie im selben Grab beizusetzen – ein Vorschlag, den der Vater entrüstet zurückgewiesen hatte; als wäre der Skandal nicht schon gross genug gewesen!

Hannes betrachtete den frisch restaurierten Kirchenraum. An der Mauer ein paar bleiche Fresken, in der Mitte ein segnender Christus, im Chor drei sonnendurchtränkte Farbfenster. Einmal, während der Pfarrer redete, kam ihm seine verstorbene Mutter in den Sinn, und er fragte sich, wie es für sie gewesen wäre, wenn sie Franziska gekannt hätte.

Nach der Predigt folgte eine Cello-Suite, hierauf sprach ein Rotarier, dann ein Tennisspieler, dann ein Offizier, dann wieder der Pfarrer. Hierauf Orgelmusik – «Nun kommt der Heiden Heiland» – ein Stück, das er selber oft auf dem Klavier gespielt hatte. Alles in allem, bis zum Schlussgebet, dauerte die Feier eineinhalb Stunden.

 

Draussen stand er mit den Angehörigen eine Weile vor den zwei Gräbern. Lille, Franziskas Mutter und die blonde Patin trockneten sich die Tränen. Unweit von ihnen, nahe an der Mauer, befand sich ein Komposthaufen, auf dem drei Raben krächzend um einen Brocken stritten.

Die meisten Trauergäste hatten sich entfernt, nur ein paar wenige standen noch herum. Ex-Kommissar Locher kam auf ihn zu, drückte ihm die Hand, nahm ihn freundschaftlich beim Arm und wanderte mit ihm auf Kies­wegen dem Ausgang zu. «Wie traurig, mein lieber Mon­stein», sagte er. «Zwei so lebensfrohe Menschen, die auf diese Weise das Irdische segnen müssen, wobei es hier nicht gerade segensreich zuging. Sehen Sie, ich hatte beruflich ein Leben lang mit Morden zu tun, Gewalttaten waren mein hartes Brot, aber von Abhärtung ist in mir nicht die Rede, im Gegenteil, so etwas geht mir noch immer an die Nieren. Und für Sie selber, als sensiblen Menschen, wird es doppelt schwer sein. Hören Sie, wenn Sie einmal das Bedürfnis haben, Ihren Schmerz von der Seele zu reden und jemandem Ihr Herz zu öffnen, dann melden Sie sich doch. Rufen Sie mich an, oder kommen Sie einfach. Für Sie habe ich immer Zeit.»

Dankbar war er für sein einfaches Büro, wo ihn niemand störte. Es waren im Haus knapp zwanzig Personen angestellt. Einzelne, zum Beispiel Charles, bekundeten offen ihr Beileid, andere schienen befangen oder grüssten zu freundlich. Am spontansten wie immer Frau Walter, die mütterliche Sekretärin, mit der er immer gut auskam. Sie war verwitwet, hatte ihm einmal vom Unfalltod ihres Mannes erzählt, der als Eisenbahn-Monteur auf dem Dach einer Lokomotive mit dem Starkstrom in Kontakt gekommen und dann gleichsam in einem blauen Blitz verschwunden war. Das erzählte sie nicht etwa klagend, sondern ganz ruhig, als wäre so ein Starkstromblitz das Natürlichste von der Welt. Er habe, erzählte sie, in seinem Sarg trotz Brandwunden wie ein Schlafender ausgesehen … Heute, als Hannes nach seiner längeren Abwesenheit erschien, beteuerte sie, sie habe die ganze Zeit an ihn denken müssen: «Wissen Sie, Herr Monstein, es trifft immer diejenigen, die es am wenigsten verdienen, aber Gottes Wege sind unergründlich.» Sie hielt seine Hände, es sah fast aus, als wünschte sie eine Umarmung. Bevor er wegging, fragte sie leise: «Gibt es schon eine heisse Spur?»

Sein Vater fragte ihn, ob er nicht für ein paar Tage wegmöchte – ein Kulissenwechsel, frische Luft, zum Beispiel bei ihrem Pächter im Unterengadin? Hannes antwortete, er sei jetzt nicht gerade auf Ferien erpicht, zudem müsse er für die Polizei jederzeit erreichbar sein. Der Alte, im Polstersessel sitzend, fragte: «Wie lange dauert das noch?»

«Ich weiss es nicht, Vater, ich weiss es wirklich nicht. Das kann noch lange dauern.»

Abends beim Einnachten wanderte er, wie schon immer, etwas umher. Betrachtete dabei die Leute, die auf ihn zukamen, als wäre es noch immer möglich, unverhofft ein bestimmtes Gesicht zu sehen. An der Kaibrüstung blieb er stehen und schaute auf den Fluss hinunter, sah in der Dämmerung die lautlose Strömung, das Weiss von Möwen. In einer Seitenstrasse wurde noch gearbeitet – Geräusch einer Maschine, warmer Rauch, ein Duft von Teer, italienische Stimmen. Weiter hinten kam ein stilleres Quartier, irgendwo die Bahnpasserelle. Er stieg hinauf, blieb eine Weile oben, während unten beleuchtete Züge vorbeifuhren. Man sah schimmernde Geleise, irgend­wo ein rotes Signallicht. Rechts unten, unweit der Bahnlinie, das kleine Café, in welchem er eines Abends mit Franziska gewesen war, kurz nach ihrer Bekanntschaft; beim Weggehen hatte sie ihren Schal vergessen, er war zurückgeeilt, um ihn zu holen. Sie wartete auf der Passerelle, er sah ihre Silhouette; als er oben war, hatte sie sich versteckt, näherte sich von hinten, schnappte ihm den Schal aus der Hand und legte ihn blitzschnell um seinen Hals, wie eine Schlinge. Dabei lachte sie.

Am schwierigsten immer die Abende zu Hause, wenn es nichts zu tun gab. Er mochte weder Fernsehen noch Radio, Lektüre ging nicht, schreiben noch weniger; Musik ertrug er überhaupt nicht, nicht einmal Bach. Klavier spielen kam ohnehin nicht in Frage, zumal er das Aufenthaltszimmer, wo sein Flügel stand, nicht betreten mochte. Das eigene Haus schien unbewohnbar zu werden. Einmal wollte er in Franziskas Tagebuch lesen. Er nahm es aus der Schublade, blätterte kurz darin und legte es wieder zurück.

Eines Nachmittags, als er heimkam, waren Lille und Francine da, mit dem Einpacken von Franziskas Sachen beschäftigt. An sich wusste er, dass sie hier sein würden, doch unterdessen hatte er es vergessen. Er grüsste, warf ei­nen Blick in das Zimmer, sah offene Schränke und Schubladen, am Boden zwei offene Koffer. Hierauf begab er sich in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Tisch und machte sich daran, noch ein paar letzte Kondolenzbriefe zu beantworten; er benutzte hierzu die gedruckten Karten mit der Danksagung und den Namen der zwei Hingeschiedenen, versah sie mit seiner Unterschrift, fügte da und dort etwas Persönliches hinzu. Oben vernahm er die Stimmen der beiden Frauen, fragte sich, wie lange ihre Einpackerei noch dauern würde.

Einmal klopfte Lille an die Tür, fragte ihn, ob er ihr helfen könnte, einen Koffer ins Freie zu tragen. Er ging hinaus. Zu zweit ging es nicht gut, sodass er das schwere Ding allein die Treppe hinunterschleppte; Lille öffnete ihm die Haustür, draussen den Kofferraum von Francines Auto. Nachher, wieder in seinem Zimmer, tat ihm die rechte Hand so weh, dass er nicht mehr schreiben konnte. Er steckte sich eine Zigarette an, rauchte, zum Fenster hin­aus schauend. Sein Garten war mit Löwenzahn übersät, irgendwo blühte eine gelbtolle Forsythie.

Als er wieder das Zimmer verliess und auf den Balkon hinausging, hing da an einer Leine Franziskas rotes Abendkleid, dasjenige, das sie oft auf Partys getragen hatte. Eine Weile, halb abwesend, stand er da und schaute. An sich war nichts dabei, ein karminrotes Frauenkleid, das sich sanft im Frühlingswind bewegte. Doch ohne zu wissen, wie es kam, begann er auf einmal zu schreien. Die zwei Frauen eilten herbei, bleich vor Schreck. Was war denn passiert? Er schrie wie ein Übergeschnappter, als hätten sie etwas verbrochen, nur verstanden sie kein Wort. Hierauf kehrte er in sein Zimmer zurück, die Tür laut zuknallend.

***

Entschuldige, Leser, ich erzähle dies so, als handelte es sich um einen andern. «Je, c’est un autre», wie es der ge­nia­le Rimbaud gesagt hatte. Aber man kann sich nicht auf andere abschieben – ich spüre, dass ich auf schreckliche Weise ich selber bin. So bleibe ich besser bei der ­ersten Person, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt.

Ich notiere, was mir so in den Sinn kommt, ohne Plan, eine Art écriture automatique, so kunstlos wie möglich. Von der Familie nur en passant, also nur die Eltern, meine Schwester Sonja und mein unterdessen zu Tode gekommener Stiefbruder Paolo.

Franziska selber, die mit ihm dahingegangen ist, wird erst später auftreten, obwohl sie mir dauernd vor der Seele schwebt. Ich sehe sie Tag und Nacht, manchmal nur schemenhaft, dann wieder deutlich wie ein lebendes Wesen. Letzthin zum Beispiel, als ich nach Hause kam, sass sie auf dem Bänkchen vor dem Eingang; wie ich betroffen stehen blieb und hinstarrte, winkte sie kurz mit der Hand, verschwand hierauf wie ein Luftgespinst. Im Traum sehe ich ihr Gesicht, ihre Goldglanzaugen, ihren auf mich gerichteten Blick. Sie war für mich alles in allem ein sehr dunkler Engel, durch den ich Himmel und Hölle kennenlernte.

Ich versuche es zunächst mit der Gegenwart, das heisst mit der Gegenwart von einst, obwohl diese Gegenwart natürlich für immer vorbei ist. Es ist überhaupt etwas Merkwürdiges mit der Zeit, die uns dauernd zu schaffen macht: bald sind wir froh, dass sie vorbei ist, dann wieder möchten wir, dass sie zurückkäme.

Mein Vater, Hans Rudolf Monstein, Inhaber eines Möbel- und Teppichladens, ist ein noch stattlicher Herr mit dem Gesicht einer Respektsperson, obwohl er genau ge­nom­men zu jenen gehört, die äusserlich mehr vorstellen, als was sie in Wirklichkeit sind. Sonst ein ehrlicher Mann, zu Hause gelegentlich ein Polterer mit altersbedingten Zornstimmungen. Als ich zwölfjährig war, starb meine liebe Mutter, worauf er eine um zehn Jahre jüngere Witwe heiratete, Lilian Blum, geborene Brändli. Meine Stiefmutter (wir nennen sie Lille), ist an sich eine herzens­gute Person, freigebig und hilfsbereit, hat öfters armen Familien mit Geld oder Lebensmitteln geholfen. Von Natur eher extravertiert, erzählt gern von Partys und Small Talks, umschwärmt Künstler, Erfolgsautoren, Schauspieler – ein Fimmel, den sie übrigens mit Vater teilt. Ich erinnere mich an die Geschichte mit Daniel Barenboim. Wir machten Ferien in Pontresina, Barenboim gastierte als Pianist und Dirigent bei den Engadiner Konzertwochen. Vater hätte den berühmten Mann gern getroffen, doch wurde ihm mitgeteilt, Herr Barenboim könne niemanden empfangen. Lille hingegen, ohne uns ein Wort zu sagen, fuhr nach St. Moritz hinüber, suchte ihn zuerst im Hotel Kulm, dann in Badrutts’s Palace, fand ihn schliesslich im grossen Saal der Laudinella, wo er, von der Aussenwelt abgeschirmt, am Klavier übte. Sie fand eine Putzfrau, die sich von ihr bestechen liess und ihr eine Hintertür öffnete. Ich stelle mir vor, wie Barenboim erstaunt innehält, während sich die Dame aus dem Hintergrund nähert, ihn um Entschuldigung bittet und gleich zu reden beginnt, während er, am Flügel sitzend, mit der linken Hand leicht über die Tasten klimpert. Übrigens hat sie mein Noten­album (‹Daheim am Klavier›) mitgenommen, bittet um ein Autogramm für ihren hochbegabten Stiefsohn, ein Wunsch, den ihr der Pianist rasch und wortlos erfüllt, sich dann wieder dem Instrument zuwendet und weiterübt, während sie noch eine Weile auf Distanz zuhört und dann leise verschwindet. Abends erzählt sie uns in einer Wolke von Enthusiasmus, wem sie begegnet ist. «Ein herr­licher Mensch!», sagte sie. «Er hat sanfte Augen wie viele Juden, auf dem Schädel noch einen leichten Flaum, wie Wollgras. Ich fand ihn reizend – weltberühmt und so menschlich.»

Ich sehe noch Vaters frustrierte Miene. Er war buchstäblich sprachlos.

Meine Schwester Sonja arbeitet in einem Warenhaus als Leiterin der Haushaltsabteilung, hat ihre Dreizimmerwohnung in der oberen Etage des Elternhauses, im Estrich ein Atelier, wo sie ihre bald düsteren, bald skurrilen Bilder malt. Sie war mit Philipp (Journalist) verheiratet, allerdings nicht lange, weil sie wie Hund und Katze zueinander passten. Ich frage mich, wie sie damals überhaupt zueinander gefunden hatten, doch ich weiss gut genug, wie rasch man Feuer fängt. Bei der Frau ist es zudem so, dass die Verliebtheit manchmal schon vor der Bekanntschaft da ist. Nach einem Jahr trennten sie sich wieder, aber ohne den Kontakt abzubrechen.

Ich selber bin dankbar um diese Schwester, habe sie trotz ihrer gelegentlichen Wutausbrüche immer gemocht. Harro, ihr schwarzer Neufundländer, scheint ihre Wesensart assimiliert zu haben. Am liebsten liegt er auf ihrem Bett, obwohl er genau weiss, dass er das nicht darf. Sie schimpft dann mit ihm und jagt ihn weg. Einmal liess er es auf eine Kraftprobe ankommen, biss ihr in den Arm; sie schlug ihn mit einer bronzenen Statuette auf den Kopf, worauf er laut bellte und endlich ging. Aus Rache zerfetzte er, als er allein war, ein auf dem Boden liegendes Kunstlexikon.

In meiner Jugend hatte ich kaum mit jemandem eine so enge Beziehung wie mit ihr. Hier zögere ich, aber um ganz ehrlich zu sein, will ich zugeben, dass wir einmal die Grenze der geschwisterlichen Zuneigung überschritten. Ich meine, wie Sonja und ich, damals noch halbwüchsig (ich dreizehn und sie zwölf), das älteste Spiel entdeckten, das uns die Natur mitgegeben hat. Ich sehe unseren Garten, irgendwo im Gebüsch das morsche Bänkchen, auf den sich sonst niemand mehr setzte. Begonnen hatte es damit, dass mir Sonja mein Taschenmesser entwendete und sich damit davonmachte. Es war schon fast dunkel, ich rannte ihr nach, bis sie irgendwo stolperte und ich sie erwischte. Sie hielt das Messer fest in der Hand, eine Weile balgten wir uns am Boden, richteten uns endlich auf, beide ausser Atem; ich umklammerte sie, worauf sie das Messer wegwarf. Da war dieses schiefe Bänkchen, wir liessen uns darauf nieder. Ich erinnere mich, wie ich trotz Dämmerung ihre Röte sah, wie ich (vielleicht ohne zu wissen, was ich tat) zwischen ihren Beinen eine bestimmte Stelle suchte und bald auch fand, wie sie zusammenzuckte, die Knie aneinanderpresste, dabei mit zischendem Atem sich an meinen Arm krallte. Ich erinnere mich an den Duft ihrer Haare, an den Duft von feuchtem Laub, dann, wie drüben das Licht anging und man nach uns rief. Auch daran, wie uns Mutter in den folgenden Tagen argwöhnisch beobachtete, weil ihr aufgefallen sein mochte, dass wir abends beim Einnachten immer wieder im Garten verschwanden und man nichts hörte. Bis sie uns einmal, als wir wieder auf jenem Bänkchen sassen, buchstäblich in flagranti ertappte. Wir sahen ihre Gestalt im Dunkeln, wir duckten uns wie Adam und Eva. Sie holte uns hurtig ins Haus, wo sie uns auf Romanisch eine fürchterliche Szene bereitete; für mich, bei meiner starken Mutterbindung, eines der schlimmsten Erlebnisse meiner Jugend, zumal sie tagelang nicht mehr mit mir redete. Sonja, mit ihrer wilderen Natur, bewältigte alles wahrscheinlich leichter.

 

Die Sünde hat ein gutes Gedächtnis; an nichts erin­nere ich mich so gut wie an meine Vergehen. Abgesehen davon bin ich froh um diese Schwester. Wir sind uns in vielem ähnlich, beide wechselhaften Gemüts, wankend zwischen Aufschwüngen und stillen Verzweiflungen. Sie ist musikbegabt, spielt ordentlich Violine, nur übt sie leider zu wenig, Geduld ist nicht ihre Stärke. Hie und da musizieren wir miteinander … Eigentlich müsste ich sagen: Wir musizierten. Das wird nun vorbei sein.

Mein Stiefbruder Paolo ist etwa gleich gross wie ich, vielleicht etwas kräftiger, nicht zu schlank und nicht zu dick, ein gut aussehender Mann mit lebhaften Augen und selbstbewusster Miene, einer, der überall rasch auffällt, auch bei den Frauen.

Ich selber habe weder seine Lebhaftigkeit noch seine Erscheinung. Bei der eigenen Geburt (oder beim fatalen Moment unserer Entstehung) hat man Glück oder Pech, und der Herrgott schert sich einen Teufel um unser Aussehen. Man sagt mir, dass ich ein interessantes Gesicht habe und dass ich dem jüngeren Jean Gabin gleiche. Ich beklage mich nicht über mein Äusseres, leide höchstens an einer leichten Asymmetrie: meine linke Schulter ist ein kleines bisschen höher als die rechte, das eine Bein ­zudem eine Idee kürzer als das andere, daher mein unmerkliches Hinken, ein leicht federnder Gang, was Paolo gelegentlich zu lustigen Bemerkungen veranlasst: «Unser tänzelnder Gaspard de la nuit.» In Kleiderläden gehe ich denkbar ungern, weil es für mich keine Konfektion gibt. Leide ich an einem Komplex? In meinen Knabenjahren war alles noch kein Problem, zumal ich an Kraft und Wen­digkeit niemandem nachstand. Ich konnte Ski fahren, spielte gern Fussball, ich fürchtete keine Rauferei. Selbstskepsis, das begann erst in den Jünglingsjahren, im Alter der Selbstbetrachtung. Holde Jugendzeit, mit deinen verräterischen Spiegeln!

Als Paolo, damals achtzehnjährig, einen Tanzkurs be­suchen durfte, wollte man es mir verheimlichen, doch er selber, mitteilsam wie er war, erzählte mir davon, im Schlafzimmer. Am schönsten, sagte er, sei es immer mit der Eva Kühne aus meiner Klasse: «Wenn ich die in den Armen halte und ihre Brust spüre, rinnt mir das Blut ganz warm durch die Adern; ich könnte mich nächtelang mit ihr im Kreise drehen, oder auch nur stillstehen und ein bisschen hin- und herwiegen, einfach so, verstehst du? Sie hat einen sanften und zugleich festen Körper, was man sogar durch die Kleider spürt. Ab und zu kann es passieren, dass man sich zufällig mit den Beinen berührt – völlig ­unabsichtlich. Eigentlich etwas Irrsinniges, Hannes! Ich weiss nicht, ob du dir das vorstellen kannst.»

Ich lag im Bett, Hände unter dem Kopf. Ich konnte es mir durchaus vorstellen. Eines Abends stand ich vor dem Gebäude, in welchem sein Tanzkurs stattfand. Von einem erhöhten Parkplatz sah ich in den Saal hinein, durch die Ritzen der Vorhänge ein Schaukeln und Drehen, dazu Musik, dazwischen die laute Stimme des Tanzlehrers.

Ich blieb, bis es zu Ende war und die Gesellschaft ­herauskam. Zu Hause wartete ich auf Paolos Heimkehr. Mitternacht war schon vorbei, als er leise ins Zimmer trat, sich auszog und ins Bett schlüpfte. Ich schlief. Damals lernte ich einen Schmerz kennen, der wie Kohlenglut brannte und von dem ich nicht wünschte, dass er nicht wäre.

Ich weiss nicht, was aus der Eva Kühne (mit ihrem sanften und zugleich festen Körper) geworden ist. Ich weiss nur, dass Paolo seit damals mit einer ganzen Reihe von Evas getanzt hat und noch immer tanzt. Der Erfolg bleibt ihm treu, wobei es keine Rolle spielt, ob das mit seinem Äussern zu tun hat, mit seiner Redegewandtheit oder mit einer Ausstrahlung der Person, von der man nie genau weiss, woher sie kommt. Wenn ich zum Beispiel mit ihm ein Lokal betrete, wo uns niemand kennt, fällt mir gleich auf, wie er die Blicke auf sich zieht. Es ist etwas wie Magnetismus. Ein seelisch ausgeglichener Mensch ist er überhaupt nicht, im Gegenteil, seine Stimmungen wechseln wie Wetterlaunen, eine Weile heiter und gut gelaunt, dann von einem Moment zum andern unwirsch und aggressiv, als hätte man ihn beleidigt oder nicht ernst genommen.

An sich plaudere ich gern mit ihm, weil er enorm viel weiss. Leider kann er den Schulmeister nie ganz abstreifen. Je nachdem, wenn jemand etwas erzählt, sagt er leichthin: «Donnerwetter, Donnerwetter!», oder: «So, so, sieh mal da – hätte ich nie gedacht.» Bei ungefährlichen Gegnern kann er seine eigene Meinung zum Schein preisgeben. Hat er es aber mit einem Überlegenen zu tun, so schüttelt er den Kopf, verzieht den Mund, winkt mit der Hand ab und lächelt ironisch. Doch wenn es ihm gelingt, den andern mundtot zu machen, so entspannt er sich rasch und gibt ihm ohne weiteres zu, dass auch seine Ansicht etwas für sich hat, nur dürfe man dies oder jenes nicht vergessen, man müsse immer alles ein bisschen kompliziert darstellen usw.

Das Gespräch ist sein Element, seine Stärke die Improvisation. Je mehr Leute da sind, desto lebhafter setzt er sich in Szene. Er ist imstande, einen vollen Saal zu unterhalten, bald ernst und tiefsinnig, bald witzig und clown­esk. Er hat einen Hang zum Theatralischen, kann irgendein Thema geistvoll oder komödiantisch variieren, mit einer Anekdote Staunen oder Lachen hervorrufen.

Er ist in vielem bewandert, aber eigentlich ohne den Dingen auf den Grund zu gehen. Was er weiss, kann er glänzend vortragen und man neigt rasch dazu, ihm recht zu geben. Es kommt sogar vor, dass Sachkundige trotz besseren Wissens auf seine Suggestivität hereinfallen. Natürlich gibt es auch solche, die ihm nicht alles abnehmen, zum Beispiel sein Freund Henlin, ein begabter Spötter, der ihm etwa sagt: «Paolo, nicht so viel Butter», oder: «Verzapfe keinen Tiefsinn.»

Wie dem auch sei: In Gesellschaft kommt es einzig ­darauf an, nicht langweilig zu sein, alles andere wird verziehen. Eines der schlimmsten Weltübel ist die Langeweile, und deshalb niemand so beliebt wie der Langeweile-Vertreiber.

Es ist haarsträubend, wie zuletzt alles vergeht. Eines Tages merken wir, dass sich etwas gründlich verändert hat, und wir verstehen nicht warum. Im Grunde verstehen wir überhaupt nichts. Wahrscheinlich habe ich auch Paolo nicht verstanden, solange ich ihn gekannt habe. Heute, da er nicht mehr lebt, denke ich oft mit einer leisen Melancholie an ihn zurück.

De mortuis nil nisi bene – einverstanden, aber ich versuche nur, ihn zu charakterisieren, was hoffentlich noch erlaubt sein wird. Ich sage nur, dass er es einem nicht immer leicht machte. Er gehörte zu jenen, die andere am Ärmel zupfen, ihnen die Krawatte zurechtrücken, bald auf die Schulter klopfen und bald übers Maul fahren. Ich habe mich oft über ihn geärgert, aber ich möchte nicht, dass ich ihn nicht gekannt hätte. Letzten Endes profitieren wir von solchen Menschen mehr als von den Farblosen, von denen es bei Dante heisst: «Quelli che mai non furon vivi, non ragioniam di lor …»

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