Das Raunen des Flusses

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Wir machten uns auf den Weg, ich trug den Rucksack. Es war unsere schweigsamste Wanderung. Wenn ich etwas sagte, antwortete sie kaum oder dann so einsilbig, dass ich bald wieder verstummte. Ziemlich erstaunt war ich dann über die fröhliche Art, wie sie oben, als wir den Ort erreichten, tanta Maria begrüsste und sich für unsere Verspätung entschuldigte. Ich hatte mich bald zu den andern gesellt und sprang mit ihnen umher. Etwas später bemerkte ich, wie sie irgendwo am Rande stand und mich beobachtete. Nachher entfernte sie sich, wanderte um den See herum, blieb irgendwo stehen und schau­te eine Weile ins Wasser, ging dann weiter und verschwand beim Waldweg, wo wir heraufge­kom­men waren.

Der Vorfall wurde später nur mehr sporadisch erwähnt, hinterliess aber in mir einen beharrlichen Schatten. Hie und da vergass ich ihn, dann war er plötzlich wieder da, vor allem morgens, wenn ich erwachte, je nachdem auch wenn ich zum Essen kam und mich zu den andern an den Tisch setzte. Es kam vor, dass jemand eine kleine Anspielung machte; Adrian erkundigte sich etwa, ob ich der Familie etwas Süsses zum Nachtisch mitgebracht hätte. Betta, zwei Jahre älter als ich und damals in der zweiten Schulklasse, fragte mich, ob ich die zehn Gebote kenne; ich schüttelte den Kopf, wusste nicht einmal, was das Wort bedeutete, ahnte aber, was da­mit gemeint sein könnte. Eine Verwandte war auf Besuch, ich sass mit ihr und den Eltern am Tisch; einmal begannen sie zu murmeln und deutsch zu reden, obwohl ich schon Deutsch verstand und genau merkte, worum es ging. Als ich etwas später mit der Frau allein am Tisch zurückblieb und von dem feinen Kuchen ass, den sie mitgebracht hatte, schaute sie mir ernst ins Gesicht und fragte mich, ob ich kein böses Gewissen hätte. Ich antwortete nicht, ich ass ihren Kuchen, der geradezu nach Sünde schmeckte. Vielleicht lernte ich damals das entsetzliche Gefühl der Schuld kennen.

Eines Nachmittags, als ich die Küche betrat, lag der schwarz­lederne Geldbeutel auf dem sauber abgeräumten Tisch, genau in der Mitte. Ich berührte ihn nicht einmal mit dem Finger.

Sie hatte ihre Grillen. Eine davon bestand darin, dass sie oft noch abends spät mit einem Zuber voll Wäsche an den Brunnen ging und dort stundenlang wusch, mit Vorliebe, wenn es regnete. Man sah sie dann im Schein der Strassenlampe über den Brunnentrog gebeugt, eine Pelerine oder Vaters ehemaligen Waffenrock über die Schultern geworfen. Ab und zu kam sie ins Haus, ging wieder ins Freie. Wir sas­sen in der Stube, hörten ihre Schritte. «Sie arbeitet noch immer», sagte Betta.

Glücklich war sie, wenn es ihr abends gegen zehn Uhr gelang, die ganze Meute, inklusive Familienvater, ins Bett zu schicken, um noch eine oder zwei Stunden allein zu sein. Oft buk sie dann noch einen Kuchen. Kuchen waren ihre Spezialität, beispielsweise die Engadiner Nusstorte. Bei letz­terer musste sie vorher eine Menge Nüsse knacken, was sie jeweils mit dem Hammer bewerkstelligte, sodass man, wenn man im Bett lag, von unten ein dauerndes Klopfen vernahm, an dem man immer wieder erwachte. Einmal hörten wir, wie Vater auf die Treppe hinausging und hinunterrief: «Wenn du nicht bald aufhörst, steh ich wieder auf!»

Während später der Kuchen im Backofen lag, sass sie am Tisch und las die Zeitung, trank dabei schwarzen Kaffee und ass ein Stück Schokolade. Ich habe das öfters gesehn, weil ich dank ihrer Klopferei wach geblieben war, wieder aufstand und hinunterging. Sie war eine leidenschaftliche Zeitungsleserin, und zwar las sie alles – Leitartikel, Feuilleton, mit Vorliebe auch die kleineren Notizen, «Unglücks­fälle und Verbrechen», sogar die Inserate und natürlich die Todesanzeigen. Schokolade hatte sie übrigens sehr gern, eigentlich lieber als die Kuchen, die sie uns zubereitete. Wenn einer von uns auf Reisen gewesen war und wieder heimkehrte, gehörte es zu einer Art Tradition, dass man ihr eine Schokolade mitbrachte. Sie war dann jedes Mal glücklich wie über ein unerwartetes Geschenk, konnte andrerseits verstimmt sein, wenn man es vergessen hatte.

Sie arbeitete auch an Sonntagnachmittagen, flicken oder Strümpfe stopfen, allerdings nie ohne sich sonntäglich umgezogen zu haben, auch wenn sie allein zu Hause war.

An Weihnachten, besonders am Morgen des Weihnachtstages, war sie oft schlecht gelaunt, unterschwellig gereizt. Ich weiss nicht, ob das mit der Jahreszeit zusammenhing, etwa mit den winterlichen Raunächten und den langen Morgendämmerungen, oder dann mit dem Fest an sich, dieser programmierten und verbrämten Feierlichkeit, die sie vielleicht als verlogen empfand, und die auch schlecht ins Gewühl der eigenen Befindlichkeiten hineinpasste. O du selige, Gna­den bringende Weihnachtszeit ... Der geringste Anlass genügte dann, um eine Szene auszulösen; sie drohte, die angekommenen Geschenke wieder den Verwandten zurückzuschicken und keinen Christbaum zu machen. Natürlich kam später die Feier trotzdem zustande; gegen Abend holte sie das Tännchen herein, ging damit in die Stube und schmückte es stundenlang, schien dabei, im Gegensatz zum Morgen, auffallend still und zufrieden.

Ihr Bild hier auf meinem Büchergestell, ein schwarzweisses Foto, zwei Jahre vor ihrem Tod entstanden. Sie sitzt auf dem Brunnenrand, einen Kupferkessel haltend, hinter ihr der Garten mit dem Kirschbaum, die gedeckte Holzbrücke. Hier sieht sie noch gesund aus, während sich die Krankheit wahrscheinlich schon in ihr eingenistet hatte, unbemerkt wie ein Schatten. Nun ist sie seit vielen Jahren tot, zu Erde geworden, während ein Teil von ihr in mir noch weiterdauert – vielleicht ihre Gesichtszüge, ihr Blick, ihr Zorn oder ihr Verstummen, ihre Schwere und ihre Zähigkeit, ihre Härte und ihr Erbarmen, ihr Unfriede und ihre gelegentliche Hei­ter­keit.

Wenn in meinen Träumen die Jugend zurückkehrt, ist oft auch sie da. Ich träume zum Beispiel, dass ich eben vom Seminar heimgekehrt bin und fast allein die ganze Ernte bewältigen muss. Ich sehe die Riesenarbeit vor mir, das Gras steht dicht und hoch, ich zähle die Wiesen auf, die ich alle zu mähen habe, vor allem auch die unseligen Böschungen der Rhätischen Bahn, die wir gepachtet haben ... Ich träume, dass von Mitleid mit mir keine Rede ist, ich bin noch ein Jüngling und muss die Arbeit von Erwachsenen erledigen, ohne Lohn; es gibt das Essen, saubere Kleider und Wäsche, während der Schulzeit das Geld für Schulsachen und Konvikt, etwas über tausend Fran­ken pro Jahr, beim bescheidenen Einkommen Vaters gewiss keine Kleinigkeit. Aber Jugend habe ich keine, frei bin ich nie, entweder Schule oder Fronarbeit. Ich träume, dass Mutter unerbittlich ist; wenn es regnet und man nicht ernten kann, muss ich den Stall ausmisten, Holz spalten, oder sie schickt mich mit Axt und Säge in den Wald. Sie ist die Liebe in Person, sie würde für mich in den Tod gehen, doch sie gönnt mir keinen freien Tag.

Zornig wurde ich, wenn ich den ganzen Morgen auf einer Bergwiese gemäht hatte, mittags müde und hungrig war und sie mit dem Essen auf sich warten liess. Sie kam einfach nicht, während andere Leute im Schatten eines Baumes sassen und gemütlich speisten. Ich stellte mir dann vor, wie Mutter, statt zu Hause vorwärtszumachen, vielleicht noch die Zeitung las und wieder einmal nicht auf die Uhr schaute. Zuletzt, des Wartens überdrüssig, warf ich die Sense hin und ging ihr entgegen, entschlossen, ihr einmal gründlich die Leviten zu lesen. Ich bereitete eine Strafpredigt vor, doch wenn ich sie hinter einer Strassenbiegung oder in einem buschigen Hohlweg daherkommen sah, mit Kopftuch, sauberer Ärmelschürze, den Ess­korb und die Kaffeekanne mit sich tragend, blieb ich stehen und wartete, während sich meine grosse Wut wie ein Sommerdunst auflöste.

Natürlich mussten auch die Geschwister arbeiten, wenn sie zu Hau­­se waren; doch der Älteste studierte, die andern hatten ihre Berufslehre, während ich für meine langen Sommerferien zu büssen hatte.

Kleine Parenthese: Am Lehrerseminar hatte ich Kla­vier­un­ter­richt, ich übte mit Leidenschaft, Klaviermusik wurde zur Be­sessen­heit. Ich machte Fortschritte, der Lehrer lobte mich. Ein Problem waren meine dank Schwerarbeit gross und knochig ge­­wordenen Hände – Bauernpranken, deren Mittelfinger kaum zwischen den schwarzen Tasten Platz hatten. Wenn ich mit meinem Lehrer, einem liebenswürdigen Mann aus Ftan, darüber sprach, meinte er, meine Hände seien schon recht, lieber gross als klein, ich müsse sie nur entspannen und häufig Lockerungsübungen machen. Grosse Hände, die hätte zum Beispiel auch Rubinstein, und ich müsse hören, wie der spiele. «Das mag schon sein», sagte ich, «aber der war doch nie bei den Bauern – Rubinstein mit Sense oder Mistgabel, das kann man sich nicht vorstellen.» Er lachte, klopfte mir auf die Schulter. Das komme schon, sagte er. «Nur fleissig üben, üben, üben, und die Hoff­nung nicht aufgeben.» Nach zweieinhalb Jahren Unterricht spielte ich die «Pathétique» auswendig. Weiss Gott wie das tönte, aber ich spielte mit Leidenschaft.

Leidenschaften ... Vielleicht sind sie es, die uns über die Dauermühsal des Lebens hinweghelfen. Mein Vater zum Beispiel hätte in Sachen Leidenschaften eine Balzac-Figur sein können. Auch Mutter waren sie nicht fremd, im Gegenteil. Zum Beispiel eben das Zeitungslesen, das Briefeschreiben, das Kuchenbacken, die Haustiere. Dann vor allem Pilze und Beeren. Preisel- und Heidelbeeren gab es in höher gelegenen Regionen, Himbeeren, Hagebutten und Holunder auch un­ten im Tal. Sie wusste, wo sie zu finden waren, schweifte dann tagelang durch verlassene Schluchten, an Waldrändern und Geröllhalden ent­lang. Sie dachte an die Beeren, war aber dabei wohl unbewusst von Naturmagie durchdrungen. Oft vergass sie dann, nach Hause zu gehen, liess sich von der Nacht überraschen. Wir warteten mit dem Essen auf sie, man forderte mich auf, ihr entgegenzugehen. Ich wanderte bis zum Dorfausgang, wo die Strassenbeleuchtung aufhörte und sich die Dunkelheit verdichtete. Dort blieb ich stehen, zählte bis hundert, dann bis zweihundert. Je nachdem kam noch ein Bauer vom Feld, ich fragte ihn, ob er meine Mama gesehen hätte; wenn er verneinte, ging ich ein Stück weiter, bis zu einer Weggabelung, wo ich, um sie nicht zu verpassen, Halt machen musste. Ich wartete wieder, begann zu rufen. Wenn ich endlich im Dunkeln ihre Gestalt auftauchen sah, schwand die Beklemmung dahin und ich atmete auf.

 

Im Gegensatz zu Vater, der gewisse Besucher (besonders die vornehmeren und gut gekleideten) nicht leiden mochte, war sie ausgesprochen gastfreundlich, und zwar schätzte sie gerade die Gebildeten – einen bekannten Zürcher Professor, einen Zeitungsredaktor aus Bern, der hier mit der Familie Ferien verbrachte, ein Ehepaar aus Florenz –, Leute, die einen Hauch von Urbanität ins Haus brachten. Sie wusste sie würdig zu empfangen, bewirtete sie mit Kaffee und selbstgebackenen Kuchen, zeigte ihnen unsere Stube mit dem alten Nussbaumschrank, die grosse Bibel aus dem siebzehnten Jahrhundert, führte die Gäste sogar in den Stall. Sie sollten nur sehen, was es in ihrem Haus gab und worauf sie stolz war – ihre grossäugigen Kühe, die Kälblein, Ziegen und Schafe; vor allem auch die grosse Sau mit ihren zwölf oder vierzehn Ferkeln, die ihr besonders am Herzen lag. Sie betrat den Koben, streute frisches Stroh hinein, hob eines der noch frisch duftenden Schweinchen auf und zeigte es den Gästen, sagte ihnen, sie sollen es mit der Hand streicheln. «Das interessiert doch die Leute nicht!», meinte Vater. Er täuschte sich, es interessierte sie sogar sehr, nicht nur die rührenden Ferkel mit dem geringelten Schwanz, sondern der ganze Stall, der Geruch von Heu und Mist und tierischer Wärme – ein einfacher Stall wie zu Bethlehem, was sie noch nie im Leben gesehen hatten.

Einzig mit einer Besucherin (wir nannten sie Tante Didi) hatte auch sie Mühe, weil die Frau zu viel redete. Sonst eine liebe Person, eine gut aussehende Fünfzigerin mit lebendigem Gesicht und grossen braunen Augen, nur konnte sie einen mit ihrer Redseligkeit fertigmachen. Zuerst, wenn sie erschien, war man von ihr an­getan, sie hatte einen gewissen Charme. Man setzte sich zu Tisch, sie begann zu erzählen, und das konnte sie ausgezeichnet. Nur hörte es nie auf, es ging immer weiter, über die Mahlzeit hinaus, stundenlang, sie redete und redete, schilderte uns Leute, de­nen sie irgendwo in der Welt begegnet war, sie erzählte, was diese Leute ihr erzählt hatten, was ihnen widerfahren war, rüh­rende, lustige oder schreckliche Geschichten. Sie wusste noch alles bis in kleinste Details, hatte leider ein phänomenales Gedächtnis.

Man hoffte umsonst, dass sie gelegentlich alles gesagt hätte, denn der Vorrat war unerschöpflich. Ein lockeres Gespräch gab es nie. Wenn Adrian oder Vater einmal das Wort an sich rissen, um ihren Re­defluss zu stoppen, mimte sie Aufmerksamkeit, lächelte ins Leere, wobei man genau merkte, wie sich hinter ihrer konkaven Stirn eine neue Geschichte bereithielt und dann unweigerlich auch kam. Man war blockiert, ermüdet, und gegen Mitternacht glücklich, ins Bett zu gehen. Doch am nächsten Morgen ging es weiter.

Adrian, damals schon Student, behauptete, diese Redebesessenheit sei wahrscheinlich eine Form verdrängter Se­xu­a­lität. «Scha­de», sagte Mutter, «sie meint es sicher gut, aber ich habe einfach keine Zeit, ihr den ganzen Tag zu­zuhören.» Sie ging trotz allem ihrer Arbeit nach, spülte das Geschirr oder bereitete das Schweinefutter, während Didi neben ihr stand und redete. Wenn Mutter mit dem Schweinefutter in den Stall ging, kam sie mit und plauderte weiter, um die angefangene Geschichte nicht unterbrechen zu müssen.

Einmal hatte Mama genug, hörte ostentativ nicht mehr zu, liess die Erzählerin mitten in ihrer Geschichte stehen und ging hinaus. Später, als Didi wieder loslegte, sagte sie trocken: «Entschuldige, ich habe jetzt leider keine Zeit.» Abends bei Tisch merkten wir, dass etwas nicht mehr stimmte, Tante Didi schwieg, ging nach dem Essen gleich zu Bett. Tags darauf, als sie mit Mutter allein war, fragte

sie: «Was ist eigentlich los? Störe ich euch? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich wäre froh, wenn du es mir ganz offen erklärtest.»

«Es tut mir leid, Didi», sagte Mutter, «ich möchte dir nicht wehtun, aber du redest zu viel ... Es ist sicher interessant, was du sagst, aber du machst einen fertig. Es gibt auch keinen Dialog mit dir, du stellst kaum je eine Frage, du redest einfach drauflos. Im Grunde hast du dein Leben zerschwätzt ...»

Es half nichts, dass sie sich später entschuldigte. Noch am selben Tag packte die Besucherin ihre Koffer, kam damit die Treppe herunter, verabschiedete sich von Mutter im Hausgang. Sie umarmten sich flüchtig, beide mit nassen Augen. Ich begleitete die Frau mit ihrem Gepäck an den Bahnhof, wo sie mir etwas Geld zusteckte und mich bat, Mutter auszurichten, sie danke ihr für die Gastfreundschaft.

Später wurden zwischen ihr und Mutter trotz allem noch Kartengrüsse gewechselt. Freundschaft auf Distanz, doch sahen sie sich nie wieder.

Besondere Anteilnahme zeigte sie für Randexistenzen, für Ge­stran­dete oder Ausgestossene. Zum Beispiel für Veronica C., die sie wäh­rend ihres ersten Ehejahres in Sent kennen lernte, eine Frau, die dort als Hexe verschrien war, zwanzigstes Jahrhundert hin oder her. Na­türlich wurde Veronica nicht gefoltert und nicht verbrannt, das gab es zum Glück nicht mehr, aber sie war geächtet.

Die Frau hatte einfach Pech gehabt. Man suchte offenbar eine Hexe und man fand sie; drei oder vier zufällige Vorkommnisse ge­nüg­ten, zudem fand jemand auch, sie habe den bösen Blick: Ein Steuereinnehmer, der ihr in ihrer eigenen Stube ihr letztes Bargeld abgezwackt hatte, wobei es zu einem Streit gekommen war, glitt beim Verlassen des Hauses auf der Türschwelle aus, fiel hin und verrenkte sich den Fussknöchel. Einem Bauern, der mit einer Heuladung vom Feld kam, war das Fuder, auf dem er selber sass, unmittelbar vor Ve­ro­nicas Haus umgestürzt, und zwar gera­de, als Veronica zum Fenster herausschaute; er hatte sogar deutlich gehört, wie sie dabei lachte. Ein Kaminfeger, der ihren Stubenofen putzte, zog sich eine Gasvergiftung zu. Und zu guter Letzt, als Veronica im Spätherbst nach Italien verreist war, wo sie jeweils den Winter verbrachte, entdeckte jemand, dass zuhinterst in ihrem Hausflur ein kleines Licht brannte. Es brannte den ganzen Winter hindurch, doch kurz bevor Ve­ronica im folgenden Frühling wieder zurückkam, war es plötzlich erloschen. Jetzt schien alles klar. Man wich ihr aus, man grüsste sie kaum mehr.

Mein Vater, selber in Sent aufgewachsen, traute ihr auch nicht. Mutter fand das lächerlich, vor allem unmenschlich. Als sie eines Sonntags zum Gottesdienst ging, war die Kirche schon voll (das gab es damals noch), eine einzige Bank leer, und dort zuhinterst sass Veronica, allein. Es herrschte Stille, doch wie Mutter sich zu ihr setzte, ging durch den Raum ein Gemurmel. Jemand berührte von hinten ihre Schulter, flüsterte: «Hier wäre noch ein Platz frei.» Sie blieb sitzen, die Glocken verstummten, der Pfarrer erschien auf der Kanzel. Während der Predigt bemerkte sie immer wieder Leute, die sich nach ihr umwandten.

Ab und zu begegnete sie Veronica auf der Strasse, fand sie übrigens durchaus anständig, eine bleichgesichtige Frau mit dunklen Augen und einer sanften Stimme. Sie wirkte verunsichert, einmal sagte sie: «Ich weiss nicht, was die Leute gegen mich haben.» Es war schon viel, dass sie im Laden und beim Bäcker bedient wurde. Eines Tages sah sie Mutter mit ihrem Erstgeborenen, sie näherte sich, neigte sich über das Wägelchen, um das Kind zu sehen. Mutter nahm es her­aus und gab es ihr auf den Arm. Veronica war entzückt, drückte das Kind an sich, herzte es, gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Drei Frauen, die am Brunnen wuschen, hatten zugeschaut. Eine von ihnen traf abends meinen Vater und erzählte es ihm, aus Pflichtgefühl. Zu Hause gab es eine Szene. Ich stelle mir vor, wie er mit seiner Frau schimpft: Bist du eigentlich wahnsinnig? Wie kannst du so etwas tun – unser Kleines einer solchen Person in die Hände zu geben? Sie lacht ihn aus, ist zugleich empört: Mein Gott, was für ein Volk seid ihr hier! Man muss sich geradezu schämen, in einem solchen Dorf zu leben. Das ist noch Mittelalter, grotesker Aberglaube, und du selber bist ebenso abergläubisch wie die andern! Vater antwortet, das habe mit Aberglauben rein nichts zu tun, er wisse genau, dass mit der Person etwas nicht stimme – je­denfalls, wenn es alle sagen, müsse etwas daran sein. – Und du wärst wohl dafür, dass man die Frau verbrennt ...?

Vielleicht ihr erster Ehestreit, wegen einer armen Hexe. «Ich behaupte nicht, sie sei eine richtige Hexe», sagt er, «aber wenn nächs­tens mit dem Kleinen etwas passiert, dann wissen wir warum.»

Zum Glück passierte nichts. Einige Zeit danach bekam Vater eine andere Stelle, sie kehrten dorthin zurück, wo sie sich kennen gelernt hatten, das heisst nach Lavin, in Mutters Dorf, wo die Leute um einiges intelligenter und vernünftiger waren als die von Sent. Die von Sent, da bestand für Mutter kein Zweifel, hatten das Mittelalter noch nicht überwunden, lagen jedenfalls in ihrer Entwicklung mindestens ein Jahrhundert zurück.

Ich glaube nicht, dass sie der Frau je wieder begegnet ist. Später erfuhr sie, dass Veronica in Sent alles verkauft hatte und definitiv nach Italien gezogen war. Man erzählte auch, ihr Treuhänder habe lange suchen müssen, bis er für ihr Haus einen mutigen Käufer fand.

Grossvater Tumasch

Vor der Ankunft in Lavin kam immer jene lange Kurve, dann sah man auf einmal das Dorf. Ich bemerkte gerade noch, wie die Häuser schief auf uns zuschwebten, und schon musste man aussteigen. Wenn wir nach Lavin kamen, läuteten meistens die Glocken und man sah Leute zur Kirche gehen. Mutter kannte sie alle, blieb dann immer wieder stehen, um sie zu begrüssen. Ich hatte das nicht gern, mochte es auch nicht, wenn man mir das Haar streichelte und ich die Hand reichen musste. Doch als irgendwo der Pfarrer mit Frau und Töchtern daherkam, alle in Schwarz, zog mich Mama hinter eine Hausecke, und dort warteten wir, bis sie vorbei waren.

Ich kannte die steile Steintreppe, den Pfad, der zum Fluss hinunterführte. Hier die Holzbrücke, der Brunnen, der Garten mit dem Vogelbeerbaum und dem schiefen Zaun. Grossvaters Haus. Auch drinnen vernahm man noch den Fluss, doch nur mehr dumpf wie in einer Muschel. Ich sehe den Flur mit dem unebenen Boden, Gross­vater, der die Stalltreppe heraufsteigt, sein Gesicht, den Schnurrbart, die Fuhrmannsmütze. Ich wusste, wie er uns begrüssen würde, weil sich das immer wiederholte: «Sieh mal, wer da kommt.»

Einmal, kurz nach Grossmutters Tod, war bei unserer Ankunft noch alles geschlossen. Wir kletterten durch ein Scheunenfenster ins Haus. Drinnen herrschte Stille, Mama schien besorgt. Wir fanden ihn oben in einem Abstellraum, er schlief auf einer dunkelroten Couch, in den Kleidern, ohne Bettdecke. Mama berührte seine Schulter, wo­rauf er erschrak, sich aufrichtete und uns mit wirren Augen anstarrte.

Sie hatte ihm saubere Wäsche mitgebracht. Während er sich rasierte, bereitete sie das Frühstück. Die nicht sehr grosse Küche war dunkel, das Gewölbe schwarz vom Räuchern des Fleisches. Vier Eisenhaken an der Decke trugen zwei ­geschwärzte Holzlatten. Über dem Herd öffnete sich ein ­rie­siges Kaminloch, das sich nach oben verengte; zuoberst schimmerte etwas Licht. Bei offener Türe windete es in dieser Küche, und zwar kam der Wind vom Flur herein und drängte sich das Loch hinauf. Oft wehte es im Kamin, klagend, als wäre irgendwo ein Geist gefangen.

Ich schaute zu, wie Mama Feuer anmachte, verstand nicht, wie­so sie dabei feuchte Augen bekam. Sie sagte, an diesem Herd habe ihre eigene Mutter oft gestanden, die habe ein Leben lang den Wind gespürt und kalte Beine gehabt. Auch ich hatte sie noch vor diesem Herd gesehen, Kartoffeln oder Polenta röstend – in meiner Erinnerung ein schattenhaftes Wesen, dessen Gesicht, wenn sie sich bückte und Holz ins Feuer tat, sich rötlich färbte.

Das Haus war schon damals sehr alt, ein simples Bauernhaus ohne bestimmten Stil, ohne Symmetrie, aber nicht ohne Reiz. Küche und Vorratskammer, beide mit Gewölbe, waren durch eine dicke Mauer voneinander getrennt. Scheune, Stall und Wohnung befanden sich wie auch in andern Häusern unter demselben Dach; vom Flur gelangte man in den Stallvorraum hinunter, wo die Hühner neben dem Miststock hausten, von dort in den eigentlichen Stall. Tiere, Dünger, Heu und dürres Holz ergaben zusammen eine bestimmte Geruchsmischung, die einem beim Betreten des Hauses vertraut entgegenkam. Ich mochte diesen Geruch, ich mag ihn noch heute, etwas von ihm ist noch zurückgeblieben, auch wenn es unten seit langem weder Dünger noch Tiere gibt. Damals waren die Tiere noch da: ein paar Ziegen und Schafe, eine Kuh, in einem Verschlag ein Kälblein mit dunklen Augen und gekräuseltem Haar, in einer Ecke ein kolossaler Stier. Dann, unter einem fahlen Fenster, Nina, die dun­kle, nervöse Stute, von der in der Familie oft geredet wurde. Wenn man den Stall betrat, wieherte sie, begann oft zu trappeln. Sie sei nicht böse, sagte Mama, sondern nur scheu. Grossvater rief ihr etwas zu, dann beruhigte sie sich und schaute zurück, mit grossen Augen, die mir traurig schienen.

 

Aber oft bin ich nicht mehr sicher, ob all diese Tiere noch da waren, als Grossvater allein lebte, oder ob meine Erinnerungen an unsere Sonntagsbesuche sich mit früheren Erinnerungen vermengen, mit Dingen, die eben anfingen, im Gedächtnis haften zu bleiben – jenen frühen Bildern der Kindheit, die noch etwas Fragmentarisches haben, als hätte man sie nur geträumt. Ich bin mit Mutter und Gross­vater beim Frühstück, und dann sitzt, wie aus dem Nichts entstanden, ein italienischer Knecht mit uns am Tisch; er trinkt Kaffee und isst vom Schokoladekuchen, den Mutter mitgebracht hat. Sein Gesicht bleibt mir konturlos, aber ich höre seine Stimme. Er sagt mir, er werde mir eine kleine Sense beschaffen, damit ich ihm beim Mähen helfen kann.

Vom Flur gelangte man direkt in die Scheune. In der Mitte lag die Tenne, seitlich davon ein Heustock, der hoch hinaufreichte. Die zwei Holzböden oder Tennreiten über uns bedeckten nur die Hälfte des Raumes, die andere Hälfte war leer und luftig, man konnte auf Leitern und steilen Treppen bis zum Dach hinaufsteigen. Ich kletterte hinauf, Grossvater folgte mir, mich an der Hose festhaltend. Zuoberst erreichte man einen Estrich mit federndem Boden, durch eine Luke drang etwas Licht herein. Er hielt mich eine Weile empor: ich sah vor mir das steile Dach, den Kamin, aus dem ein ätzender Rauch kam. Unten die zum Ufer abfallende Wiese, einige Erlen, der Fluss.

Im ersten Stock des Hauses gab es ein verzaubertes Zimmer. Man nannte es die «Werkstatt», weil der Urgrossvater hier noch geschreinert hatte. Jetzt diente es als Abstellkammer, enthielt eine Fülle von Dingen – hölzerne Milcheimer, Rossgeschirre, Peitschen, Kuhglocken, Seile und Lederriemen. In einer Ecke fünf oder sechs Gewehre – Karabiner, Jagdstutzen, auch der Vorderlader, mit dem der Urgrossvater seine fünf Bären erlegt hatte. Dann ein paar Tierfallen, unter anderem ein sogenanntes Tellereisen; man konnte zwei von einer Feder zusammengehaltene Spangen auseinanderziehen, dann sah man ein paar spitze Zacken, die da­zu gedacht waren, das eingeklemmte Bein des gefangenen Tieres festzuhalten.

Am meisten fesselten mich die zahlreichen, an der De­cke hängenden Kuhglocken. Sie klangen hell oder dumpf, morsch oder blechern; wenn man die Latte schüttelte, an der sie hingen, tönte es wie eine ganze Herde. An der Wand, zwischen dürren Bündeln von Arnika und Wermut, hing ein farbiges Bild: Adam und Eva unter einem Apfelbaum, beide splitternackt; Adam lag bequem im Grase, wäh­rend Eva, vollbrüstig und heiter, ihm einen roten Apfel reichte; über ihnen wand sich eine Schlange um den Stamm. Ferner gab es in diesem Zaubergemach noch einen Stuhl, mit dem man Musik machen konnte; unter dem Sitz war eine Metalldose angebracht, man drehte einen Schlüssel herum, dann erklang ein Lied, es klimperte hurtig drauf­los, Grossvater trällerte mit: «Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ...»

Einmal, nach dem Mittagessen, stahl ich mich vom Tisch weg und ging in die Werkstatt hinauf. Ich weiss nicht, was mich mehr lockte – die Kuhglocken, die Musikdose oder die zwei nackten Menschen –, vielleicht alles zusammen, vielleicht auch der Geruch des Zimmers. Als man mich später suchte, gab ich keine Antwort. Ich hörte ihre Stimmen, merkte, wie sie das Haus verliessen. Vielleicht hatten sie Angst, ich sei zum Fluss hinuntergegangen. In einem Bodenbrett gab es ein Loch von der Grösse eines Fünffrankenstückes; ich legte mich auf den Bauch und spähte einäugig hinunter; man sah den Flur, Mama und Grossvater, wie sie aufgeregt ins Haus hereinkamen. Wieder rief man meinen Namen. Ich verhielt mich mäus­chenstill, doch als ich hörte, dass sie die Treppe heraufeilten, pisste ich in die Hosen.

Es war übrigens nicht das einzige Mal, dass ich in der Werkstatt pisste: Etliche Jahre später, als wir selber hier wohnten, schlief ich in diesem selben Zimmer, zusammen mit meinem um vier Jahre älteren Bruder Thom. Unsere Schwester hatte hier ihre Spielzeuge, unter anderem eine Kartonschachtel mit zierlichem Küchengeschirr. Manchmal nachts, wenn es uns drängte und wir den um­ständlichen Weg bis zur Toilette (das heisst bis in den Stall) scheuten, benützten wir jeweils ihre hübschen Küchengefässe als Nachthafen, Milch- und Kaffeekrüge, Kochtöpfe, sogar die klei­neren Tassen, bis sie im Lauf der Nächte voll waren. Wir achteten immer darauf, die als Kü­chenbüffet gestaltete Kartonschachtel jedes Mal sorgfältig zu verschliessen, dachten aber kaum mehr daran, unsere brüderliche Bescherung jeweils am nächsten Tag zu entsorgen. Offenkundig wurde die Sache erst später, als die Schwester an ihrem Geburtstag ein paar Freundinnen eingeladen hatte und ihnen ihr Küchengeschirr zeigen wollte.

Grossvater hatte mit zweiundzwanzig Jahren geheiratet. Statt aber bei seiner jungen Gattin zu bleiben und sich den Schafen und Kü­hen zu widmen, emigrierte er auf Beschluss eines Familienrates nach Italien. In La Spezia gab es einen Kolonialwarenladen, an dem seine Eltern beteiligt waren. Er sollte dort eine kaufmännische Lehre absolvieren, um vielleicht später einmal, wenn alles gut ging, die Leitung des Geschäftes zu übernehmen. Simeon, der älteste Bruder, der sich dort vielversprechend bewährt hatte, war plötzlich an einer Grippe oder an deren ärztlicher Behandlung ge­stor­ben; Peider, ein anderer Bruder, Simeons Nachfolger im La­den, hatte eine Sardin aus Sassari geheiratet und war seither spurlos verschwunden. Nachforschungen blieben erfolglos. Duosch endlich, der zweitjüngste Bruder, war nach Frankreich gezogen und ebenfalls verschollen; es wurde erzählt, er habe sich in einem öffentlichen Park von Paris erschossen und sei dann, als eine Art Inconnu du Luxembourg, auf ei­nem der riesigen Pariser Friedhöfe begraben worden – wo genau konnte später nie ermittelt werden, vermutlich weil sich die französische Polizei um den Fremden foutierte. Es gab noch drei Schwestern, doch die hatten zu Hause zu bleiben, darüber wurde nicht einmal diskutiert. Je­mand musste aber in La Spezia sein, wenn man von den Mitteilhabern des Ladens nicht übervorteilt werden wollte. So blieb keine Wahl, und Grossvater zog als letzte Geschäftshoffnung nach Sü­den.

Ich sage noch immer «Grossvater», obwohl er damals noch ein junger Mann war, frisch verheiratet, noch nicht einmal Vater, sein ers­ter Sohn erst noch unterwegs, während er sich an der Riviera als Kaufmann versuchte ...

Ein gutes Jahr später war er wieder zu Hause. Ich weiss nicht warum, ob man ihn vielleicht im Laden nicht brauchen konnte – Zahlen interessierten ihn nicht, im Rechnen war und blieb er eine Null – oder ob ihm ganz einfach Italien nicht gefiel. Vielleicht war es auch wegen der jungen Gattin, die vor Heimweh starb und ihm endlich den Sohn zeigen wollte, den sie unterdessen zur Welt ge­bracht hatte. Sie war ei­ne geborene Bonorand, auch ihre Familie besass ein blü­hen­des Auslandgeschäft, in Leipzig, allerdings keinen Laden, son­dern eine Gaststätte, das sogenannte «Bono­rand­sche Ka­f­feehaus».

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