Die Geschichte Karthagos

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Die Geschichte Karthagos
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Hannibal Minor

Die Geschichte Karthagos

Im Nachlass von Kapitän Stig Bastrup entdeckt

von Archivar Dr. John Jensen

(Reederei Gravesen).

Aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen und

eingeleitet von Dr. Åke Jensen und Dr. Dr. Leif Sørensen

(Universität Sakskøbing).

Herausgegeben, kommentiert und

mit einem Nachwort versehen

von Olde Hansen.

Mit 5 digitalen Skizzen von Olde Hansen.

Gefördert durch Sjællands Købmænd Forbund

(Vereinigung der Seeländischen Kaufleute).



Hamburg, Berlin 2020


Bei dem vorliegenden eBook handelt es sich um eine inhaltlich unveränderte Wiedergabe der Print-Ausgabe aus 2018.


Texte und Umschlaggestaltung: © by Olde Hansen

Veröffentlichung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Verlag: Olde Hansen, Leibnizstr. 87, 10625 Berlin

Der Löwin und dem großen Hannibal



Die Entdeckung der „Geschichte Karthagos von Hannibal Minor“

Vorwort von Dr. Åke Jensen und Dr. Dr. Leif Sørensen

Als sich vor einem Jahr der Archivar der Gravesen-Reederei Dr. John Jensen beim Altertumswissenschaftlichen Institut der Universität Sakskøbing meldete, weil er eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht haben wollte, war für niemanden abzusehen, dass dies tatsächlich zutreffen würde.

Es kommt nicht selten vor, dass sich Firmen oder Privatpersonen an die Wissenschaft wenden, weil sie in ihrem Umfeld auf etwas Unerwartetes oder Unerklärliches gestoßen sind. Dabei geht es zumeist um die Beobachtung eines seltenen Wetterphänomens, eine vermeintlich neu entdeckte Spezies im eigenen Garten, eine geheimnisvolle, meist aber nur unleserliche „Flaschenpost“ aus dem letzten Urlaub oder einfach um alte und oft alltägliche Münzen aus dem Nachlass der Großeltern.

Bei der Entdeckung in der Gravesen-Reederei war es anders. Es ging um ein Bündel eng beschriebener Papyrusrollen aus einer vergessenen Holzkiste. Die Kiste war „anlässlich einer ordnungsamtlichen Begehung und anschließender brandschutzrechtlicher Bedenken“, wie Dr. Jensen uns etwas zerknirscht mitteilte, aus den Kellergewölben der alten Schifffahrtsgesellschaft ans Tageslicht gekommen. Die Recherchen des Archivars ergaben, dass es sich bei dem alten Gegenstand um die Seekiste des Kapitäns Stig Bastrup (1766 - 1812) handelt, jenem universellen Möbel- und Gepäckstück der Seefahrer, das auf keiner Reise fehlen durfte.

Weiter stellte sich heraus, dass Kapitän Bastrup Ende des 18. Jahrhunderts im Tross der napoleonischen Expedition ein Versorgungsschiff nach Ägypten geführt hatte. Nach den Akten der Reederei blieb Bastrup für ein halbes Jahr in Ägypten, ehe er auf Wunsch der französischen Marine nach Hause geschickt wurde. Ein im Übrigen unbekannter Inspektor Dreyfuss bemängelte im Demissionsschreiben Insubordination der Unternehmung, private Handelsgeschäfte und Trunksucht des Kapitäns.

Auf den Papyrusrollen hatte Archivar Dr. Jensen Schriftzeichen entdeckt, die er dem lateinischen Alphabet zuordnete; darüber hinaus bat er schließlich um Hilfe durch das Altertumswissenschaftliche Institut der Universität Sakskøbing. Die Vermutung von Dr. Jensen stellte sich als richtig heraus. Die zwölf Rollen waren in lateinischer Schrift und Sprache beschrieben, nach den ersten Worten des Schriftsatzes handelte es sich um die „Geschichte Karthagos von Hannibal dem Kleinen“ (Hannibal Minor).

Dadurch neugierig geworden, begannen wir die Papyrusrollen vorsichtig zu öffnen, im Labor abzulichten und einer ersten Untersuchung zu unterziehen. Und tatsächlich: Wir entzifferten eine kleine Geschichte der alten Großmacht Karthago. Glaubt man dem Text, so entstand sie um 100 v. Chr., verfasst durch einen Sohn zweier Überlebender der Zerstörung der Stadt Karthago im Jahr 146 v. Chr.

Das Latein wirkt merkwürdig auf uns, vor allem im ersten Teil seltsam bemüht und steif, womöglich durch einen Nicht-Muttersprachler verfasst. Manche Abweichungen vom klassischen Latein Ciceros und Caesars erinnern uns entfernt an den lautmalerischen „Dialekt“, den Plautus um 150 v. Chr. seinem „Poenulus“, dem karthagischen Gemischtwarenhändler in Rom, in den Mund gelegt hatte. Der Inhalt entspricht dem, was die ersten Worte ankündigten: Es handelt sich um eine leidenschaftlich vorgetragene Geschichte des alten Karthagos. Die Schrift erscheint demgegenüber routiniert, wenig fehlerbehaftet, wir möchten eine Kopie durch einen professionellen Schreiber vermuten.

Nach diesen ersten vielversprechenden Eindrücken erklärte sich die Reederei Gravesen bereit, eine erste chemische und radiologische Untersuchung in den Laboren der Universität zu finanzieren. Parallel dazu zogen wir unseren alten deutschen Freund Olde Hansen hinzu und bemühten uns um eine erste Übersetzung. Leif besorgte die Transkription der Schriftzeichen in eine allgemein lesbare Schrift, Åke bemühte sich um eine ebenso lesbare Übersetzung, während Olde mit seinen Kenntnissen über die Geschichte Karthagos beratend zur Seite stand.

Noch während der gemeinsamen Arbeit am Text erreichten uns die Ergebnisse der Laboruntersuchungen der alten Papyri: Die Radiocarbon-Messungen ergeben ein Alter von mindestens 2000 Jahren, der Ruß in der verwendeten Tinte deutet auf eine Entstehung des Textes im heutigen Spanien hin. Insgesamt halten wir den Text also für „echt“, formal und inhaltlich ist er anscheinend das, was er sein will: Die „Geschichte Karthagos von Hannibal dem Kleinen“ aus dem Jahr 100 v. Chr.

Gleichwohl: Eine Auswertung der Schrift nach wissenschaftlichen Standards erfordert weitere Überlegungen und Untersuchungen. Wer war Hannibal Minor? Ist er wirklich der Nachkomme karthagischer Flüchtlinge, als der er sich ausgibt? Ging es ihm wirklich nur darum, wie er schreibt, die Geschichte seiner Vorfahren nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? Hat er noch andere Werke verfasst? Haben sein Leben oder seine gerade neu entdeckte Schrift womöglich Spuren in anderen antiken Quellen hinterlassen?

Weiterhin ist für jede einzelne Epoche der karthagischen Geschichte, über die Hannibal Minor schreibt, zu prüfen, woher unser Autor seine Informationen aus den längst vergangenen Zeiten überhaupt hatte. Nur so kann eingeschätzt werden, wie glaubwürdig der Text ist. Sämtliche Aussagen und Argumentationen sind auf ihre innere Plausibilität hin zu untersuchen und mit dem bereits heute vorhandenen Wissen abzugleichen. Abweichungen, Widersprüche und auch Lücken müssen detektivisch aufgespürt und ausgewertet werden.

Ebenso sollte versucht werden, den Aktivitäten Kapitän Bastrups, des ersten „Entdeckers“ der Papyrusrollen, nachzugehen. Die wenigen Informationen, die uns zurzeit vorliegen, deuten eine schillernde Biographie eines umtriebigen „Lebemannes“ an. Vielleicht finden sich in seinem Umfeld, seinem „Netzwerk“ in Ägypten, in seiner Familie oder in den Akten der napoleonischen Marine weitere Hinweise auf Hannibal Minor oder weitere Fundstücke, die die Wissenschaft interessieren könnten?

Für all diese Vorhaben sind weitere Experten, weitere finanzielle Mittel und mehr Zeit nötig. Ressourcen, die weder die Universität Sakskøbing noch die Reederei Gravesen zur Verfügung stellen können. Wir haben die Angelegenheit deshalb an das Königliche-Archäologische Institut in Kopenhagen abgegeben. Die „Vereinigung der Seeländischen Kaufleute“ wird auf Vermittlung der Reederei Gravesen einen anteiligen Beitrag zur weiteren Erforschung des Textes bereitstellen.

Davon unabhängig haben wir es uns jedoch erlaubt, eine erste Übersetzung des Textes zu veröffentlichen. Denn immerhin verspricht der Fund des Archivars Dr. Jensen eine kleine wissenschaftliche Sensation zu werden, die zudem nicht wenige Menschen auch außerhalb der Universitäten und Akademien interessieren dürfte.

Für die erste Ausgabe haben wir die deutsche Sprache gewählt. Deutschland verfügt über eine lange althistorische Tradition und in den Altertumswissenschaften ist das Deutsche noch immer eine Wissenschaftssprache. So soll bereits heute auch eine breitere Öffentlichkeit an der „Geschichte Karthagos“ des Hannibal Minor teilhaben können. Eine Übersetzung ins Dänische folgt im kommenden Frühjahr in der Festschrift, die anlässlich des 300-jährigen Jubiläums der Universität Sakskøbing erscheinen wird.

Der Text wurde von Olde Hansen kommentiert. Die Kommentare sollen die Geschichte Hannibal Minors mit Hilfe weiterer historischer und archäologischer Quellen erläutern und helfen, sie sowohl in die karthagische Geschichte als auch die antike Weltgeschichte einzuordnen. Neben der Datierung der von Hannibal beschriebenen Ereignisse wird (soweit vorhanden) auf die wichtigste Parallelüberlieferung durch bereits bekannte antike Autoren, die Ergebnisse archäologischer Untersuchungen und (soweit sinnvoll) einzelne Forschungsarbeiten hingewiesen.

Angesichts der auch für Fachleute unübersichtlichen Quellenlage und der Masse an Forschungsliteratur kann ein solcher Kommentar nur unvollständig bleiben und lediglich dem Zweck dienen, dem neugierigen Leser einen tieferen Einstieg in die Materie zu ermöglichen. Eine wohl tatsächlich vollständige Aufstellung aller bekannten antiken Texte und der älteren Forschungsliteratur zum Thema Karthago findet sich, nach Themen gruppiert, im „Handbuch der Altertumswissenschaft. Band 8, Geschichte der Karthager“ aus dem Jahre 1985 von Werner Huß. Klaus Geus hat darüber hinaus 1994 alle literarischen Belege für die heute bekannten, etwa 200, Karthager zusammengestellt.

 

Für die früheren Jahre Karthagos kann hier auch auf Walter Amelings „Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft“ von 1993 verwiesen werden, für die Zeit der Römischen Kriege auf die kürzlich erschienene Studie „Roms Aufstieg zur Weltmacht“ von Gunnar Manz. Das zweibändige Werk von Jakob Seibert über den wohl berühmtesten Karthager, den Feldherren und Politiker Hannibal aus dem Jahre 1993 ist zwar thematisch enger gefasst, beschreibt jedoch zusätzlich und akribisch die wissenschaftlichen Diskussionen, die nicht selten auch die gesamte karthagische Geschichte betreffen. Ebenso gewissenhaft hat Hans Meier-Welcker 1979 ein gehaltvolles Heftchen über die Kriege der Karthager auf Sizilien verfasst. Wer sich vor allem ein Bild von Karthago und seiner Kultur machen möchte, dem seien die farbenfrohen Bände des tunesischen Wissenschaftlers M'Hamed Hassine Fantar empfohlen.

Im Bereich der Archäologie fehlen vergleichbare Zusammenstellungen. Hier ergibt erst die Summe der Erkenntnisse, beispielsweise aus den hier ausgewerteten Überblickswerken von Gilbert Charles-Picard, Serge Lancel, Friedrich Rakob, Hans-Georg Niemeyer, Richard Miles und Roald Docter ein annähernd vollständiges Bild des heute bekannten archäologischen Wissens über das alte Karthago. Bei der Lektüre ist jedoch stets zu beachten, dass neuere Arbeiten – anders als bei rein historischen Arbeiten – in der Regel die älteren „ausstechen“.

Dass die Beschäftigung mit der Antike auch heute gewinnbringend ist, haben zu Beginn des neuen Jahrtausends Peter Bender, Altay Coşkun und Manuel Tröster gezeigt, indem sie die US-amerikanische Außenpolitik in Auseinandersetzung mit den Römisch-Karthagischen Kriegen untersuchten. Dabei prophezeiten sie den gegenwärtigen USA aus der Römischen Geschichte heraus eine innenpolitische Krise, wie sie mit der Wahl Donald Trumps (als populistischem Wiedergänger des Popularen Tiberius Gracchus) zum Präsidenten auch tatsächlich eintraf. Ebenso beeindruckend kann es sein, sich wie Martina Trapp den Wandel des Bildes von Karthago, das sich die altertumswissenschaftliche Forschung seit rund 200 Jahren immer wieder neu macht (und in die Schulbücher oder die Kunst einfließen lässt), vor Augen zu führen. Karthago war offenbar für viele Historiker immer auch eine Spielwiese, die je nach Zeitgeist und eigenen Vorlieben neu gestaltet wurde.

Nicht zuletzt aus diesem Grund freuen wir uns über ein Nachwort unseres Freundes Olde. Er wird einen ersten Versuch wagen, sich einigen der oben aufgeworfenen Fragen der Wissenschaft zu stellen und eine ebenso sachkundige wie beherzte historische Bewertung des Textes vorzunehmen.

Und nun wünschen wir viel Freude beim Entdecken der einzigartigen Welt des alten Karthagos und des Hannibal Minor!

Die Geschichte Karthagos von Hannibal Minor

I. Vorworte

II. Das purpurne Zeitalter

III. Mauern aus Stein

IV. Karthago und die Welt

V. Wendejahre

VI.Das Eiserne Zeitalter

VII. Rom

VIII. Iberien

IX. Hannibal

X. Die letzte Blüte

XI. Der Untergang

XII. Die Flucht auf den Byrsa-Hügel

I. Vorworte

(1) Dies ist die Geschichte Karthagos von Hannibal dem Kleinen von Portus Magonis1, Sohn der Bilmit und des Adherbal von Karthago. Ich schreibe diese Worte im vierzigsten Jahr nach der Zerstörung der Stadt2. Die Geschichte Karthagos soll nicht verschwinden wie ihre Bewohner, Schiffe, Mauern, Manufakturen und Lagerhäuser.

(2) Als die Stadt meiner Eltern in den Flammen des Scipio3 unterging, war ich selber noch nicht geboren. Meine Familie war im vorletzten Jahr der Stadt, als die Lage immer aussichtsloser wurde, auf die balearischen Inseln geflohen. Dort hatten viele der letzten Karthager eine neue Heimat gefunden. Und hier, in der Stadt des Mago, hatten meine Eltern Freunde und Verwandte, die Herren der Stadt gaben uns Gastfreundschaft, nahmen unsere Steuern und gewährten uns schließlich die Bürgerrechte.

(3) Wie zu allen Zeiten bewirtschaften auch die letzten Karthager und ihre Kinder Ländereien, gehen dem Handwerk nach und befahren das Meer, nach Mauretanien und Numidien (wohin sich ebenfalls viele Bewohner der Stadt zurückgezogen hatten), zu den Säulen des Herakles und den nördlichen Zinninseln, tauschen Waren mit den Bewohnern Iberiens und Galliens4. Die letzten Überlebenden der Belagerung durch den jungen Scipio sind vor mehreren Jahren verstorben. Wir Nachkommen sind heute aber keine Karthager mehr. Manchmal nennt man uns die „Enkel Elyssas“5 nach der Gründerin Karthagos, doch wir haben uns längst unter die Einheimischen gemischt, vermählt mit Balearen, Iberern und Galliern. Unsere Sprache wird fast nur noch in Numidien und Tyros gesprochen.

(4) Die Geschichte des früher so großen Karthagos ist heute den Geschichtsschreibern der Römer und Hellenen, die nur all zu oft Feinde der Karthager waren, ausgeliefert6. Vor zehn Jahren habe ich deshalb beschlossen, die Erinnerungen und Geschichten der Alten, ihr Wissen und ihre Legenden, so wie sie sie mir hier erzählten, zu sammeln. Von meiner Frau erhielt ich eine Auswahl der Reden von Karthagos berühmtem Rat Merhabal, die ihre Mutter für die Ausbildung der ihr anvertrauten jungen Söhne der Stadt genutzt hatte. Einem Geschäftsfreund aus Utica verdanke ich zahlreiche Einsichten in das Werk des Mommbaal; er hatte es in seiner Jugend intensiv studiert, ehe es in den Feuern Roms verbrannte. Ich habe alle diese Geschichten aus und über Karthago für mich zusammengefasst, nach Themen und Zeitaltern sortiert, untereinander abgeglichen und mir so die lange Geschichte meiner Vorfahren angeeignet. Schließlich habe ich meine Geschäfte an meine Kinder übergeben, mache nun selber Geschichte und schreibe eben diese Worte.

1Das heutige Mahón, die Hauptstadt der Baleareninsel Menorca. Über die Person Hannibal Minor ist, wie über seine Eltern, bislang nichts Weiteres bekannt. S. Geus, Prosopographie unter "Adherbal" u. „Hannibal“, "Bilmit" wird nicht gelistet.

2Ca. 106 v. Chr., Karthago wurde 146 v. Chr. am Ende des Dritten Römisch-Karthagischen Krieges zerstört.

3Publius Cornelius Scipio Aemilianus (185 - 129 v. Chr.), der Be­fehlshaber der römischen Truppen im Jahr des Untergang Kar­thagos. S. a. u. Anm. 162.

4Mauretanien und Numidien: Nordwestafrika und das Gebiet des heutigen Tunesiens, die Säulen des Herakles: antike Bezeich­nung für die Meerenge von Gibraltar, die nördlichen Zinninseln: gemeint sind die heutigen britischen Inseln, Iberien und Gallien: die Gebiete der heutigen Staaten Spanien und Frankreich.

5Elyssa ist ein anderer Name für Dido, die (legendäre) Gründerin von Karthago. S. a. u. HM 2, 10.

6Bis zur Zerstörung Karthagos gab es eine eigene karthagische Geschichtsschreibung, s. Pol. 3, 20. So ließ sich Hannibal nach Nep. Hann. 13, 3 auf seinem großen Feldzug von den Histori­kern Sosylos und Silenos begleiten und porträtieren. Plin. n. h. 18, 5f. berichtet von karthagischen Archiven und Bibliotheken. HM selber erwähnt hier und 4, 44; 6, 75; 9, 107 u. 10, 108 den Historiker Mommbaal und den Redner und Rat Merhabal, der offenbar regelmäßig zur (Zeit)Geschichte Stellung nahm, s. a. HM 5, 55 u. 6, 75. Beide sind bei Geus, Prosopographie unbekannt. Von den Karthago-feindlich gesinnten Historikern, die HM anspricht, sind heute auf griechischer Seite v.a. Timaios, auf römischer Seite Fabius Pictor bekannt.

II. Das purpurne Zeitalter

(5) Die ältesten Erinnerungen an meine Vorfahren reichen in die „purpurnen Zeiten“ zurück, als sie durch den Handel mit der purpurroten Wolle bekannt wurden. „Die Purpurnen“, „Phönizier“ oder auch „Punier“ wurden sie denn auch in der Welt genannt7. Selber benannten sie sich nach ihren jeweiligen Heimatstädten: Sidoner, Tyrer, Byblier usw. Anders als die Ägypter, die Hellenen unter ihrem großen König Agamemnon, die Trojaner, die Hatti8 und die vielen anderen Gemeinwesen, die früher große und mächtige Reiche gebildet hatten, lebten meine Vorfahren in freien, unabhängigen Städten. Allein durch die gemeinsame Sprache, gemeinsame Handelsfahrten, zahlreiche Eheschließungen und ähnliche Lebenseinstellungen verbunden.

(6) Als vor vierzig Generationen9 diese Welt der alten Reiche, wie sie Jahrhunderte um die tyrischen Küsten herum Bestand hatte, Stück für Stück zusammenbrach, kam die große Stunde meiner Vorfahren10. Das Meer war jetzt gänzlich frei von fremden Schiffen, die Landschaften der alten Reiche verarmt, selbst Ägypten hatte viel von seinem alten Glanz verloren. Nur die Tyrer und ihre Nachbarn waren verschont geblieben vom großen Brand der Welt. Sie befuhren jetzt ungehindert das Meer11 bis an die Säulen des Herakles und brachten bald viel mehr als nur Purpur vom einen Ende der Welt ans andere12. Wertvolle Hölzer, Eisenerze, hochwertiges Leder, edler Schmuck und scharfe Klingen kamen dazu und waren ebenso beliebte Waren13.

(7) Vor allem an den Küsten errichteten die Alten nun kleine Stützpunkte mit kleinen Häfen, Werkstätten und Lagergebäuden. Sie schmolzen das Eisen aus dem Gestein, kultivierten das Land herum und hielten Markt. Hinzu kamen Manufakturen: Die Kaufleute hatten nämlich die Erfahrung gemacht, dass sich hochwertige Materialien und fertig hergestellte Produkte besser vermarkten ließen, als das unbehandelte Holz oder die rohen Metallerze. Zudem war es ertragreicher, wenn die Ware selbst verarbeitet wurde14.

(8) Einige Kaufleute, Handwerker und ihre Familien blieben nun dauerhaft der Heimat fern. An besonderen, von der Natur begünstigten Orten, waren ganze Städte neu gegründet worden15. Meist lagen sie wie Tyros auf einer der Küste vorgelagerten Insel oder Halbinsel16. Von den eigenen Schiffen waren sie leicht anzusteuern und in der Not gut gegen Piraten zu verteidigen. Mit den Einheimischen aus dem Umland gab es selten Probleme, die meisten waren froh über die Waren, die meine Vorfahren heranschifften oder vor Ort herstellten17. Die Schätze Libyens, Numidiens, Siziliens, Mauretaniens und Iberiens waren durch die Schiffe aus den tyrischen Landen nun überall erhältlich.

(9) In manchen Gegenden wurden meine Ahnen auch so etwas wie die Ausbilder und Zieheltern der umliegenden Städte und Stämme. Vor allem die Erben des Königs Agamemnon, die hellenisch sprechenden Bewohner der östlichen Inseln, die nach dem Zusammenbruch ihres Reiches nur noch ein Schatten ihrer selbst waren, nahmen sich ein Beispiel an den Händlern und Handwerkern aus Phönizien. Sie eigneten sich deren Buchstaben und Zeichen an, denn die eigene Schrift hatten sie zusammen mit ihren Königen verloren. Wissbegierig erlernten sie auch die Kunst der Verarbeitung von Eisen und des Schiffbaus. Und an vielen Orten begründeten sie kleine Gemeinwesen mit eigener Verfassung und einer Stadt als Zentrum, wie es meine Vorväter seit Generationen taten18.

(10) In diesen Jahren des Aufbruchs19 wurde auch Karthago gegründet. Einige der großen Familien aus Tyros hatten die einzigartige Lage, unweit Siziliens, auf halbem Weg nach Iberien an der Küste Numidiens, auf einer Landzunge inmitten einer Bucht, erkannt. Zwar gab es mit Utica bereits eine etwas ältere Siedlung in der Nähe, doch hatte sich der dortige Hafen auch für tyrische Seeleute als nur umständlich zugänglich erwiesen. Also wurde eine Expedition ausgeschickt. Den Erzählungen der Alten nach wurde sie von Sychea und seiner Frau Elyssa aus dem tyrischen Königshaus geleitet20.

 

(11) Die Numider überließen den jungen Siedlern großzügig so viel Land, wie sie mit einer ledernen Schnur aus einer Kuhhaut umspannen konnten. Dieser erste Flecken karthagischen Landes umfasste damals den Hang des Byrsa-Hügels21 mit dem Ausblick auf die Krone des Herakles, die Zwillingsberge22 mit ihrem uralten Heiligtum und das spätere Hafenareal. Aus Utica kamen Gesandte und versprachen den Siedlern praktische Hilfe in allen Dingen. Im Gegenzug sollten die Neuankömmlinge auch auf numidischem Boden regelmäßig Markt halten und ihren Hafen für die Kaufleute aus Utica öffnen.

(12) Nur kurze Zeit später verstarb Sychea gerade als er dem Flecken Land, der „Neuen Stadt“, wie er ihn nannte, eine Verfassung gegeben hatte23. Nun verblieb es allein an Elyssa, diese neue Stadt, das später so große Karthago, zu erbauen.

(13) Ihrem Mann zu Ehren entwarf sie von Anfang an eine großartige Stadt; mehrfach liefen die allerersten Straßen um den Byrsa-Hügel, ehe sie parallel zur Küste für die Häfen das Land erschlossen24. Das Umland ließ sie zur Freude der Einheimischen kultivieren und bewässern. Man freundete sich mit den Siedlern an, diese gaben weiteres Land zur Besiedlung frei und brachten aus dem Binnenland Waren auf den neuen karthagischen Markt25. In wenigen Jahren hatten schließlich 2.000 Tyrer eine neue Heimat in Karthago gefunden, weitere 5.000 Menschen strömten in nur fünf Jahren26, zumeist aus Numidien, in die „Neue Stadt“. Karthago war eine Erfolgsgeschichte27!

(14) Im römischen Senat wurde später, nachdem man die Kriege gegen Karthago geführt hatte, eine seltsame Variante über die karthagischen Gründerjahre verbreitet. So sollte Elyssa nach dem Tod ihres Mannes einem umherirrenden Flüchtling aus Troja verfallen sein, der sie wieder verließ, um danach in Latium die Stadt Rom zu gründen. Aus Liebeskummer habe sie daraufhin alle Römer verflucht und sich selbst das Leben genommen28.

(15) Nun ist diese Geschichte nicht nur für den Kenner der alten Zeiten leicht als ungeschickte historische Fälschung zu erkennen, mit der in Rom die eigene Stadt wohl als ebenso traditionsreich wie Karthago dargestellt werden sollte. Schließlich wurde Rom erst zwei lange Generationen nach Karthago gegründet29 und blieb über ganze Zeitalter eine kleine unbedeutende Ansammlung von Holzhütten. Und mit den alten Trojanern30 in Italien sollte Karthago keine kurze Liebschaft, sondern eine lange andauernde, ertragreiche Partnerschaft verbinden. An Feindschaften oder sogar Flüchen hatten die nüchternen und beherrschten karthagischen Kaufleute und Politiker zudem noch nie Interesse gehabt. Es scheint mir, als sollten mit dieser Geschichte einer erfundenen Erbfeindschaft nur die späteren Kriege des römischen Senats gegen die Stadt meiner Vorväter gerechtfertigt werden.

(16) In Wahrheit war Elyssa ein langes, erfülltes Leben beschieden. Als sie sich in hohem Alter von Krankheit und Schmerzen befreite und das Leben nahm, war dies auch keine Verzweiflungstat, wie in der römischen Erzählung. Ihren Freitod wollte sie als Opfer für ihre Stadt verstanden wissen. Auf dem Byrsa-Hügel, unter dem niedergebrannten großen Tempel, liegen bis heute ihre Gebeine.

7Der Name "Phönizier" entstammt dem griechischen Sprachraum, s. bspwse. Hom. Od. 14, 288ff. oder Hdt. 1, 1. Aus dem Alten Testament ist auch die Bezeichnung „Kanaaniter“ bekannt (1Mos. 10, 15 - 19), die auch allgemein für Kaufleute verwendet werden konnte (Spr. 31, 24).

8Gemeint ist das hethitische Reich im Gebiet der heutigen Türkei (ca. 1600 - 1190 v. Chr.)

9HM scheint, das legen überschlägige „Hochrechnungen“ (v. a. aufgrund der Zahlenangaben HM 5, 46) nahe, für eine Generation ca. 25 Jahre zu berechnen.

10Ca. 1180 v. Chr. Hier sind offenbar die Ereignisse zum Ende der Bronzezeit gemeint, die früher gerne mit dem „Seevölkersturm“ umschrieben wurden und zum Zusammenbruch des damaligen Staatensystems führten. Vgl. Sommer, Europas Ahnen, S. 91f. u. Cline, 1177, S. 226 u. 250f.

11Hdt. 1, 1 beschreibt eine kleine Szene aus dem Alltag der Handelsreisenden: „Und als die Phoiniker in Argos angekommen, hätten sie ihre Waren feilgeboten. Am fünften oder sechsten Tag nach ihrer Ankunft, als sie schon fast alles verkauft, sei mit vielen anderen Frauen auch die Königstochter ans Gestade gekommen. […] Die Frauen hätten am Heck des Schiffes gestanden und von den Waren gekauft, wonach sie am meisten verlangten“. Abenteuerlicher wurde es, wenn Käufer und Verkäufer keine gemeinsame Sprache sprachen und nicht einmal kannten, s. Hdt. 4, 196 (u. im Epilog).

12Die bislang bekannte Überlieferung vermittelt einen guten Eindruck vom geographischen Ausmaß des phönizischen Handels: Hom. bezeugt die Anwesenheit der Phönizier in Griechenland (Il. 6, 288; 23, 741; Od. 13, 272), Hdt. den Handel mit Assyrien (1, 1), Ägypten (3, 6), Arabien und Libyen (4, 42) sowie Bergwerke auf Thasos (6, 46). Das Alte Testament erwähnt 1Reg. 10, 22 Schiffe, die aus Spanien zurück kamen, Ez. 27, 12 Verbindungen nach Mesopotamien und Arabien, Jes. 23, 1f., Handel mit Ägypten, Spanien, Zypern und den Inseln (der Ägäis). Thuk. berichtet 6, 2, 6 von Handel rund um Sizilien, Diod. erwähnt 5, 35 phönizische Orte in Libyen, Sardinien und Spanien. Strab. 5, 225 weiß von Phöniziern auf Sardinien, Plin. n. h. 5, 17, 7; 19, 22 u. Vell. Pat. 1, 2, 3 berichten von Städtegründungen in Afrika und an der Atlantikküste Spaniens und Afrikas.

13In Bezug auf die Handelsware der Phönizier werden in den bisher bekannten antiken Schriftquellen v. a. hochwertige Rohstoffe und Produkte betont: Hom. Il. 6, 288; 23, 741; Od. 4, 612; 1Reg. 5, 20ff. u.10, 11 u. 22; Ez. 27, 12 ; Diod. 5, 35. Dazu passt der durch Handel erlangte und Diod. 16, 41 bezeugte Reichtum der Stadt Sidon. Hdt. 3, 6 erwähnt allerdings auch gewöhnlichere Waren wie Wein und Tongefäße, Jes. 23, 2f. weiß von umfangreichem Getreidehandel. Hom. unterstellt Od. 15, 415 auch minderwertige Waren. Jo. 4, 6, Ez. 27, 13 u. Hom. Od. 14, 288 berichten zudem von Menschenhandel. Aus der Untersuchung gesunkener phönizischer und karthagischer Schiffswracks sind für das 7. bis. 3. Jahrhundert v. Chr. zudem Zinn, Blei, Elfenbein, Weine, Parfüms, verschiedene Essenzen, Bronzen (als Altmetall), Textilien, Fischsoße, Oliven und Trockenfrüchte als Wirtschaftsgüter bekannt, s. Aubet Semmler, Handel, S. 324f. Möglicherweise vermochten die Phönizier den Markt mit allen Produkten zu versorgen, die gewünscht wurden.

14Hom. Od. 15, 455, Hdt. 4, 42 u. 6, 46 scheinen wohl von solchen „Stützpunkten“ zu sprechen. Die Dienste und Produkte der phönizischen Handwerker haben auch in der bislang bekannten Überlieferung einen guten Ruf: s. 1Reg. 5, 20ff u. 32; 7, 13-45 u. Hom. Il. 6, 288; 23, 741; Od. 4, 612.

15Als phönizische Gründungen gelten bislang Tyros (Iust. 18, 3, 5), Karthago (u.a.: Iust. 18, 4; Plin. n. h. 5, 17, 7; Strab. 17, 832), Utica (Plin. n. h. 5, 17, 7; 16, 79, 216; Vell. Pat. 1, 2, 3), Leptis (Plin. n. h. 5, 17, 7), Gades (Plin. n. h. 5, 17, 7; Vell. Pat. 1, 2, 3) und Lixus (Plin. n. h. 19, 22). Archäologisch sind heute phönizische Siedlungen und Stützpunkte bis zum 9. Jahrhundert auf Zypern, der Ägäis, dem zentralen und westlichen Mittelmeer und schließlich den Atlantikküsten jenseits der Straße von Gibraltar, d. h. „der gesamten antiken Welt“ (Niemeyer, Das frühe Karthago, S. 21f.) fassbar.

16Die von HM beschriebenen geographischen Gemeinsamkeiten der phönizischen Siedlungsplätze sind den Archäologen bis heute greifbar. Niemeyer u. a., Karthago, S. 21 haben sogar sechs „notwendige Voraussetzungen“ ermitteln können, die gegeben sein mussten, damit ein Ort für eine Besiedelung in Frage kam: „die Nähe zu deutlichen Landmarken als Navigationshilfe, eine natürlich begrenzte, nicht zu große Siedlungsfläche, eine leichte Verteidigungsfähigkeit, z. B. von einer vorgelagerten Insel oder einer ins Meer vorgeschobenen Landzunge aus, offene Zugänge in das nähere und fernere Hinterland, die Nähe zu wichtigen Rohstoffquellen bzw. Erzlagerstätten, eine günstige Hafensituation mit von möglichst vielen Windrichtungen geschützten Schiffsländen und Reeden.“

17Und so manches Mal dürften die Einheimischen, wie in Karthago, auch nur schlicht bezahlt worden sein, damit sie die Interessen der Phönizier nicht störten. S. a. u. Anm. 38.

18Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich bei diesen Passagen um den Ausdruck eines alten Überlegenheitsgefühls der Karthager und Phönizier handelt, oder ob HM hier das Ergebnis einer historischen Einsicht wiedergibt. Aus der griechisch-römischen Antike ist eine solche Würdigung der Phönizier jedenfalls nicht bekannt. Allein bei Hdt. 5, 57 u. 58 wird auf die Rolle der Phönizier bei der „Erfindung“ des griechischen Alphabets hingewiesen. Im Übrigen hatten die Phönizier seit Homers Odyssee keinen guten Ruf (s. u. Anm. 77). In der Sache, der kulturellen Vorreiterrolle der Phönizier, scheint HM aus heutiger Sicht jedenfalls richtig zu liegen: Niemeyer, Das frühe Karthago, S. 21f. verweist auf den archäologischen Befund bei der Besiedlung des Mittelmeerraumes, ders., Phönizier im Mittelmeerraum, S. 98 zusätzlich auf die phönizischen Standards bei den gewerblich unverzichtbaren Hohlmaßen, Latacz, Phönizier bei Homer, S. 12 macht auf die phönizische Herkunft der griechischen Worte für Gold, Sesam oder den Kiton, eine Art Unterkleid, und die dahinter stehende Übergabe von kulturellem Fortschritt aufmerksam. Die politische Vorbildfunktion der Phönizier betont Sommer, Europas Ahnen, S. 284, die technologische Vorreiterrolle ebd., S. 209ff.

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