Buch lesen: «Götterhämmerung & Walkürentritt»

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Olaf Schulze

GÖTTER HÄMMERUNG

&

WALKÜREN TRITT

Romane

Edition Roter Drache

Copyright © 2014 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

email: edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Titelbild: Edition Roter Drache unter der Verwendung des Motivs „Walkürenritt“ von Hermann Hendrich.

Gesamtherstellung: Booksfactory, Berlin.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 9783944180458

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Götterhämmerung

Hammers Fehlen

Hammers Suche

Hammers Heimholung

Walkürentritt

Prolog

1. Teil

2. Teil

3. Teil

Weitere Werke

Götterhämmerung


Hammers Fehlen


chon eine ganze Weile schien heute eine angenehm wärmende Frühlingssonne auf die kleine Kreisstadt mitten in Deutschland. Die Menschen gingen gut gelaunt ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Jedenfalls die meisten.

‚Unglaublich‘, dachte die junge Frau, die vor dem Schaukasten des Theaters stand und das Spielplanplakat studierte. Sie presste ihre Finger so fest an die Glasscheibe, dass die Fingerspitzen schmerzten. ‚Sie haben eine Walküre hier, wer hätte das gedacht!‘ Was auch immer der Begriff ‚Walküre‘ auf diesem Fetzen Papier zu bedeuten hatte, sie würde es herausfinden. Offenbar handelte es sich um ein öffentliches Haus, vor dem sie da stand. Es gingen Leute hinein und auch wieder heraus. Allerdings schritten sie nicht durch das große Portal, das auf mächtigen Säulen ruhte und über einen, die ganze Breite des Gebäudes einnehmenden Treppengang erreichbar war, sondern sie benutzten einen Nebeneingang auf der rechten Seite. Und es waren merkwürdige Menschenwesen unter den Ankömmlingen. Viel trugen gefährlich aussehende, abgerundete, schwarze Kästen, die dafür geeignet schienen, Neugeborene oder Waffen oder beides zu verbergen. Einige waren in bunte Tücher gehüllt und andere hatten große, geschmacklose Hüte auf dem Kopf. Das alles war für sie sehr aufregend und sie malte sich aus, wie die anderen zu Hause reagieren würden, wenn sie ihnen nach ihrer Rückkehr davon erzählte. Etwas Pelziges strich ihr um die Beine und eine feuchte Hundeschnauze berührte ihre linke Wade. Sie wirbelte herum und sah ein schmutzig-graues Tier, das sie entfernt an einen Hund erinnerte. Der Vierbeiner untersuchte intensiv ihre Bastsandalen. Was, bei allen Göttern, soll das für ein Vieh ein, fragte sich die junge Frau.

Unmittelbar hinter der Kreatur stand ein offenbar männlicher Einwohner dieses merkwürdigen Ortes, wobei sein Geschlecht hauptsächlich an seinem fehlenden Haupthaar erkennbar war, denn er war sehr beleibt und hatte eine so unförmige Figur, dass schlecht zu unterscheiden war, wo die Brust endete und der Bauch begann. Er war über 50 Jahre alt, hatte ein rosiges Gesicht und Wurstfinger, mit denen er eine lächerlich dünne, rote Hundeleine festhielt, die in einer kleinen Plastikbox endete. Hundeexperten warnten beständig vor solch unsinnigen Dingern, weil sich der Hundehalter damit ernstlich verletzen könnte, wenn sein Tier die erworbene Sozialisierung fahren ließ und davon stürzen wollte. Allerdings waren größere Temperamentsausbrüche als ein bettelndes Jaulen bei dieser Art Hund wohl kaum zu befürchten. Der Hundebesitzer schwitzte, als wäre er gerade einem heißen Bade entstiegen.

„Was machst du denn? Wotan, aus!“, keuchte er kurzatmig.

„Wie bitte?“, fragte die junge Frau entsetzt.

„Oh, ich meine meinen Hund, entschuldigen Sie vielmals“, antwortete der Dicke.

„Er heißt Wotan?“, wollte die Frau wissen. Ihr Gesicht drückte großes Unverständnis aus.

„Ja, wieso? Das ist doch nicht ungewöhnlich, oder?“, fragte der beleibte Mann nun erstaunt zurück. Die junge Frau konnte mit der rhetorischen Rückfrage nichts anfangen und beschloss, die beiden Wichte mit Missachtung zu strafen. Doch das wurde plötzlich schwierig.

„Ich glaube, dieser Hund wird mich gleich anpinkeln“, sagte die Frau und betonte das Wort ‚Hund‘ dabei so, als handele es sich um einen bedauerlichen Fehler der Schöpfung, auf den die Evolution ruhigen Gewissens verzichten hätte können. Im selben Moment hob der Diskutierte das rechte Hinterbein und wollte sich tatsächlich entleeren, als er sich von dem Fuß im Bastschuh plötzlich in die Höhe gehoben und einen knappen Meter entfernt wieder auf den Boden herabgelassen fühlte.

„Wuff?“, brachte der Hund erstaunt hervor und vergaß, was er eigentlich vorgehabt hatte.

„Das hat er noch nie gemacht“, staunte der dicke Mann, der sich die Stirnglatze mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch abwischte.

„Irgendwann ist immer das erste Mal“, dozierte die junge Frau und fasste ihr Gegenüber schärfer ins Auge. Der Mann war extrem kurzatmig, roch nach kaltem Zigarettenrauch und hatte mit seinen 60 Pfund Übergewicht höchstens noch zehn Jahre zu leben. Seine Herzkranzgefäße verkalkten unaufhaltsam. Bisher hatte noch kein Arzt diesen Prozess diagnostiziert und sie wusste, dass es auch keiner tun würde, bis es für eine Heilung zu spät sein würde.

„Interessieren Sie sich für das Theater?“, fragte der Dicke und entblößte eine Reihe gelbbrauner Zähne.

„Ja, vor allem für diese ‚Walküre‘ hier.“ Sie zeigte mit dem Finger auf die Schriftzeichen.

„Oh, das ist eine hervorragende Inszenierung!“, wusste der Mann aufgeregt zu berichten. Hektisch rieb er sich die Wange, die sofort rot wie eine Portion Kirschgrütze wurde. „Sie müssen wissen, mein Bruder spielt da mit. Er ist Komparse und steht in der Walhalla-Szene ganz vorne rechts am Bühnenrand. Ich habe die Oper schon dreimal gesehen.“

Die Frau merkte, dass ihr der Unterkiefer unkontrolliert heruntergeklappt war, wie bei einem kaputten Nussknacker.

„In der Walhalla-Szene?“, echote sie verblüfft.

„Ja, wenn Sie wollen, begleite ich Sie am Mittwochabend und zeige Ihnen die Oper und das ganze Theater und überhaupt.“

Sie starrte entgeistert in die wässrigen Augen des Dicken, die vom abgelagerten Fett schon zu Schlitzen verengt waren.

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen“, stieß sie jedes Wort einzeln heraus.

„Oh, entschuldigen Sie vielmals, ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt!“, tönte der Dicke entschuldigend. „Mein Name ist Lehmann, Lothar Lehmann.“

Steif verbeugte er sich und blickte die schöne, junge Frau erwartungsvoll an. Die begriff erst nicht, was er von ihr wollte und lächelte amüsiert zurück. Dann dämmerte ihr allmählich, worauf der Dicke wartete. Einen Namen, ihren Namen.

„Ach, äh, ja, so, Frieda … “ Sie blickte hilfesuchend auf den Theaterspielplan.

„Lusan, Frieda Lusan“, sagte sie schließlich.

„Na so ein Zufall!“, kreischte Lehmann, „So heißt doch auch eine Sopranistin hier am Theater. Sind Sie mit ihr verwandt? Auf Besuch in der großen Stadt?“

Frieda blickte ihn starr an.

„Ich dachte ja nur, wegen Ihrer Kleidung und der Frisur“, stammelte Lehmann, von dem durchdringenden Blick zutiefst verunsichert, der ihn aus den blauen Augen der hochgewachsenen Schönheit wie ein Laserstrahl getroffen hatte. Er merkte instinktiv, dass er etwas Falsches gesagt haben musste, denn die junge Dame zog die Stirn in Falten und schniefte bedrohlich durch die Nase. Ihre Worte schnitten wie frisch ausgepackte Rasierklingen in ein schlaffes Doppelkinn: „Was stimmt nicht mit meiner Kleidung und der Frisur?“

Dem dicken Lothar wurde es extrem heiß und er fühlte, wie sich sein Blutdruck zu ungeahnten Höhen aufschwang. Mühsam versuchte er, seine Gedanken zu ordnen und in brauchbare Worte zu fassen. Letzteres erwies sich allerdings als äußerst schwierig. „Zöpfe … armdick … Nachthemd“, murmelte er unverständlich.

„Wie meinen, Lehensmann?“, setzte die Frau, die sich Frieda nannte, unerbittlich nach.

„Die Zöpfe sind nicht so ganz, ich meine, das Kleid sieht aus wie … “, brabbelte Lehmann nuschelnd. Er wünschte, der gepflasterte Theatervorplatz würde sich öffnen, um ihn vorübergehend aufzunehmen.

“Könnten Sie etwas deutlicher werden!“, forderte Frieda ihn in einem Tonfall auf, der geeignet schien, größere Truppenverbände am Persischen Golf zu dirigieren. Der verwirrte Terrier lupfte eines seiner Ohren fragend gen Himmel. Friedas Brustkorb hob sich, ihr Busen ragte herausfordernd unter dem gescholtenen Bekleidungsstück hervor.

„Ach, was soll’s.“ Lehmann gab auf: „Ich meine ja nur, dass ich schon seit ewigen Zeiten niemand mehr mit solch dicken, streng geflochtenen Zöpfen gesehen habe. Und Ihr Kleid, entschuldigen Sie Verehrteste, aber es sieht aus wie ein Nachthemd.“

„Es würde mich interessieren, was Sie von der Ewigkeit wissen, Lehensmann?“, grollte Frieda und überprüfte den Sitz ihres Kleides.

„Mein Name ist Lehmann und nicht Lehnsmann“, versuchte der Gemaßregelte wieder Oberwasser zu erlangen.

„Und wenn schon“, polterte die junge Frau. „Haben Sie heute eigentlich schon mal in den Brunnen geschaut?“

„Bitte was?“, stotterte Lehmann.

„Ich meine, ob Sie heute schon mal Ihr eigenes Gesicht und Ihren Leib betrachtet haben?“, sagte Frieda schnell.

„Ähem, ich verstehe nicht ganz.“ Fragend blickte Lehmann die seltsame Dame an. Die rüstete sich zu einer geharnischten Antwort, besann sich dann aber anders und zwang sich zur Beherrschung.

„Wie auch immer“, Frieda wollte das Gespräch nun beenden. „Wir treffen uns also am Mittwochabend?“

„Pünktlich um sieben Uhr hier vor dem Theater, wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau“, rief Lehmann freudig. „Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich Sie einladen dürfte“, plapperte er aufgeregt weiter.

„Dieser Wunsch sei Ihnen erfüllt. Und nun lassen Sie mich bitte allein.“

Lehmann griff nach Friedas Hand, aber die war schon hinter dem ziemlich einfachen und plump nach unten fallenden Kleides verschwunden.

An Lehmanns Leine war nun ein seelenlos vor sich hin starrendes Tier befestigt, das nicht mehr wusste, woran es sein Hundeleben ausrichten sollte.

„Komm“, sagte Lehmann und zog an der Leine, die sich nach zehn Metern straffte und den schlaffen Wotan wie ein Plüschtier hinter sich her zerrte.


„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte der kleinere der beiden Männer und nestelte nervös an seinem Schulterumhang herum, der fast bis auf den Boden reichte.

„Ich habe die Reiseroute nicht bestimmt“, antwortete der andere mit einer Stimme, die so gefährlich knarrte wie eine gerade geöffnete Gefängnistür, durch die eine Horde wilder Barbaren ins Freie stürzt. „Ganz im Gegenteil habe ich mich mehrmals erkundigt, ob ihr Hilfe braucht“, fügte er hinzu, als sich die Gesprächspause unangenehm auszudehnen begann.

„Wenn du dich freundlichst erinnerst, ich war für die Reisebekleidung zuständig“, ergänzte der riesig wirkende Mann, als immer noch keine Antwort kam. Lässig stützte er sich auf sein großes Schwert, das gut geeignet schien, den ganzen sie umgebenden Wald in kürzester Zeit abzuholzen oder wenigstens so weit herunter zu schneiden, dass Fuchs und Hase schutzlos durchs Unterholz hoppeln müssten.

„Das macht mich auch nicht glücklicher“, schnappte der Kleinere jetzt zurück. „Dieser dämliche Umhang ist zu lang, das Schwert wiegt schwerer als ein Fass Met und der Helm drückt grausam am Schädel.“

Der Große blickte laut schnaubend möglichst weit weg.

„Aber das ist dem hohen Herrn ja egal, wie wir hier rumlaufen!“, setzte der Kleine seine Kritik fort. „Sich nach einem Gemälde anzuziehen, das in irgendeiner teutonischen Burg hängt und viel später gemalt worden ist, zeugt nicht gerade von göttlicher Eingebung“, schimpfte er. Jetzt reichte es dem Größeren endlich, denn er rammte sein Schwert etwa einen Meter tief in den Boden und donnerte los: „Ach, aber ist es denn nicht völlig egal, wie wir aussehen, wenn uns ohnehin niemand sehen kann? Ganz offensichtlich stehen wir doch hier an einem Weiher, den seit Jahrhunderten kein Mensch mehr betrachtet hat. Seit heute Morgen irren wir durch diesen Urwald und stoßen ab und an auf Ruinen einzelner Behausungen und Reste jämmerlicher Dörfer.“ Er klatschte eine Mücke auf seinem Brustharnisch breit und fuhr gereizt fort: „Manchmal glaube ich, wir sind vielleicht am richtigen Platz, aber mit dem Zeitpunkt unserer Reise stimmt etwas nicht.“

Der Kleine war inzwischen wieder losgegangen und hatte sich das Schwert über die Schulter geworfen. Resigniert schaute der größere der beiden Männer seinem Gefährten nach. Dann rückte er die Streitaxt in seinem Gürtel zurecht, zog das Schwert mit einem einzigen, dynamischen Schwung aus dem lehmigen Erdreich und machte sich ebenfalls auf den Weg. Er glaubte, früher schon einmal an dieser, jetzt so dicht bewaldeten Stelle mit dem winzigen Flüsschen gewesen zu sein, über den immerzu der Nebel waberte. Nur wann das war, wollte ihm einfach nicht einfallen. Seufzend kickte er einen Stein mit seinen Fellstiefeln aus dem Weg. Die nahegelegene Eiche, in die der Stein eindrang, ächzte bedenklich. In ihrem hohlen Inneren klammerte sich ein Eichhörnchen mit seinen Krallen verschreckt an das weiche Holz, als das Geschoss den morschen Stamm durchschlug.


Es war nun schon das dritte Mal, dass er im Schlaf gestört wurde. Langsam bereute er es, hier Platz genommen und nicht einfach zu Hause abgewartet zu haben, bis die erste Wut seines Vaters verraucht war. Allerdings wäre es zu Hause auch nicht wesentlich interessanter und hier konnte er sich wenigstens richtig ausschlafen. Er richtete sich ächzend auf und rieb sich die Augen. Es war erstaunlich, wie viel Staub und Körperschleim sich schon nach wenigen hundert Jahren in den Rändern der Augen ansammelte. Sein Bart war noch halbwegs vorzeigbar, so weit er das auf den ersten Blick beurteilen konnte. Das lange, rote, wallende Haupthaar wollte er am liebsten gar nicht sehen. Sicherlich hatte es wieder hässliche Liegestellen und die Lockenpracht war an seiner Schlafseite ruiniert. Er musste sich also so setzen, dass die ungebetenen Besucher diese Körperhälfte nicht wahrnahmen. Müde klopfte er seinen Bart aus und stäubte sein Gewand oberflächlich ab. Immer noch schlaftrunken erinnerte er sich an die letzten Besucher, die ihn für nichts und wieder nichts geweckt hatten.

Als Erstes kamen diese abgerissenen Gestalten, die ihn zu einem Kerl namens Thomas Müntzer führen wollten, der einen militärischen Aufstand angezettelt hatte. Es dauerte nicht lange, bis der Rotbart herausgefunden hatte, dass die heroischen Ziele der Besucher Blödsinn waren und undurchführbar obendrein. Leider glaubten ihm die Männer nicht, weshalb er seine Ruhe ernsthaft unterbrechen und nachts mit ihnen ins Feldlager dieses Müntzers schleichen musste. Diesem Herrn und seinem Generalstab hatte er die desaströsen Erfolgsaussichten eines bewaffneten Kampfes aufzeigen wollen. Das Heerlager präsentierte sich in einem erbarmungswürdigen Zustand, die Ausrüstung der unprofessionellen Krieger war katastrophal. Barbarossa teilte Müntzer in dessen Zelt seine Beobachtung unmissverständlich mit.

„Mit diesem Haufen werdet Ihr nichts ausrichten können, egal wie edel eure Ziele auch sein mögen“, warnte der Kaiser den kleinen Mann. Doch der wischte diese Bedenken rigoros vom Tisch. „Es geht nicht um den Edelmut unserer Ziele“, hatte Müntzer erwidert. „Denn der steht völlig außer Frage. Es geht um den Ausweg, der uns bleibt.“ Barbarossa starrte ihn erwartungsvoll an.

„Es gibt keinen“, schloss der Feldherr mit einem Anflug von Verzweiflung.

„Sagt uns, wie wir unsere Kinder ernähren sollen? Wir brechen zusammen unter der Last der Abgaben, wir hatten jahrelang schlechte Ernten. Frauen und Kinder verhungern zu Hause“, schaltete sich einer der Hauptmänner ein.

„Tut mir leid, aber Ernährungsfragen sind nicht mein Fachgebiet“, wehrte Barbarossa ab. „Ich kann euch nur als Kriegsexperte den dringenden Rat geben: Geht nach Hause und vergesst die Schlacht. Sollten eure Gegner halbwegs ausgebildete Soldaten sein, dann überlebt ihr den morgigen Tag nicht.“

Die versammelten Hauptleute begannen darauf hin, den Kaiser zu verhöhnen und seine Identität ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Müntzer war sehr nachdenklich geworden und hielt sich in dieser Auseinandersetzung zurück.

„Auf den weisen Rat eines toten Kaisers scheiße ich“, hatte einer der Heerführer aufgeregt gebrüllt.

„Ja, er soll sich wieder in seinen Berg legen und sein adliges Maul halten“, pflichtete ihm ein zweiter bei. Kaiser Barbarossa gähnte ausgiebig und blickte von einem zum anderen.

„Dann hättet ihr mich besser nicht wecken sollen“, sagte er. Seine Arroganz erregte einen der Bauernführer derart, dass er sich wütend auf den Kaiser stürzte. Er kam bis auf Armeslänge an den rotbärtigen Riesen heran, dann riss der plötzlich seinen Hammer hoch und traf den Bauern damit am Kopf. Zum Entsetzen aller Anwesenden brach der Getroffene nicht nur tot zusammen, sondern sein Körper verfiel in rasender Geschwindigkeit zum Skelett. Von diesem betrauernswerten Zustand wiederum verwandelte sich der eben noch so agile Bauernführer im nächsten Augenblick zu einem Häuflein Asche.

„Der Satan“, kreischte der Hauptmann, der gerade noch seine Därme über dem Kaiser Barbarossa entleeren hatte wollen. „Es ist der Beelzebub persönlich, rettet euch!“

Der Kaiser begriff, dass weitere Diskussionen hier zwecklos wären, weil sich eine Massenhysterie ausbreiten wollte. Er hatte sich darauf verlegt, den Anwesenden mit gezieltem Einsatz seines Hammers die Erinnerungen an diese Nacht zu nehmen und schickte sie einen nach dem anderen ins Reich der Träume.

„Lieber sterben wir, als uns dem Teufel oder den Junkern zu ergeben!“, rief einer noch heldenmutig, ehe sich auch um ihn die schwarze Dunkelheit des Vergessens ausbreitete.

Was das Sterben betraf, da sollte der Mann absolut recht behalten. Nur einen Tag später waren neben den Erinnerungen auch das Leben all derer ausgelöscht, die in dieser Nacht zugegen waren. Einzig Thomas Müntzer, der Anführer des Aufstandes, musste noch zwei weitere Tage leben und die Qualen der Folter ertragen, ehe er mit einer pompösen Hinrichtung vor den Toren Mühlhausens ins Jenseits befördert und von seinem Erdendasein erlöst wurde. Barbarossa hatte sich kaum wieder in seiner Höhle zur Ruhe gelegt, und nach seiner Schätzung konnten höchstens vierhundert Jahre vergangen sein, als die nächsten Verrückten seinen Schlaf störten. Es waren drei junge Männer, die auf ihn einen durchaus gepflegten Eindruck machten, wenn er vom Staub und Dreck der Höhle absah, der sich auf ihre Kleidung gelegt hatte. Sie sprachen sich untereinander mit ‚Genosse’ an und nannten sich stolz Tschekisten. Barbarossa hatte keinen Schimmer, um welche Art von Kisten es sich hierbei handelte. Auch schwadronierten die beiden agilen Wortführer ständig von anderen Genossen, deren Namen slawisch klangen und bei denen sie wohl für alle ihre Unternehmungen Rat einholen mussten. Der dritte, ein riesengroßer Bursche mit weit nach vorn gezogenen Schultern, als wollte er sich für seine Ausmaße entschuldigen und kleiner wirken, sprach überhaupt nicht und grinste nur. Nach einigem Hin und Her erklärten die zwei Redner dem sagenumwobenen Kaiser, dass er eine unerwünschte Person sei und das Land verlassen müsse. Belustigt von diesem Ansinnen fragte Barbarossa nach den Gründen für seine Ausweisung. Er sei ein typischer Vertreter der nun überwundenen Geschichtsphase der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und zudem ein adliger Despot, dessen Herrschaft ein für allemal abgelaufen sei, beschieden ihm die Männer. Zudem wäre es absolut sinnlos, auf eine Wiederauferstehung zur Restauration des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu warten, weil Deutschland zu großen Teilen schon von seinesgleichen gesäubert sei und die italienischen Genossen kurz vor einer Übernahme der Macht stünden. Es sei nur eine Frage der Zeit und bei einer der nächsten Wahlen würde der Sozialismus auch in Italien siegen.

Das aufgeregte Palaver der drei Männer ärgerte Kaiser Barbarossa allmählich und er bat seine Besucher, ihm stichhaltig zu erklären, warum er nicht in seiner Höhle bleiben könne. Die Regierung des Volkes ist angebrochen, schwatzten die Tschekisten weiter, und die würde sich nicht auf einen so lächerlichen Zeitraum wie eintausend Jahre beschränken, sondern die Diktatur des Proletariats würde ewig währen. Barbarossa tappte in finsterster Dunkelheit, was die Identität dieses Diktators namens Proletariat betraf, ließ sich aber nichts anmerken. Außerdem war er müde und wollte keine großartig intellektuellen Gespräche mit diesen aufgeregten Wichten führen. Ihm war bei aller Anstrengung seines enormen Geistes kein Unsterblicher dieses Namens bekannt. Das war jedoch nicht weiter verwunderlich, tröstete er sich schließlich, denn immerhin hatte er das gesamte letzte Jahrtausend verschlafen.

Die drei Genossen legten ihm Papiere hin, mit denen er sich von nun an legitimieren könne und die ihm eine Passage an die Staatsgrenze des Arbeiter- und Bauernstaates erlauben würden. Sie erwarteten, dass er ein Papier unterschrieb, in dem er versicherte, das Land in den nächsten 48 Stunden zu verlassen und sich eine neue Bleibe zu suchen. Er könne beispielsweise bei den Revanchisten im Teutoburger Wald weiter schnarchen, schlugen sie ihm vor. Barbarossa schien es geraten, wenigstens teilweise auf ihre Forderungen einzugehen und unterschrieb das Papier. Vom Stamm der Revanchisten, die da im Teutoburger Wald hausen sollten, hatte er noch nie zuvor gehört. Barbarossa ahnte, dass während seines kurzen Schlafs da draußen eine rasante Entwicklung vonstatten gegangen sein musste und die Menschen vermutlich immer verrückter wurden. Was sollte es sonst mit der ‚internationalen Solidarität‘ und ‚unverbrüchlichen Freundschaft mit unseren sowjetischen Brüdern‘ auf sich haben? Er beschloss dennoch, die drei Männer zu verschonen, denn er glaubte, es sei seinem eigenen Seelenheil abträglich, wenn er bei jedem Erwachen Menschenwesen tötete oder ihnen den Verstand raubte. Zumal ihm letzteres bei diesen Wirrköpfen ohnehin überflüssig erschien. Dann manipulierte er die Besucher mit Hilfe seines Hammers so, dass sie ihrem Genossen Oberstleutnant berichteten, er sei unverzüglich nach ihrem Besuch in den Teutoburger Wald zu den Revanchisten und Kriegstreibern im Imperialismus aufgebrochen.

Seitdem war es still geblieben in seiner Höhle und er hatte geschlafen. Nach seinem eigenen Ermessen konnte es nun trotzdem noch nicht Zeit zum Aufstehen sein.

Schon waren die Schritte so laut geworden, dass der ungebetene Gast jeden Moment aus dem dunklen Gang auftauchen konnte, als Barbarossa die dicke, goldene Halskette einfiel. Er legte sich die Insignien der Kaiserwürde schnell um und stülpte sich die imposante Krone auf den Kopf. Während er noch an sich herum zupfte, kam das Licht der Fackeln aus dem Höhleneingang immer näher. Sekunden später trat der Fremdling aus dem Schatten des Ganges.

Barbarossa blinzelte ihm verblüfft entgegen. Wenn ein Chronist zugegen gewesen wäre, hätte er vielleicht blumigere Worte gefunden und geschrieben: Der große Kaiser Barbarossa war sprachlos und erstarrte offenen Mundes vor ungläubigem Erstaunen.


Lothar Lehmann war glücklich. Er hatte eine Frau kennen gelernt. Er hatte schon früher einmal eine Frau kennen gelernt, aber das war sehr lange her. Eigentlich hatte er schon zweimal eine Frau kennen gelernt, wenn er es ganz genau betrachtete. Aber das mit der zweiten Frau war so lange her, dass ihm ihr Name nicht mehr einfallen wollte. ‚Ewig ist das schon her‘, sinnierte er, während ihn seine Füße automatisch in den Brettel-Fritz trugen.

Dieses alte Gasthaus hatte früher einmal den Namen ‚Zum Alten Fritz‘ gehabt. Warum die Schenke so hieß, wusste heute keiner mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Der Legende nach soll ein Preußenkönig auf seiner Reise durch den Harz einst darin genächtigt haben. Es ist aber ebenso gut möglich, dass diese Geschichte ihre Entstehung einem langen Winterabend ohne Gäste in der Gaststube verdankt. Während der Zeit der kommunistischen Diktatur hatte der Wirt die Insignien des preußischen Imperialismus selbstverständlich ausmerzen müssen, was er dadurch bewerkstelligte, dass er das Wort ‚Alten‘ mit einem großen Brett zunagelte. Fortan hieß die Kneipe bei ihren Gästen ‚Zum Brettel-Fritz‘. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Experiments hatte der Wirt das verwitterte Brett sofort wieder abgemacht, aber den Namen Brettel-Fritz wurde er nicht mehr los.

Lothar Lehmann setzte sich auf einen der Barhocker. Um diese Tageszeit war im Brettel-Fritz noch kein Betrieb, der Wirt schlief noch oder machte Einkäufe oder was ein Wirt sonst am Nachmittag um drei Uhr tut. Lothar war das Herz so voll, er musste sich jemandem mitteilen. Außer dem arbeitslosen Horst Kindler war niemand im Gastraum, den er kannte. Der saß allein an einem der Ecktische und betrachtete düster sein Bierglas. Hinter dem Tresen stand Ramona, die Aushilfskellnerin, die am Mittag den Laden aufschloss und den Nachmittag über die wenigen Gäste bediente, die nichts Besseres zu tun hatten als schon am hellerlichten Tag mit dem Trinken zu beginnen.

„Hallo Ramona, mach mir ’n Bier, ich setze mich bei Horst“, sagte Lehmann und bemerkte sofort, dass er eine falsche Präposition verwendet hatte. So etwas nervte ihn bei anderen Leuten immer furchtbar, weil Lehmann die Meinung vertrat, es ginge nichts über die exakt angewendete, deutsche Grammatik. Wieso ihm das eben passiert war, konnte er sich nicht erklären. Ramona bemerkte nichts und überprüfte demonstrativ den Glanz ihres Nagellacks im Licht der Tresenbeleuchtung. Lehmann war aufgeregt. Seltsame, ungeahnte Gefühle durchforsteten seine Magengegend, machten am Darm kehrt und fleuchten zurück zum Herzen, woher sie nach Lothar Lehmanns Verständnis auch gekommen sein mussten. ‚Oh, wie wohl ist mir am Morgen‘, wollte er singen, verwarf den Gedanken aber angesichts der vorgerückten Tageszeit als unsinnig.

„Na, Horst“, eröffnete er stattdessen freudig und laut das Gespräch. „Was macht die Kunst? Hast du wieder ein großes Projekt am Laufen?“

Lehmann konnte den Angesprochenen eigentlich nicht leiden, aber er war momentan der einzig verfügbare Bekannte im Brettel-Fritz. Er wusste auch, dass man Horst Kindler erst einmal selbst erzählen lassen musste, ehe man ihm etwas mitteilen konnte. Kindler war von sich sehr überzeugt und meinte, er könne in dieser Stadt vom Bürgermeister über den Theaterintendanten bis hin zum Sparkassendirektor alle ersetzen und würde diese Jobs hundertprozentig besser machen als die Pfeifen, die gerade tatsächlich damit beschäftigt waren. Er würde es nämlich so gut machen, dass für die ganze Welt offensichtlich würde, was er alles drauf hatte. Aber hier waren einfach alle gegen ihn, es lief eine Riesenverschwörung in diesem Kaff, in dem er vor über 44 Jahren geboren worden war. Irgendwann würde er es den ganzen angepassten und faulen Bonzen zeigen, die ihm keine Chance gaben und ständig nur Zeugnisse und Referenzen sehen wollten. Dabei hielt er sich für einen Verfolgten des stalinistisch-kommunistischen Regimes. Schon als Kind in der Schule hatten ihn diese verdammten, bolschewistischen Lehrer betrogen und ihm schlechte Zensuren gegeben. Nur weil er als einziger die Wahrheit gesagt und nicht bei den Genossen gekratzt hatte.

So oder so ähnlich erzählte Horst Kindler seine Lebensgeschichte, der Grad an Ausschmückungen war abhängig vom Alkoholpegel und der Anzahl spendabler Zuhörer. Wenn er keine Lust hatte, über sein erlittenes Ungemach zu lamentieren, brachte er sein Leben kurz und bündig auf den Punkt und benötigte dafür nicht mehr als zwei Worte: „Tolle Wurscht!“

Heute war er von diesem finalen Punkt der Kommunikationsverweigerung nur ein kurzes Stück entfernt und antwortete Lehmann: „Ach, lass mich in Ruhe, alter Sacktreter.“

Lothar schielte auf Kindlers Zettel und erkannte drei Striche. Also, so schätzte er, saß Kindler seit gut einer Stunde hier. Da hätte er die Frau ja fast sehen können, von seinem Platz am Fenster aus.

„Hast du die Frau mit dem komischen Kleid und den dicken, blonden Zöpfen auf dem Theatervorplatz gesehen?“, fragte er Kindler aufgeregt.

„Meinst du diese Ausgeflippte mit den zwei dicken, blonden Zöpfen und dem komischen Kleid?“, fragte der zurück und als Lehmann heftig mit dem Kopf nickte, sagte Horst Kindler: „Nee, die hab ich nicht gesehen.“

Er lachte laut meckernd über seinen tollen Witz, als er Lehmanns hoffnungsvolles Gesicht sich in eine enttäuschte Grimasse verwandeln sah. Lehmann hasste diesen primitiven Humor, der immer wieder bezeugte, was für ein niveauloser Einfaltspinsel dieser Kindler war. Keine Bildung, kein Benehmen, kein Esprit. Vermutlich hätte sich die geheimnisvolle Fremde mit so einem wie Kindler überhaupt nicht eingelassen und wenn Kindler sie nach der Uhrzeit gefragt hätte, dann hätte sie ihn vorsichtshalber belogen, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.

„Tja, mein lieber Kindler“, grinste Lehmann angestrengt. „Da hast du was verpasst.“

„Ach, verpiss dich“, brummelte Kindler, trank einen Schluck Bier und beobachtete Lehmann aus den Augenwinkeln.

„Na, nun sag schon was mit der Alten war“, ermunterte er Lehmann schließlich.

Aber Lehmann schwieg und tat so, als wäre er beleidigt. Er spielte das nicht gut, denn obwohl er so gern ein Schauspieler geworden wäre, hatte er stets ein sehr mangelhaftes Talent bewiesen. Er war ein Übertreiber, der immer gleich ins Melodramatische abrutschte und den Anschein erweckte, als wäre er eben einem Courts-Mahler-Roman entsprungen.

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