Buch lesen: «Herr über Leben und Tod bist du»
Olaf Müller
Herr über Leben und Tod bist du
Eifel-Krimi
Zum Buch
Es wird kommen der Tag Auf dem Krawutschketurm bei Bergstein wird ein Toter gefunden. Rentner Eugen Kaltenbach wurde offensichtlich ermordet – mit einem US-Karabiner aus dem Zweiten Weltkrieg. Wenige Tage später wird Gundula Borsche, die Schwester der ehemaligen Direktorin der Landesklinik Düren, tot aufgefunden. Ebenfalls kaltblütig ermordet. Hängen die Fälle miteinander zusammen? Kommissar Fett, Kollege Schmelzer und die neue Kommissarin Daniela Conti verfolgen mehrere Spuren in Jülich, Arnoldsweiler und Frankreich. In Düren stoßen sie schließlich auf ein Geheimnis in der Landesklinik. Das berüchtigte »Haus 5« war die forensische Abteilung, in der bis in die 1970er Jahre katastrophale Zustände herrschten. Während in Aachen auf dem Weihnachtsmarkt das Geschäft brummt, überschlagen sich die Ereignisse. In Simonskall bei Vossenack kommt es schließlich zum Showdown …
Olaf Müller wurde 1959 in Düren geboren. Er ist gelernter Buchhändler und studierte Germanistik sowie Komparatistik an der RWTH in Aachen. Seit 2007 leitet er den Kulturbetrieb der Stadt Aachen. Sprachreisen führten ihn oft nach Frankreich, Italien, Spanien, Polen und Austauschprojekte in Aachens Partnerstädte Arlington (USA), Kostroma (Russland) und Reims (Frankreich). Als Segelflieger kennt er die Eifel aus der Luft, als Wanderer vom Boden. „Herr über Leben und Tod bist du“ ist nach „Tote Biber schlafen nicht“, „Allerseelenschlacht“, „Rurschatten“ und „Die Macht am Rhein“ (gemeinsam mit Maren Friedlaender) sein fünfter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © SiRo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6918-3
Anfang
Von der obersten Plattform des Krawutschketurms auf dem Burgberg in Bergstein tropfte Blut. Krähen flatterten krächzend über den Turm, von dem sich bei klarem Wetter ein weiter Blick über die Nordeifel bot: im Westen das Hohe Venn, etwas nördlicher Aachen und die Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Weisweiler; im Nordosten, fast so, als ob man hineinspringen könnte, der Stausee von Obermaubach. Burg Nideggen grüßte auf Augenhöhe im Osten, die Rur schlängelte sich von Blens über Abenden und Zerkall durch das grüne Tal. An diesem Morgen war ein Schuss gefallen. Gedämpft durch einen Schalldämpfer. Er war längst verklungen. Vor 75 Jahren war es anders. Damals folgte Einschlag auf Einschlag. Das Geknatter der Maschinengewehre, Karabiner und Pistolen nahm am Tag und in der Nacht kein Ende, Handgranaten explodierten, der Burgberg schien zu explodieren.
Scheu trippelte ein Fuchs durch das nasse Gras zum Aufschlagpunkt der Blutstropfen auf den Pflastersteinen, leckte kurz, schaute sich suchend um, blickte hoch zu dem Treppengewirr, schlich davon. Mäuse rasten durch das dornenreiche Gestrüpp. Spatzen hüpften von Busch zu Busch. Stumm, fast etwas arrogant, blickte ein Bussard abwartend von einem Fichtenast auf den Krawutschketurm und die Reste der Bunker. Die Zeit des Bussards war noch nicht gekommen. Am Boden bildete sich eine dünne Blutlache und suchte einen Weg zwischen den betongrauen Steinen. Verkrümmt lag die Leiche auf der obersten Aussichtsplattform. Keiner hatte sie bisher entdeckt. War es zu früh für Spaziergänger und Wanderer an diesem Montagmorgen, dem 9. Dezember 2019? Im Osten, am Rhein, kroch das Morgenrot hinter Wolken empor. Gegen 8.15 Uhr würde die Sonne aufgehen. Der Tag begann windig, kalt, grau, dunkel, nass. Nieselregen benetzte Blätter und Nadeln der Bäume. Das feuchte Laub war dreckig, braun, angefault. Pfützen hier und da. Die von den Herbststürmen abgebrochenen Äste hingen leblos an den Bäumen, schaukelten im Wind. Es roch nach Fäulnis, Moder, Tod.
Bergstein war still, nur einige Schulkinder auf dem Weg zum Unterricht. Brandenberg, Kleinhau, Großhau, Hürtgen, Vossenack und Nideggen schienen wie ausgestorben. Die Berufspendler waren längst aufgebrochen. Die Bauern mit ihren kleinen Parzellen und dem wenigen Vieh hatten die Tiere versorgt, die Nüstern der Kühe und Pferde dampften, längst war gemolken, Futter und Stroh verteilt, Mist aus den Ställen gekarrt. Nun fuhren die Nebenerwerbslandwirte zum Sägewerk nach Vossenack, zur Papierfabrik nach Düren, zum Ferienpark nach Heimbach. Von Landwirtschaft allein konnte niemand mehr leben. Die Bauern mussten früh raus, gingen spät ins Bett.
Ein grauer und düsterer Tag. Grau auch das Stahlgestänge des Turms, die Reste der Bunkeranlagen auf Hill 400, wie ihn die Amerikaner im Dezember 1944 genannt hatten, weil er mit seiner Höhe von 400 Metern die Region überragte. Von hier aus wurde das verheerende Artilleriefeuer der Wehrmacht auf die vorrückenden US-Einheiten bei Vossenack, Schmidt, Kommerscheidt und Simonskall geleitet. Wer Hill 400 beherrschte, der kontrollierte die Rur und die Talsperren. Am 7. Dezember 1944 hatte das 2nd Ranger Battalion unter großen Verlusten den Burgberg angegriffen. Ein Sturmangriff mit aufgepflanztem Bajonett aus den Ruinen von Bergstein heraus, über den Friedhof und hinauf auf den Berg. Mann gegen Mann. Es waren dieselben Ranger, die bei der Invasion in der Normandie am Pointe du Hoc mit Strickleitern an den Klippen hochgeklettert waren, um die deutschen Gefechtsstände auszuschalten. Hill 400 war genauso blutig wie Pointe du Hoc. Für viele US-Soldaten war die Einnahme des Burgbergs in Bergstein der längste Tag, länger als der Tag der Invasion. Davon wurde nichts erzählt auf der Informationstafel am Fuß des Krawutschketurms, benannt nach dem Eifelwanderer Franz Krawutschke, der 1940 gestorben war. Er hatte die ersten Wanderwege markiert. Darum wurde der Turm nach ihm benannt. Auf der Infotafel stand die Geschichte der Burg, des Burgbergs und des Turms. Kein Wort über das Grauen kurz nach Nikolaus im Dezember 1944.
Schlaff hingen die ockerfarbenen Blätter der wenigen Eichen an den graubraunen Ästen. Der Herbst war vorbei, nun würde in wenigen Tagen der Winter einziehen. Schnee, der auf Fichten fällt, auf den Friedhof von Bergstein, auf den Sportplatz, das Segelfluggelände, die Kirche und die wenigen Straßen. Von jetzt an sollte man Brennholz, Heizöl oder Gas zur Hand haben. Diese Sorgen hatte der Tote auf der Plattform nicht mehr.
Krähen flogen auf die Holzbrüstung des Turms, schauten suchend in alle Richtungen. Plötzlich sprang die erste auf den Rücken des Toten und stakste auf dem Lodenfrey-Mantel hin und her. Rasch hüpfte eine zweite Krähe hinzu, die dritte folgte. Der Mantel war dick. Der Kopf lag frei. Sie näherten sich dem Ohr des Toten.
Aus! Aus! Braver Hund!
»Rocky, kommst du hier!« Rocky hörte nicht. Rocky hatte Blut gerochen und wollte Blut lecken. Der Dobermann lief mit gesenkter Schnauze und feuchten Lefzen auf die kleine Blutpfütze zu. Dann bellte Rocky. Die Krähen am Ohr des Toten erschraken, flatterten hoch, flogen im Sturzflug auf die nächsten Äste der Tannen und ärgerten sich über Rocky, dessen Bellen sie jeden Morgen störte, wenn sie in den Resten der Bunker eine Maus zerfetzten.
»Rocky!« Keuchend erreichte Norbert Jörres seinen Hund. Die Morgenrunde endete stets am Krawutschketurm mit einem Schluck aus dem Flachmann. Papas Little Helper nannte er seine prozenthaltige Verpflegung, die Schwung in den Tag des Frührentners brachte. 40 Jahre Privatkundengeschäft in der Sparkassenfiliale von Kleinhau. Schützenverein, Modellbauverein, verantwortlich für die Weckmänner beim Martinszug, veranstaltet von der Besenbinderzunft 1970 Kleinhau e.V.
Norbert Jörres nahm einen kräftigen Zug. Sofort wurde ihm warm in der Kehle. Rocky schaute bellend hinauf zu Herrchen. Er kannte das Ritual. Die Stimme von Herrchen war nach mehreren Schlucken lauter, und manchmal wankte er den Abstieg hinunter. Diesmal bellte Rocky länger als sonst. Er hob die Schnauze Richtung Turm und bewegte den Körper, als ob er unbedingt hinaufwollte.
»Rocky! Jetzt ist aber gut!« Noch ein Schluck. Flachmänner sind Handschmeichler. Norbert Jörres mochte das Edelmetall, den Schraubverschluss und vor allem den Inhalt. Er dachte an all die alten Damen, die er beraten hatte. Abends, daheim bei einem Eierlikörchen und Schnittchen mit Cornichons. Die Witwen – auch in der Nordeifel sterben die Männer früher – saßen hilflos vor ihm mit ihren Wiesen, Feldern, Äckern. Er empfahl Verkauf. Man müsse loslassen, Ballast abwerfen wie die Ballonfahrer. Die Damen staunten. Norbert Jörres hatte die Nummer mit dem Ballon entwickelt. Er erzielte phänomenale Ergebnisse und wurde mehrfach Kollege des Jahres mit einer Urkunde vom Sparkassenvorstand der Kreissparkasse Düren. Damals gab es noch die Kreissparkasse. Norbert Jörres tröstete zudem manche Kundin auf seine ganz persönliche Art. Danach nannten sie ihn Nobbi. Von diesen Trostbesuchen kehrte er etwas später und müde heim. Kurze Zeit danach erfolgte von der getrösteten Kundin eine Überweisung auf sein Konto oder er wurde testamentarisch bedacht.
»Rocky, halt die Schnauze!« Es platzte aus ihm heraus. Norbert Jörres spazierte jeden Morgen mit Rocky zum Burgberg. Bei Waffen-Schumacher in Norddüren hatte er den Flachmann, Qualitätsjägerstiefel und einen Taschenwärmer gekauft. So zog es ihn täglich zum Turm, wo er im Sommer den Sonnenaufgang genoss und an den Bunkern benutzte Kondome mit einem Fußtritt Richtung Abhang beförderte.
»Aus! Rocky! Aus!« Er beugte sich zu dem kläffenden Vierbeiner und blickte auf die Blutspur. Norbert Jörres richtete sich auf, sein Blick folgte dem Blut. Langsam drang das unaufhörliche Krächzen der Krähen in seine Synapsen. Er nahm einen großen Schluck und die erste Stufe der Treppe hinauf auf den Turm. Dann kehrte er um, band Rocky am Treppengeländer fest. »Aus! Aus! Braver Hund.«
Norbert Jörres folgte den Blutstropfen. Ihm wurde mulmig. Auf halber Höhe, bei der mittleren Plattform, nahm er den letzten Schluck. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die Beinmuskeln drohten zu versagen. Rocky saß unten und starrte mit aufgerissenen Augen hinauf zu Herrchen. Herrchen starrte auf die nächste Stufe. Auf der übernächsten wieder Blutstropfen. Norbert schleppte sich auf die oberste Plattform. Trotz seiner trüben Augen entdeckte er den Körper sofort.
»Leggesamarsch!«, formte die schwere Zunge den mundartlich gefärbten Ausdruck des Erstaunens. Weitergehen, runtergehen, Polizei anrufen, Flachmann, Fahne, Wodka, Rocky, Puls, Puls fühlen, verdächtig, bin ich verdächtig? Alkohol, Rocky, Marlene, was wird Marlene sagen? Schmorbraten, Polizeipräsidium, Verhör, getrunken, ich habe getrunken. All das schoss schneller, als man es sagen konnte, durch Norberts Gehirn und führte fast zu einem Kurzschluss, einem Nervenzusammenbruch oder Schock. Mechanisch bewegte er seine Füße in den Premiumjägerstiefeln, stupste vorsichtig einen Arm des vor ihm liegenden Mannes. Keine Reaktion. Norbert kniete nieder. Der Mann lag in merkwürdig verkrümmter Haltung auf dem Bauch. Norbert fasste eine Hand, suchte nach dem Puls, fand keinen Puls, schaute auf den blutigen und zerfetzten Hinterkopf und beschloss, mit seinem neuen Handy die 110 zu wählen. Mit zittrigen Beinen wankte er die Treppenstufen hinunter. Rocky tänzelte unruhig am Fuß des Turms.
»Mann, Rocky. So ein Scheiß.« Norbert Jörres setzte sich auf die unterste Stufe. Er lallte in sein Handy. Die Wache in Kreuzau hatte Mühe, ihn bei diesem instabilen Netz überhaupt zu verstehen. Toter Mann, Krawutschketurm, Bergstein, Blut und sein Name. Er sei Rocky Jörres, ähm, Norbert Jörres, Rocky sei der Hund, der da die ganze Zeit bellt. Oberkommissar Heinen, Wachleiter in Kreuzau, runzelte die Stirn. Schließlich schickte er Kommissarin Holz und Hauptwachtmeister Dillinger hinauf nach Bergstein. Mal nachsehen, wie er sagte.
Herzschuss
Was wird aus meinem Leben? Kriminalkommissar Fett stellte sich diese Frage gegen 5.30 Uhr an diesem Montagmorgen. Wie sieht meine Bilanz aus? Soll und Haben? Mörder gefasst, Sicherheit geleistet, Dienst an der Gesellschaft. Er blinzelte durch die Jalousien in Richtung Osten. Alles dunkel. Aachen schlief noch. Er sprang aus dem Bett. Ab in die Dusche. Weg mit den ewigen Fragen. Eine neue Woche. Noch 15 Tage bis Heiligabend. Zeit, um die Akten zu sortieren. So kurz vor Weihnachten passierten rein statistisch kaum noch Kapitalverbrechen. Eher an Weihnachten und kurz danach, wenn sich die Familien zu nahekommen. Es sollte anders kommen. Doch noch ahnte Kommissar Michael Fett nichts davon.
Draußen nieselte der Regen auf die Gebäude der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen gegenüber seiner Wohnung am Templergraben in Aachen. Ein grauer Dezembermorgen. Um 6 Uhr telefonierte er mit Iska Sonntag. Seine entfernte Freundin, Leiterin eines SEK-Teams, war nach Auflösung der Einheit in Bonn mit ihren Männern nach Köln versetzt worden. Drei Spezialeinsatzkommandos und zwei Mobile Einsatzkommandos waren in Köln konzentriert. Sie mussten sowohl nach Bonn als auch nach Aachen zu besonderen Einsätzen. Schießtraining stand heute auf ihrem Programm. Sie würde mit ihrem Team zunächst im Kino und danach auf dem Stand trainieren. Heute keine Clans, keine Aktivisten in Hambach, keine Reichsbürger mit Waffensammlung, schwerbewaffnete Rockerbanden oder messerstechende Folterknechte. Einfach nur Schießtraining.
»Müsste auch mal wieder«, sagte Michael Fett.
»Komm rüber. Ich zeig dir, wie du triffst. Mit der Waffe.«
»Herzschuss. Hast du ja erreicht bei mir. Zum Glück hab’ ich überlebt. Ganz neu in der Polizeigeschichte.«
»Die müssen gepflegt werden, die Herzschüsse.«
»I know.«
»Deine Mörder haben Vorrang.«
»Ich bin nun mal der weiße Ritter von Aachen.«
»Gab es den? Oder spielst du Karl den Großen?«
»An den kommt keiner ran. Fünf Frauen und 20 Gespielinnen, genannt Friedelfrauen.«
»Na bitte. Männer denken zuerst an die Erfolgsgeschichte beim schönen Geschlecht.«
»So war das nicht gemeint.«
»Komm, komm. Ihr seid in dem Oche alle neidisch auf Karl. Friedelfrauen. Woher hast du den Begriff?«
»Erwähnte der Historiker Professor Kerner in einem Vortrag über Karl. Das waren Geliebte, aber mit mehr Rechten als eine Küchenmagd, die sich der Karl am Grill geschnappt hat.«
»Scheint dich ja mächtig zu interessieren.«
»Der Karl. Ja klar. Ich schau aus der Küche auf die Spitze des Rathauses, dahinter der Dom. In Bonn kannst du ja über die Loreley nachdenken. Wo du auftauchst, entstehen Auffahrunfälle.«
»Na, na, Kommissar Fett. Kommt jetzt der Themenwechsel von MeToo-Karl zum Werbeblock?«
»Ist eben so. Bei jedem Treffen mit SEK-Kollegen schwärmen sie von der Kölner Amazone, und manche kennen dich aus Bonner Zeiten. Den Rest verrate ich nicht, sonst steigt es dir zu Kopf.«
»Mehr davon, mein Lieber. Das sind die reinsten Herztreffer.«
»Deine Klugheit und deinen Witz loben sie. Du seist jedoch eine harte Nummer.«
»Bin halt keine Friedelfrau oder Kebse.«
»Kebse, du kennst dich aus. – Mein Kaffee wird kalt.«
»Lenk nicht ab. Sag mir was Schönes für den Tag.«
»Du bist ein Augenstern. Ein Geschenk der germanischen Götter an den Vater Rhein. Der Schatz der Nibelungen.«
»You make my day, Monsieur Fett. Auf zum Kaffee, sonst hast du schlechte Laune. Und lass uns bald mal das Weihnachtsprogramm besprechen.«
»Du kennst mich, immer auf den letzten Moment. Ciao, Bella. Wir telefonieren.« Fett legte auf und dachte an Theresa Rosenthal, Mordkommission Köln, mit der er einen Fall gemeinsam gelöst hatte, an das gemeinsame Lachen. Er atmete tief ein, schaute in den Spiegel, prüfte die Rasur, die grauen Haarsträhnen und verdrängte die Grübeleien. In der Küche füllte er frisches Wasser in die Kaffeemaschine. Marmelade, Vollkornbrot, Mineralwasser. Die Kaffeemaschine mahlte drauf los. Heute kein Befehl zum Entkalken, Reinigen, Schale Leeren. Er hasste die Befehle der Kaffeemaschine und sehnte sich nach der alten Filterkaffeemaschine zurück. Fluch der Technik.
Die Lage des Landes
Um 7.30 Uhr war Fett im neuen Präsidium in Aachen-Brand, dicht bei der Automeile und der Autobahnauffahrt auf die A44. Lagebesprechung, neueste Infos vom Innenministerium. Rüschendonk, Leitender Kriminaldirektor, wollte alle Kommissariate gemeinsam betanken. Im Besprechungsraum traf Fett auf die Kollegen. Er setzte sich in die letzte Reihe. Schmelzer war wieder zu spät. Vom Steppenberg nach Aachen-Brand musste er über den Außenring fahren. Der war morgens zu. Oder er hatte einen Termin bei der Klassenlehrerin von Sohn Justus, der gerade auf dem Kaiser-Karls-Gymnasium eingeschult worden war. Wieder war Schmelzer bei der Lehrerin an eine überzeugte Veganerin geraten, humorlos und mit Lastenfahrrad. Die Chemie würde er nie hinbekommen.
»Morgen, Kolleginnen und Kollegen«, rief Rüschendonk in die Runde. Alle murmelten etwas, das nach »Morgen« oder »Moin« klang.
Rüschendonk klopfte auf das Mikro, die Gespräche verstummten. Mit hartem Blick fixierte er die Frauen und Männer vor sich. Er war bekannt für knackige Ansagen. »Vom Innenministerium Bund und Innenministerium Land über BKA und LKA kommt folgende Lageeinschätzung zu mehreren Gefährdungspunkten. Vertraulich. Brauche ich nicht zu erwähnen. Für uns gibt es Aspekte, die mit Blick auf Aachen bedeutsam sind. Erstens sind wir eine Grenzstadt. Offene Grenzen zu Belgien und den Niederlanden. Zweitens sind wir Universitätsstadt. Knotenpunkt für Strömungen des linken und partiell identitären Lagers. Drittens haben wir mit rechtsradikalen Gruppierungen Erfahrungen. Denken Sie an die Wiking-Jugend bei Stolberg. Viertens sind wir verantwortlich für Hambach. Fünftens haben wir im April 2019 die erste europaweite Fridays for Future-Demo abgewickelt. Sechstens. Wir widmen uns ungelösten Fällen mit neuen Methoden. Die ungeklärten Morde können durch neue Methoden bei der DNA-Analyse geklärt werden.« Er schaute auf seine Kollegen und fuhr fort. »Nun zu den einzelnen Punkten, die ich Ihnen vortrage, damit sie bei aktuellen Fällen diese Folie drüberlegen können. Wir beobachten neue Flüchtlingsrouten. Die Lage in den Camps in Griechenland und auf den Inseln ist katastrophal. Zum Winter erreicht uns eine erste Welle, im Frühjahr steigt die Zahl. Es werden nicht nur Flüchtlinge eintreffen. Auch Terroristen, Folterknechte, Personen, die keine Ahnung vom Grundgesetz, Deutschland, Bildung haben. Minderjährige und solche, die sich als Minderjährige ausgeben. Wir müssen außerdem die regionale Salafistenszene im Blick behalten, das sind die mit den kurzen Hosen und langen Bärten. Zum Teil im Umfeld der Hochschule.« Er wechselte das Blatt und kam zum nächsten Punkt.
»Zweitens. Im Unispektrum tummeln sich identitäre und linksextreme Gruppen. Die Identitären haben Kontakt zu alten Nazis. Kollege Fett und Kollegin Ventzke vom Staatsschutz können ein Lied davon singen. Wir beobachten zunehmend Aktivitäten. Aggressives Auftreten in der Hooliganszene, Militanz gegen linke Gruppen, gezielte Provokationen gegen grüne und linke Politiker bis hin zu Listen mit deren Namen und Adressen. Die linksautonomen Gruppen verbünden sich zunehmend mit den Aktivisten in Hambach und suchen den Kontakt zu Fridays for Future. Als Trittbrettfahrer springen sie auf den Umwelt- und Klimazug auf, infiltrieren die Organisationen und drehen sie um. Ziel: Abschaffung unseres Systems, unserer Demokratie, Anarchie und irgendeine Form von Sozialismus, die keiner bis jetzt gesehen hat.« Manche Kollegen nickten zustimmend. Sie hatten Erfahrung mit Hambach und waren geschockt über die Gewalt und Brutalität. Rüschendonk fuhr fort: »Die Linksextremen nennen sich verniedlichend Aktivisten, sind ultrabrutal und gewaltbereit, vermischen sich mit den Klimaclowns, Extinction Rebellion, und legen es systematisch auf Rechtsbrüche an. Ziel: Störung des Rechtsempfindens der Bürger. Die Bürger sollen das Zutrauen in den Staat verlieren. Die Gesellschaft soll sich radikalisieren, über Klimaschutz, Klimaflüchtlinge und Kapitalismuskritik wollen sie den Systemwechsel erreichen. Medial stehen sie besser da als die Rechtsradikalen. Die Linken verfügen über Sympathisanten auf allen Ebenen. Der Kampf gegen rechte Gruppen verdeckt den Extremismus der Linksextremen. Das alles finden Sie im studentischen Umfeld mit Ausfransungen zu den Antifaschisten, die beim 9. November an die Reichspogromnacht erinnern und zugleich BDS unterstützen, diesen antisemitischen Verein, der Israel von der Landkarte verschwinden lassen möchte. BDS hat Kontakte in die Friedensszene und in die Kulturszene. Wir müssen bei Veranstaltungen dieser Organisation mit dem Verbrennen von Israelflaggen rechnen. Da schreiten wir sofort ein. Wir dulden keinen Antisemitismus, der unter dem Deckmantel der Israel-Kritik und der Meinungsfreiheit in die Öffentlichkeit drängt. Verstanden?« Die Leitungskräfte nickten.
Rüschendonk fuhr fort: »In Hambach erwarten wir im Frühjahr neue Aktivitäten. Die Linksextremen brauchen Öffentlichkeit wie Fische das Wasser. In der Politik ist vor dem Kohlekompromiss keine klare Linie zu erkennen. Das werden unsere Freunde ausnutzen. Sie werden auch auf die Dörfer bei Erkelenz ausweichen, falls Hambach nicht abgebaggert wird. Die Militanz wird zunehmen. Das Megathema Klima spielt ihnen in die Hände. Die Radikalität in der Berliner Szene wird in andere Städte überschwappen: Anschläge auf SUVs, Blockade von Kreuzungen und Flughäfen, militante Tierschützer, militante Baumschützer, militante Radfahrer. Für den Ausbau des Flugplatzes Aachen-Merzbrück erwarte ich Störungen aus der militanten Umweltszene. Sollte der Staatsschutz auf der Agenda haben. Und bei vielen Protestformen: Instrumentalisierung von Kindern nicht zu vergessen. Der Zweck heiligt die Mittel. Lückenlose Aufklärung und Beweisführung ist wichtig, sonst sitzen wir auf der Anklagebank.«
»Sitzen wir eh!« Ein Zwischenruf von Reinhard Fuchs, Leiter der Einsatzhundertschaft.
Rüschendonk griff das auf: »Kollege Fuchs, Ihren Frust kann ich verstehen. Habe selbst jahrelang eine Einsatzhundertschaft geführt. Wir vertreten das Recht und werden uns nicht provozieren lassen. Dokumentationstrupps immer dabei. Klare Ansagen, keine Gewalt, wir tragen die Damen und Herren Umweltschützer aus dem Wald, wenn es sein muss. Damit komme ich nochmal zu Fridays. Zurzeit sind die Demos friedlich. Das kann sich schnell ändern. Wir haben Informationen über die Verbindung zwischen Fridays, Schwarzem Block, Resten von Occupy Now, Extinction Rebellion und militanten Tierschützern. Erwarten Sie nicht Blumen bei den nächsten Demos. Je unzufriedener die Masse der Demonstranten mit den politischen Ergebnissen in Sachen Klimaschutz ist, desto schneller wächst das Aggressionspotenzial. Wenn Windradgegner als Taliban bezeichnet werden, lädt sich die Stimmung weiter auf. Und zum Schluss: Die Kolleginnen und Kollegen, die bisher mit Missbrauchsfällen beschäftigt sind, mit ungeklärten Morden, die bekommen Unterstützung. Nach bisherigen Erkenntnissen schwappt eine Welle von Missbrauchsfällen aus den gesellschaftlichen Großbereichen Sport, Karneval, Jugendfreizeit, Jugendheimen auf uns zu. Die Kirchen waren nur der Anfang. Auch bei den Pflegeeltern, den Waisenhäusern, den Erziehungsanstalten wird in die Akten geschaut. Da ist vieles verjährt, anderes nicht. Die Kommissariate werden dazu eine besondere Schulung bekommen. Wir haben Aussagen, dass gerade im Karneval und bei der Jugendbetreuung weggeschaut wurde. Auch in den Sportvereinen soll es in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren zu zahllosen Missbrauchsfällen gekommen sein. Niemand wollte den Kindern glauben. Trainer, Priester, Prinzen und Karnevalspräsidenten waren angesehene Autoritätspersonen. Die Kleingartenanlagen mit ihren gemauerten Wochenendhäusern sollen Unterschlupf geboten haben. Mit diesen dunklen Informationen entlasse ich Sie in den Montag. Fragen?«
Die Polizisten sprachen miteinander, wirkten nachdenklich.
»Fellhofer, Stichwort Intensivtäter. Unsere jugendliche Klientel reist weiterhin über die Schiene oder mit Bussen ein. Wann wird die Bundespolizei zwecks Grenzcheck die Sollstärke erreichen?«
»Keine Ahnung, Kollege. Momentan werden Kräfte in Bayern zusammengezogen, da dort über den Balkan mehr illegale Grenzübertritte vorkommen. Wir bleiben dran. Nächste Frage?«
Zugführer Danino von der Einsatzhundertschaft meldete sich: »Wann werden wir das Camp in Hambach aufsuchen? Der Gerichtsbeschluss ist eindeutig. Camp ist nichts rechtskonform.«
»Lieber Kollege, rufen Sie mal in der Staatskanzlei an. Die wissen mehr. Nächste Frage.« Die Polizisten lächelten resigniert. Seit Jahren Rechtsbrüche, verletzte Beamte, zunehmende Gewalt, reisende Täter. Und sie durften im Camp nicht einmal Personenfeststellungen durchführen.
Rüschendonk bat um Ruhe. »Ich komme zum Schluss. Wir unterstützen heute Mittag und heute Nacht mit der Einsatzhundertschaft die Bundespolizei am Hauptbahnhof. Fußballfans von Red Bull Salzburg reisen bis Hauptbahnhof und von Aachen aus mit Bussen weiter nach Genk, Belgien. Spiel um 21 Uhr. Im Anschluss voraussichtlich Rückkehr und Sonderzug von Aachen nach Salzburg in der Nacht. Fragen?« Rüschendonk blickte in die Runde.
Schmelzer schlich durch die Tür, suchte Fett, sah ihn leicht dösend und schlich zwischen den Kollegen zu seinem Chef.
»Ein Toter in Bergstein auf dem Krawutschketurm. Soll übel aussehen«, flüsterte Schmelzer ihm ins Ohr.
»Keine besseren Botschaften? Rüschendonk reicht mir schon«, maulte Fett.
»Der Tote trägt keine Schuld. Wir müssen hin. Kriminaltechnik ist bereits vor Ort. Der Medizinmann hat den Tod bestätigt.«
Rüschendonk beendete seinen Lagevortrag und entließ die Führungskräfte in einen kalten und grauen Montag, so grau wie der Himmel über dem Krawutschketurm.