Pardieus Geheimnis

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Pardieus Geheimnis
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Pardieus Geheimnis.

Roman von

O. Zelmai.


Sternthaler-Verlag Basel


Originalausgabe 2019.


Copyright © 2019 by O. Zelmai.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck verboten.


Erstes Kapitel.

Auf der Wanderschaft.


Es ging bereits auf den Abend zu. Die Schatten wurden länger. Ebenso zog sich auch die staubige Landstraße in die Länge. Noch war es angenehm warm, doch schon bald, wenn die Sonne hinter den bewaldeten Hügeln verschwand, würde es empfindlich kühl werden. Höchste Zeit also, daß Guntrol sich ein Nachtlager suchte. Er war müde, die Füße taten ihm weh, und der allergrößte Teil seiner Abenteuerlust hatte sich auf den staubigen Landstraßen und steinigen Feldwegen rascher abgenützt, als seine Schuhsohlen.

Vor kaum einer Woche erst war er frisch und munter und strotzend vor Tatendrang auf seine Wanderschaft aufgebrochen. Zum ersten Male hatte er die vertrauten Gefilde seines Heimatortes, wo er geboren und aufgewachsen war, verlassen, um sich dem uralten Brauche folgend für drei Jahre auf Wanderschaft zu begeben. Ein bestimmtes Ziel hatte er ursprünglich nicht gehabt, doch war ihm unterwegs zu Ohren gekommen, daß in der Hauptstadt eine neue große Steinbrücke über den Fluß geschlagen werden sollte und daß für diese Arbeit Zimmerleute gesucht würden. Um eine Steinbrücke zu errichten, mußte schließlich zuerst eine hölzerne Hilfsbrücke errichtet werden. Das war zwar kein dauerhaftes Bauwerk, auf das man noch viele Jahre später mit Stolz blicken konnte, aber dennoch eine interessante und ungewöhnliche Herausforderung für einen jungen Zimmermannsgesellen aus der Provinz. Also hatte Guntrol sein Bündel geschnürt, sein Handbeil geschärft und sich die Wanderstiefel angezogen, um nach Westen gen Narbon zu ziehen. Zu Fuß würde er ungefähr vierzehn Tage brauchen. Das hatte er am Anfang geschätzt. Doch nun war er bereits seit einer Woche unterwegs und noch lag weit mehr als die Hälfte des Weges vor ihm. Wenn er nur ein Pferd besäße oder Geld für die Fahrt auf dem Postwagen hätte. Aber beides lag weit jenseits seiner bescheidenen finanziellen Mittel. Darüber hinaus verstieß es eigentlich auch gegen die Tradition, welche streng vorschrieb, daß ein Geselle auf Wanderschaft sich ausschließlich zu Fuß fortzubewegen hatte.

So kam es also, daß er an jenem späten Nachmittag Anfang Mai durch eine Gegend stapfte, die er nur vom Hörensagen kannte. Hier gab es so gut wie nichts. Die wenigen Dörfer waren klein und lagen weit von einander entfernt. Dichte, finstere Wälder bestimmten die Gegend. Das Klima war hier kühl, die Winter lang und rauh und die Böden nicht besonders fruchtbar. Kurz gesagt, die Landwirtschaft war in diesem Teil des Landes wenig ersprießlich. Auf den Straßen begegnete einem den ganzen Tag kaum eine Menschenseele.

Guntrol seufzte und setzte sich am Wegesrand unter einen Baum. Er lehnte seinen Rücken gegen die rauhe Borke des Stammes. Wieso, fragte er sich, war er bloß so geizig gewesen, sich nicht eine gute Landkarte zu kaufen? Aber er war der irrigen Annahme verfallen, daß, wenn er immer auf der Hauptstraße bleibe, er nicht in die Irre gehen könne. Welch ein Irrtum! Tatsächlich hatte er schon seit zwei Tagen keine Ahnung, wo er sich genau befand. Traf er, was selten der Fall war, mal einen Menschen auf der Straße, so erhielt er, je nachdem, wen er fragte, eine andere Auskunft. Es schien ihm fast, als kennten sich nicht einmal die Einheimischen hier aus. Zuletzt hatte er eine ‚Abkürzung’ genommen, die ihm einer wärmstens empfohlen hatte, um dem gefürchteten Monsterwald auszuweichen. Natürlich hatte Guntrol keine Angst vor Ungeheuern – er glaubte nicht einmal wirklich an deren Existenz – und für Notfälle hing sein Handbeil stets griffbereit an seinem Gürtel, doch wozu ein Risiko eingehen? Die Einheimischen hatten bestimmt einen triftigen Grund, jenen Wald zu meiden. Allein im finsteren Wald konnte ein einsamer Wanderer sich leicht verlaufen oder Opfer einer Räuberbande werden. Zwar gab es bei ihm nichts zu rauben. Doch was half ihm das, wenn er zuerst ermordet und erst danach beraubt würde?

Guntrol nahm einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche. Es war lauwarm und schmeckte schal. Betrübt betrachtete er die kümmerlichen Reste seines Proviants: ein Stück Brot, ein Zipfel Rauchwurst und zwei Äpfel waren alles, was er noch in seinem Brotbeutel vorfand. Er nahm einen Apfel heraus und biß hinein. Er schmeckte süß und saftig und erinnerte ihn an Zuhause. Der Apfel stammte von dem großen alten Apfelbaum, der hinter seinem Elternhaus wuchs.

Während er aß, betrachtete er die Umgebung. Die Landstraße führte mitten durch eine trockene, ebene Heidelandschaft, welche nur durch vereinzelte Gruppen von Buschwerk und kleineren Bäumen unterbrochen wurde. In der Ferne erhoben sich einige Hügel; der Horizont wurde von dunklen bewaldeten Berghängen begrenzt. Eigentlich sollte er nicht in Richtung der Berge gehen, sondern sich am Fluß orientieren, aber dieser war leider nirgends auszumachen. Guntrol fürchtete, daß er mindestens eine Tagesreise von seinem Weg abgekommen war. Er warf den Apfelstiel weg und trank noch einen Schluck Wasser. Dann machte er sich wieder auf den Weg.

Nach ungefähr zwei Stunden – es mochte inzwischen gegen sieben Uhr sein – gelangte er in ein winziges Dorf. Es war nicht mehr, als ein Dutzend Häuser und Bauernhöfe, welche entlang der Straße lagen. Der Ort machte einen öden und beinahe verwaisten Eindruck. Doch der Anschein täuschte, denn beim Herannahen gewahrte er einige alte Leute, die vor ihren Häusern auf Bänken oder Stühlen saßen und die letzten wärmenden Strahlen der Abendsonne genossen. Ein paar Köter fingen laut zu kläffen an und kündigten die Ankunft des Wanderers an.

Guntrol sprach den ersten an, den er traf: »Grüß Euch wohl! Wißt Ihr vielleicht eine Herberge für einen Handwerksburschen auf Wanderschaft?«

Der Alte sah ihn verwundert an und rieb sich die rote Nase mit dem Stiel seiner Pfeife. »Eh nun", sagte er. "Das ist ungewöhnlich, daß sich ein Fremder zu uns verirrt. Am Ende des Dorfes, ein Stück weit die Straße runter findet Ihr eine Schenke. Dort werdet ihr ein wohlfeiles Quartier für die Nacht finden. Aber wo wollt Ihr hin? Hier gibt es weit und breit keine Zimmerei.«

»Ich glaube, ich bin vom Weg abgekommen. Eigentlich wollte ich auf die Straße nach Narbon.«

»Da seid Ihr aber in die verkehrte Richtung gegangen. Diese Straße führt Euch geradewegs in den Monsterwald. Den solltet Ihr unbedingt meiden, wenn Euch Euer Leben lieb ist. Erst recht zur Nacht und ganz allein. Schon manche sind am hellichten Tage hinein gegangen und nimmermehr heraus gekommen. Kehrt lieber um und geht zurück nach Brünnau. Dort zweigt die Straße nach Westen ab.«

Guntrol bedankte sich höflich, für die Auskunft und ging weiter in Richtung der Dorfschenke. Aus den Augenwinkel konnte er sehen, daß seine Ankunft nicht unbemerkt geblieben war. Eine Schar Kinder beäugte ihn durch die Gartenhecke und hinter mehr als einem Fenster konnte er einen neugierigen Schatten ausmachen. Es hatte den Anschein als verirrte sich tatsächlich so gut wie nie ein Fremder in dieses Dorf.

Die Dorfschenke lag etwas abseits an einem Bach. Es war ein zweigeschossiges Fachwerkhaus, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vom Wind und dem Alter ein wenig gebeugt, stand es schief und verwittert in der Landschaft. Das Fachwerk war von solider alter Handwerksarbeit; das erkannte Guntrol auf den ersten Blick. Doch viele Jahre der Vernachlässigung hatten ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Die Balken waren rissig und von der Sonne grau gebleicht. Der Verputz hatte Furchen und die Tünche war schon seit längerem nicht mehr erneuert worden. Trotz dieser offensichtlichen Mängel war das Gebäude aber noch immer solide und bot seinen Bewohnern guten Schutz vor Wind und Wetter.

Als Guntrol durch das offene Gatter des ebenfalls in die Jahre gekommenen Gartenzaunes trat, erkannte er die über dem Türstock eingeritzte Jahreszahl. Das Haus war mehr als hundertzwanzig Jahre alt. Auf dieses Alter hätte er es auch ungefähr geschätzt. Die Art, wie die Querstreben mit den Längsträgern verbunden waren, wurde heute nur noch selten angewendet.

Über dem Eingang hing ein bunt bemaltes Holzschild, das in der Luft sachte hin und her schwang. Zum Lustigen Waldschrat stand in roten Buchstaben darauf. Guntrol betrat die Gaststube durch eine dicke, schwere, von Sonne und Regen ausgebleichte Eichentür. In der niedrigen Stube standen ein paar einfache Tische und Holzbänke. An den Wänden hingen Hirschgeweihe, Auf einem langen schmalen Brett standen Zinnkrüge und anderer Zierrat, wie man ihn in Dorfschenken allenthalben vorzufinden pflegte. Viel Kundschaft war nicht da. In einer Ecke saßen drei Bauern beim Bier und unterhielten sich leise. Ihre Unterhaltung verstummte jedoch abrupt, als sie den Neuankömmling bemerkten. Sie drehten sich um und musterten ihn unverhohlen von oben bis unten.

»Grüß Gott!« sagte Guntrol laut. Die Männer erwiderten den Gruß und wandten sich wieder ihrem Gespräch zu. Aus einem Nebenraum erschien eine Frau mittleren Alters. Sie trug ein einfaches braunes Kleid und eine weiße, etwas fleckige Schürze. Ihr ergrautes Haar trug sie zu einem Knoten hochgesteckt.

»Guten Tag, Fremder!« sagte sie. »Was darf es sein?«

»Ich suche ein Nachtlager und eine Kleinigkeit zum Essen.«

»Das sollt Ihr bekommen. Setzt Euch dort hin. Ich will euch gleich die Kammer richten. Ein besonderes Mahl kann ich Euch leider nicht bieten. Aber wenn Ihr eine gute Fleischbrühe, Wurst und Käse nicht verachtet, will ich Euch gleich auftischen.«

 

»Ja, das soll mir recht sein. Aber zuerst bringt mir bitte ein kühles Bier. Meine Kehle ist ganz ausgedörrt vom Staub der Landstraße«, sagte Guntrol und ließ sich auf die Bank fallen. Er legte seinen Rucksack und den Brotbeutel auf den Boden neben die Bank.

»Das kann ich gut verstehen«, meinte die Wirtin. Sie zapfte einen irdenen Maßkrug frischen Bieres aus dem großen Faß, das hinter dem Schanktisch in der Ecke stand und brachte es Guntrol an den Tisch. »Ich bringe Euch gleich Euer Essen.«

»Ist recht. Ihr braucht Euch nicht zu beeilen. Fürs erste will ich mich daran laben«, sagte Guntrol und schlürfte den Schaum von seinem Bier. Es war frisch und kühl und schmeckte ausgezeichnet. Nach dem langen Fußmarsch war es eine wahre Labsal, seine Kehle damit zu befeuchten. Mit einem tiefen Seufzer stellte Guntrol den Krug ab, wischte sich den Schaum vom Mund und streckte seine müden Beine aus.

»Ihr kommt wohl von weit her?« fragte einer der Bauern am Nebentisch.

»Jawohl, aus dem Apfelland, unten am Sternsee.«

»Das ist ein weiter Weg«, meinte der andere. »Ihr seid sicher auf der Wanderschaft, das sieht man gleich an Eurer Tracht. Aber was führt Euch in unsere einsame Gegend. Hier findet Ihr bestimmt keine Arbeit. Doch wollt Ihr Euch nicht ein wenig zu uns setzen?«

Guntrol nahm das freundliche Angebot dankend an und setzte sich mit seinem Krug zu den dreien an den Tisch. Es währte nicht lange und sie waren in ein Gespräch vertieft. Guntrol berichtete von seinen Plänen. Die Bauern waren begierig, Neuigkeiten aus dem Apfelland zu erfahren. Da so selten Fremde in ihr Dorf kamen und sie außer an Markttagen oder wenn ein Volksfest in der nächsten Stadt abgehalten wurde, nicht von ihren Höfen fortgingen, waren sie an Nachrichten und Neuigkeiten aus dem Rest der Welt sehr interessiert. Guntrol berichtete bereitwillig alles, was er wußte und was er auf seiner Wanderschaft erfahren hatte. Derweil brachte die Wirtin das Essen. Guntrol mußte seine Erzählung unterbrechen. Er war schon den ganzen Tag mit leerem Magen herumgelaufen, doch jetzt, da ihm der Duft der heißen Fleischsuppe in die Nase stieg, merkte er erst, wie hungrig er wirklich war.

Nachdem er sich gesättigt hatte, lehnte er sich müde und zufrieden zurück. Die Wirtin war inzwischen nach oben gegangen, um die Schlafkammer zu richten. »Ich habe Euch die kleine Kammer hinten links am Ende des Ganges gemacht«, sagte sie, als sie zurückkehrte.

Die drei Bauern bezahlten ihre Zeche und verabschiedeten sich. Draußen wurde es schon dämmrig. »Ja, der Tag ist nun auch vorüber«, sagte die Wirtin erleichtert während sie die leeren Bierkrüge einsammelte. »Bald muß mein Mann nach Hause kommen. Er war heute in der Stadt und hat Braugerste gekauft. Hoffentlich schafft er es noch vor Einbruch der Nacht nach Hause. Ich habe immer ein ungutes Gefühl, wenn er Nachts auf der Straße ist. Die Zeiten sind nicht mehr wie früher.« Mit ‚Stadt’ meinte sie einen ungefähr zwanzig Kilometer entfernten Marktflecken, an dem Guntrol am Vormittag vorbeigekommen war.

»Wollt Ihr noch ein Bier?« fragte die Wirtin.

»Nein, danke. Ich denke, ich gehe gleich schlafen.«

»Ja, Ihr seht wirklich müde aus. Ihr könnt Euch hinter dem Haus am Brunnen waschen. Wir haben eine eigene Quelle. Ich kann Euch auch etwas Wasser heiß machen.«

»Habt Dank, das ist sehr freundlich«, sagte Guntrol und packte seine Sachen zusammen. Kaum hatte er sich von der Bank erhoben, war draußen auf der Straße ein Lärmen zu vernehmen. Es war das Geräusch eines schweren Wagens und das Klappern von Pferdehufen.

»Das wird mein Mann sein«, sagte die Wirtin erleichtert. »Aber wen bringt er da mit?« Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen. Herein trat ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Seiner Kleidung nach zu schließen, handelte es sich um den Herrn des Hauses. "Grüß dich, Hemmo!" sagte die Wirtin.

»Guten Abend, Risa! Schau, ich bringe hohe Gäste mit! Hol die Magd und den Knecht. Laß den Herd anfeuern und hole den besten Wein aus dem Keller.« Er sprach laut und sichtlich aufgeregt. »Bitte, Herren! Tretet ein. Ich will Euch mit allem, was mein bescheidenes Haus zu bieten hat, zu Diensten sein. – Risa, sag der Magd, sie soll die Kammern für die Nacht richten.«

Von draußen hörte man mehrere Stimmen. Eine davon gehörte der Magd, die anderen konnte man kaum verstehen. Guntrol reckte den Kopf nach der Tür, um zu sehen, was für edle Herren zu dieser Stunde hier einzukehren beabsichtigten.

»Los, Bursche! Führe die Pferde in den Stall. Und reibe sie mir ja gründlich trocken«, rief der Wirt durch die weit offen stehende Tür. Er trat zur Seite, denn im Türrahmen erschien eine groß gewachsene Gestalt. Es war ein Ritter des Königs. Auf seinem blank polierten Brustharnisch trug er das königliche Adler-Wappen von Zerwan. Gleich nach ihm betraten zwei weitere Ritter, ebenfalls mit prächtigem Brustharnisch und dunkelgrünem Wams bekleidet, die Gaststube. In ihrem Gefolge befanden sich zwei weitere Männer: ein größerer stattlicher und ein kleinerer eher etwas schmächtigerer. Beide waren sie mit langen grauen Reisemänteln angetan. Sie hatten die Kapuzen ihrer Mäntel übergezogen, so daß Guntrol ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Der kleinere trug einen langen, mannshohen Stab, an dessen oberen Ende ein silberner Ring angebracht war. An dem Ring waren wiederum drei weitere, etwas kleinere Ringe eingefädelt, welche in der Mitte jeweils mit einer kleinen Kugel besetzt waren. Das untere Ende des Stabes war mit Eisen beschlagen. Der Stab selbst bestand aus schwarzem Holz. Das konnte nur ein Schamane oder Magier sein, dachte Guntrol verwundert. Was hatte ein heiliger Mann mit Rittern des Königs in einer abgelegenen Dorfschenke zu schaffen? Der andere Kapuzenmann war kein Schamane. Er sah mehr wie ein hoher Beamter aus. Unter dem Arm trug er eine abgewetzte Ledertasche, welche mit dem Wappen der königlichen Reichskanzlei, einem schwarzen gekrönten Adler auf goldenem Grund, sowie drei roten Sternen, verziert war. An der rechten Hand blitzte ein goldener Siegelring auf. Ohne Zweifel handelte es sich hierbei um einen königlichen Herold. Guntrol staunte nicht schlecht beim Anblick dieser hochkarätigen Reisegesellschaft. Ein Herold, ein Magier und gleich drei Ritter als Eskorte.

Die Ritter schauten sich prüfend in der Gaststube um. Guntrol sah sich von scharfen Blicken gemustert. Der erste Ritter begab sich sogleich zum Hinterausgang, der andere warf einen Blick in die Küche und der dritte stieg die Treppe zum Obergeschoß hinauf. Hemmo, der Wirt war ganz aufgeregt. Er lief hin und her, brachte Lampen, trug Weinkelche herbei, wischte Tisch und Stühle ab. Dabei gab er unablässig Anweisungen an seine Frau und die Magd.

»Bitte sehr, Edle Herrschaften! Nehmt Platz.« Ich will Euch gleich einschenken. Meine Frau wird Euch etwas zu essen bringen. Leider sind wir auf so hohe Gäste nicht eingerichtet, und noch dazu zu solch später Stunde. Aber eine gute heiße Suppe und Schinken und Käse sollt Ihr haben. Oder möchtet Ihr lieber einen Eierkuchen?«

»Bemüht Euch nicht weiter, Herr Wirt!« sagte der Herold. Er hatte eine leise Stimme, doch seine Aussprache war klar und präzise. »Wir brauchen nur ein Lager für die Nacht und ein einfaches Mahl. Morgen werden wir in aller Frühe weiter reisen.«

Die drei Ritter kehrten fast gleichzeitig von ihrer Inspektion zurück. »Alles in Ordnung«, sagte der Anführer leise. »Wie viele Personen gehören zu Eurer Wirtschaft?« fragte er den Wirt. Dieser machte ein leicht verlegenes Gesicht und antwortete: »Wir haben nicht viele Gäste hier. Zur Zeit sind meine Frau und ich allein, außerdem haben wir noch die Magd und einen Knecht, der den Stall versorgt und die grobe Arbeit verrichtet. Wir haben auch einen Sohn, aber der ist mit unserem Vieh auf den Markt in die Stadt gefahren. Wir erwarten ihn erst in ein oder zwei Tagen zurück.«

»Das ist gut so. Schlafen der Knecht und die Magd auch hier im Haus?«

»Ja, sie haben ihre Kammern ganz oben unter dem Dach.«

»Gut. Heute Nacht soll keiner das Haus verlassen. Und niemand soll etwas von unserer Anwesenheit hier erfahren. Wir sind im Auftrag der Regierung unterwegs. Habt ihr verstanden?« Der Wirt nickte ehrfürchtig. Der Ritter setzte sich auf einen Schemel und sah zu Guntrol herüber. »Wer ist das?«

»Nur ein reisender Handwerksgeselle.« Die Wirtin, die gerade die Treppe herunter kam, unterbrach ihn: »Was soll ich machen? Wir haben doch nur drei Kammern. Und in der dritten schläft bereits der junge Mann.« Der Wirt machte ein säuerliches Gesicht und kratzte sich am Kopf. »Ei, was machen wir da?«

»Das ist kein Problem. Es macht mir nichts aus, das Zimmer mit dem Burschen zu teilen«, sagte der Schamane, der bislang schweigend neben der Tür im Schatten gestanden war. Guntrol konnte sein Gesicht nicht erkennen, da er den Kopf zur Seite gewandt hielt und das Gesicht obendrein durch die Kapuze des Mantels verhüllt wurde. Unter dem offenen Mantel trug der Mann ein langes blaues Gewand und darüber eine gelbe Weste, die mit allerlei magischen Symbolen und Schriftzeichen bestickt war. Außer dem Stab trug er einen Beutel und eine Reisetasche an einem ledernen Schulterriemen. Ein kleines Ledersäckchen, ähnlich einem Geldbeutel, hing an seinem Gürtel, ebenso wie ein kleines Messer mit Hirschhorngriff in einer Lederscheide.

Irgendwie kam ihm der Mann bekannt vor, was eigentlich nicht sein konnte. Vielleicht war es seine Stimme, die ihn unbewußt an jemanden aus seiner Heimat erinnerte. Doch im Augenblick konnte er sie keiner ihm bekannten Person zuordnen.

Der Wirt warf stumm einen fragenden Blick auf Guntrol. Dieser nickte und sagte: »Mir soll es recht sein. Mit einem Heiligen Mann im Zimmer und königlichen Rittern unter einem Dach fühle ich mich sicher und geborgen, wie sonst nicht.«

Der erste Ritter – er war ein wenig älter als die anderen beiden und schien der Anführer der Truppe zu sein – trat zu dem Schamanen und sprach ihm flüsternd einige Worte ins Ohr. Der andere nickte schweigend.

»Nun, Ihr seid bestimmt müde von eurer Reise und wollt Euch zur Ruhe begeben«, sagte der erste Ritter; und das war nicht als Frage ausgesprochen. Guntrol nickte stumm. Was hätte er auch einem Ritter des Königs entgegnen sollen? Er nahm seine Sachen und ging zur Treppe. Bevor er die Schankstube verließ, verbeugte er sich ehrerbietig vor dem Herold.

In der kleinen Schlafkammer, die ganz am Ende des Ganges lag, brannte bereits eine kleine Öllampe. Sie stand auf einem niedrigen Tisch vor dem Fenster und tauchte den Raum in ein mildes gelbliches Licht. Außer dem kleinen Tisch befanden sich zwei einfache schmale Betten, nebst Nachtkästlein, sowie zwei schlichte Stühle mit gerader Rückenlehne als einzige Möblierung in dem Raum. Die Betten waren frisch bezogen und aufgedeckt. Sie sahen sauber und einladend aus.

Guntrol setzte sich auf das Bett, das in der Nähe des Fensters stand. Es war angenehm weich, viel weicher, als er es erwartet hatte und es für einen billigen Dorfgasthof wie diesen üblich war. Er schnürte seinen Rucksack auf und holte sein Waschzeug hervor. Von dem versprochenen warmen Wasser war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte die Wirtin es in dem Trubel vergessen. So würde er sich eben im Hof mit kaltem Wasser aus der Quelle waschen müssen. Doch das war er gewöhnt.

Die Sonne war inzwischen ganz untergegangen, aber es war noch nicht ganz dunkel geworden; noch glühte ein blasser Schimmer am Himmel. Guntrol nahm die schmale Holzstiege, die am Ende des Ganges hinunter führte. Sie endete in einem kleinen Gang zwischen Küche und Gaststube. Gegenüber der Küche lag die Wohnstube der Wirtsleute, daneben befand sich die Hintertür zum Hof. Die Tür zur Gaststube war nur angelehnt. Durch den Spalt fiel ein Streifen Licht auf den Gang. Guntrol blieb einen Augenblick davor stehen. Er vernahm einige gedämpfte Stimmen, konnte aber nicht verstehen, was drinnen gesprochen wurde. Das leise Klappern von Besteck und Geschirr verriet ihm jedoch, daß die Herrschaften gerade ihr Abendbrot einnahmen.

Auf einmal wurde unversehens die Küchentür aufgestoßen. Guntrol sprang erschrocken zur Seite. Beinahe wäre die Wirtin in ihn hinein gelaufen. Sie trug ein großes Tablett, auf dem dicke Scheiben von saftigem Schinken, Speck und verschiedenen Sorten Käse angerichtet waren. »Wah! Ihr habt mich vielleicht erschreckt!« rief sie.

»Entschuldigt, ich wollte mich gerade auf dem Hof waschen gehen.«

»Ach so. Ich habe auf dem Herd einen großen Kessel mit kochendem Wasser stehen. Ihr könnt Euch gerne davon nehmen, wenn es Euch nichts ausmacht, Euch selbst zu behelfen. Aber ich habe gerade mit den Herrschaften zu tun.«

 

»Kümmert Euch nicht um mich. Ich komme schon zurecht«, meinte Guntrol. Er nahm sich einen Eimer und betrat die Küche. Auf einem großen gußeisernen Herd, größer als er je einen gesehen hatte – was nichts heißen mochte, denn in viele Küchen hatte er zuvor nicht hinein geschaut – stand ein großer Topf. Guntrol schöpfte etwas von dem brodelnden Wasser in seinen Eimer. Dann ging er hinaus auf den Hof, wo er Brunnenwasser hinzu fügte, bis sich eine angenehme Temperatur einstellte. Mit dem warmen Wasser wusch er sich und putzte die Zähne.

Während er sich abtrocknete, durchzuckte ihn auf einmal ein Gedanke. »Lagrange!« sagte er halblaut zu sich.

»Du hast mich also erkannt«, sagte eine Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum. In der Tür stand der Schamane, der kein anderer war, als Lagrange, Guntrols Freund und Spielgefährte aus Kindertagen.

»Mensch, dich hätte ich wirklich nicht erkannt. Schon gar nicht in dieser Verkleidung«, rief Guntrol.

»Das ist keine Verkleidung«, erwiderte Lagrange sanft.

»Du… du bist also wirklich ein Zauberer geworden?« Guntrol runzelte die Stirn. »Erinnerst du dich noch, wie wir damals gewerweißt haben, ob du vielleicht ein Lehrer oder ein Magier werden würdest?«

»Ja, das ist so lange her. Und du wolltest entweder ein Ritter oder ein Seefahrer werden. Und wie ich sehe, bist du keines von beiden, sondern ein biederer, ehrlicher Zimmermann geworden. »Komm, laß uns reingehen und zusammen etwas trinken. Wir haben so viel zu bereden«, schlug Guntrol vor. Lagrange aber schüttelte den Kopf. »Nein, gehen wir lieber hinauf. Da sind wir ungestört.«

»Das soll mir recht sein. Ich mag diese finster dreinschauenden Kerle dort in der Gaststube eh nicht besonders leiden. Wie kommst du überhaupt zu denen?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Lagrange. »Geh schon mal voraus. Ich will uns einen Schlummertrunk besorgen.«

Wenig später saßen sie im Schein der Ölfunzel und Lagranges Kerze, die er mit einem Krug Wein und zwei Bechern herauf gebracht hatte, auf ihrem Zimmer. »Laß uns auf die guten alten Zeiten anstoßen«, schlug Guntrol vor und erhob seinen Becher.

»Auf die alten Zeiten und die Zukunft«, sagte Lagrange und stieß seinen Becher gegen Guntrols. Das Steingut erzeugte keinen schönen Klang, doch die wenigen guten Zinnbecher waren den vornehmeren Gästen vorbehalten.

»Ja, das sind jetzt gute fünf Jahre, daß du unser schönes Apfelland verlassen hast«, sagte Guntrol. »Wohin hat es dich verschlagen?«

»Ich zog mit den Eltern nach Lorstadt. Dort habe ich die Schule besucht. Dann traf ich Meister Pardieu. Er hielt ein paar Vorträge an der Schule, die er einst selbst besucht hatte. Da wurde mir klar, was meine Bestimmung sei. Es gelang mir, sein Schüler zu werden. Es vergingen drei harte, aber wunderbare Lehrjahre. Vor sieben Monaten habe ich schließlich die erste Weihe erhalten. Eigentlich sollte ich in diesem Sommer die zweite empfangen, aber dann…« er brach ab.

»Was ist passiert?«

»Der Meister ist verschwunden.«

»Was heißt verschwunden?«

»Er begab sich, wie es seine Angewohnheit ist, zur Meditation auf den Krawang. Das ist ein kleiner Berg, eigentlich mehr ein Hügel, ganz in der Nähe des Klosters. Doch von dort kehrte er nicht wieder. Wir machten uns alle große Sorgen. Trotz einer groß angelegten Suche, an der sich sämtliche Schüler und Brüder seines Ordens beteiligten, gelang es nicht, auch nur die kleinste Spur von ihm zu finden. Die Gegend ist ziemlich übersichtlich. Es gibt keine wilden Tiere, keine Räuberbanden oder andere Gefahren. Abgesehen davon würde sich doch keiner an einem Magier vergreifen. Wir haben alle Leute, alle Bauern auf den umliegenden Höfen, überhaupt jeden in der Umgebung gefragt, doch keiner hat den Meister gesehen, oder irgend eine verdächtige Beobachtung gemacht.«

»Das ist ja schrecklich!«

»Es ist, als habe der Erdboden den Meister verschluckt. Und das brachte mich zu der Erkenntnis, daß er absichtlich verschwunden sein muß. Er mußte einen triftigen Grund haben, plötzlich und ohne Vorwarnung von der Bildfläche zu verschwinden. Ich blieb noch rund drei Monate im Kloster, weil ich hoffte, der Meister würde heimkehren und alles aufklären, sobald er seine Geschäfte besorgt hätte. Doch bis zum heutigen Tage habe ich ihn nimmermehr gesehen, noch eine Nachricht von ihm erhalten. Also beschloß ich, mich selbst auf die Suche zu machen.« Lagrange machte ein bekümmertes Gesicht und nahm einen großen Schluck aus seinem Becher.

»Das ist vielleicht eine rätselhafte Geschichte«, sagte Guntrol. »Ist Pardieu nicht einer der legendären Magier, die zum Rat der Weisen gehören?«

»Woher weißt du das?« staunte Lagrange. »Du hast recht. Doch auch auf Seiten der Regierung weiß keiner etwas über seinen Verbleib. Selbst der König ist in großer Sorge. Jedoch… Ich weiß nicht, wie es sagen soll. Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, als wüßten sie dort etwas, daß sie uns nicht sagen wollten.«

»Und die Regierungsleute dort unten?« Guntrol deutete mit dem Kopf in Richtung Tür.

»Die haben mich vor fünf Tagen engagiert, sie auf einer Reise in die Hauptstadt zu begleiten.« Lagrange wog seinen Kopf bedächtig hin und her. »Ich darf eigentlich nicht darüber sprechen. Doch ich will dir das Geheimnis anvertrauen: Die haben etwas in ihrem Besitz, das sehr kostbar sein muß, und vor dem sie zugleich eine Wahnsinnsangst haben.«

»Was denn?«

»Das haben sie mir nicht gesagt. Man sollte doch eigentlich annehmen, daß ein königlicher Herold und drei erfahrene Ritter der Leibgarde vor gar nichts Angst hätten, schon gar nicht in einer so friedlichen Gegend wie dieser. Aber ich kann die Sorge in ihren Gesichtern lesen.«

»So sicher scheint mir die Gegend hier aber nicht zu sein«, sagte Guntrol. »Hast du nichts von dem berüchtigten Monsterwald gehört, der sich nur wenige Meilen von hier erstreckt?«

»Mein lieber Guntrol, es gibt Gefahren, die sind viel schrecklicher als jedes Ungeheuer«, sagte Lagrange und runzelte die Stirn. »Aber sag mal, was führt dich in dieses Dorf?«

»Ich bin ebenfalls auf dem Weg in die Hauptstadt. Ich suche dort eine Anstellung beim Brückenbau. Aber leider habe ich mich ein wenig… äh… verlaufen«, sagte er leise. Lagrange lachte und sprach: »Du bist also Zimmermann geworden, wie dein Großvater. Geschickt im Basteln warst du schon immer gewesen. Ich weiß noch, wie du deinem Vater geholfen hast, ein Baumhaus für die Jungs vom Mühlenbach zu bauen. Am Ende hast du es fast ganz allein gebaut. Wie geht es deinem Vater?«

»Er ist vor zwei Jahren gestorben. Beim Holzfällen, brach ein Ast ab und hat ihn erschlagen«, sagte Guntrol leise.

»Das tut mir leid, Guntrol«, sagte Lagrange betroffen.

»Ich wollte eigentlich zu Hause bei der Mutter bleiben, aber sie bestand darauf, daß ich ein Handwerk erlerne und in die Welt hinaus gehe. Der Onkel kümmert sich ein bißchen um sie und den Hof. Außerdem hat sie noch Gunni. Der ist inzwischen ziemlich groß geworden.«

»Dein kleiner Bruder, der immer so blaß und schmächtig war? Und der dir immer hinterher gelaufen ist? Das ging dir gewaltig auf die Nerven.«

Guntrol seufzte leise. »Heute tut es mir leid, daß ich nicht netter zu ihm gewesen war. Aber inzwischen ist er fast größer als ich. Am Ende wird er mich bestimmt um mindestens zwei Zoll überrunden.«

»Du vermißt ihn und dein Zuhause, nicht?«

»Ach was! Ich bin doch erst ein paar Tage weg«, brummte Guntrol verdrießlich. Doch Lagrage hatte natürlich voll ins Schwarze getroffen. Ja, er vermißte sein Zuhause schon nach nur einer Woche. Ausgerechnet er, der immer von Abenteuern in der Ferne geträumt hatte, der die Enge und Beschaulichkeit des Apfellandes gegen die Weite Welt hatte tauschen wollen. Er wollte dorthin, wo die Geschichten spielten, denen er schon als kleiner Junge am Feuer gelauscht hatte, wenn die Erwachsenen sich unterhielten oder wenn fahrende Händler von den Wundern ferner Länder berichteten.