SHOCK STORIES

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Aus der Reihe: SHOCK STORIES #1
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SHOCK STORIES
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O. J. Brooks

SHOCK STORIES

Originelle Kurzgeschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Get shocked!

Cecstasy

Aristolia

The Unleaked

Happy William

Der Wintertroll

Kajaltränen

Funtasia

Ihr eigenes Fleisch und Blut

Das Vermächtnis der Sally S.

Impressum neobooks

Get shocked!

Man schaffe dystopische Welten, unerwartete sowie teilweise horrorartige Twists, vermenge dies mit nervenaufreibender Spannung und füge ein kleinen Hasslöffel Gesellschaftskritik hinzu und fertig sind unterhaltsame SHOCK STORIES. Dieses Sammelwerk enthält neun verschiedene Kurzgeschichten, von denen einige (wie Cecstasy, Aristolia, The Unleaked, Kajaltränen) sogar bereits preisgekürt und veröffentlicht wurden. Zusätzlich gibt es brandneue Stories (Happy William, Funtasia), die nun auf die Menschheit losgelassen werden. Worum geht es genau?

Wann werden neue Technologien eigentlich zur Gefahr und bis wann können wir sie noch beherrschen? Was ist Wahrheit und was Fake? Was machen wir, wenn Fakten und Vorstellungen sich vermischen? Gibt es daraus einen Ausweg?

Mit all diesen Fragen beschäftigt sich Autor O. J. Brooks. Dem Leser bleibt der Trost, dass es sich bei den meisten Geschichten um Science-Fiction- oder Horrorerzählungen handelt und unsere Realität nicht derartig schockierend ist. Oder etwa doch?

Cecstasy

Eine Symbiose aus Angst und Unsterblichkeit elektrisierte jede Pore in Ecos Körper.

„Geil! Hammer!“

So kommentierte er dieses besondere Gefühl, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Sein Weg bis an die Spitze war mühsam gewesen. Eco blickte in den Himmel. Das gleißende Licht der Sonne blendete seine weit geöffneten Pupillen.

Zögerlich trat er mit dem rechten Fuß nach vorne. Er atmete tief ein, ehe er sich traute, den linken nachzuziehen.

Nun stand er an der Stelle, an die sich keiner vor ihm hin getraut hatte. Vorsichtig blickte er nach unten.

Staub. Dreck. Angst. Endlichkeit. Erkenntnisse. All das lag direkt unter ihm.

Für einen langen Moment verloren Ecos Augen sich in der Tiefe des Abgrundes. Sein Herz feuerte so stark, dass die Salven im Hintergrund gänzlich in seiner Wahrnehmung verstummten.

Er spürte den frischen Wind, der seine Haare zum Wehen brachte. Dabei hatte er sich vor einer Woche den Kopf kahlgeschoren. Doch diesen Systemfehler ignorierte Eco gekonnt. Er versuchte, den besonderen Moment zu genießen und atmete tief ein.

Kein Basejump und kein Kunstflug konnten damit konkurrieren. Eco erinnerte sich, wie er einen Tag zuvor in einer noch größeren Höhe auf den Burj Khalifa geklettert war und wie er auf dessen Spitze aus dem Stand einen Salto gemacht hatte. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre in die Tiefe gestürzt.

Er war der Erste. Keinem anderen zuvor war dieses Kunststück gelungen. Alle bewunderten Eco dafür. Das war sein Antrieb. Fame. Dieses Gefühl etwas in dieser Welt darzustellen, eine Bedeutung zu haben. Doch diese Anerkennung war schnell wieder verbraucht. Eco brauchte den nächsten Kick. Es musste mehr sein. Es muss immer mehr sein. Aber das hier, das war noch gewaltiger. Die eine Stufe, die über allem stand. Als Eco seinen Selfie-Stick zückte und sich selbst sowie das Panorama des völlig zerbombten Homs im Hintergrund filmte, detonierte etwas unmittelbar unterhalb des zerstörten Hochhauses, auf dem er sich befand. Eco schrie. Der Lärm war ohrenbetäubend. Plötzlich merkte Eco, wie der Boden unter seinen Füßen Stück für Stück zerbrach. Er blickte sich um. Verschwommen hörte er die Schreie der letzten Zivilisten der Stadt.

Sein Herz raste immer mehr. Der Grund auf dem er stand, krachte zusammen. Mit letzter Kraft hielt er sich an einem abgerissenen Stromkabel fest. Er blickte nach unten. Menschen schrien um Hilfe. Kinder suchten ihre Eltern. Soldaten starben.

***

Für Eco aber war alles nur ein Spiel, nicht real. Schlimme Konsequenzen befürchtete er nicht. Gerade als er sich wieder nach oben gezogen hatte, schlug eine Tomahawk-Rakete in das unterste Stockwerk des Hochhauses ein.

„Mist. Game over. Aber krasse Grafik… Das ist also Krieg“, dachte sich Eco.

„Nochmal!“, rief er, während er mit einem Lächeln auf seinen Lippen in die Tiefe stürzte.

***

Nervös zog Hauptkommissar Legrand an seiner E-Zigarre, während eine kleine schwarze Entertainmentbox der Firma Mississippi die Erlebnisse sowie das verschriftlichte Gefühlsprotokoll von Eco1994 aus dem Kriegssimulationsspiel an die Beamerwand projizierte.

Legrand hatte erst vor zwei Tagen seinen neuen Job im Pariser Kommissariat begonnen und schien mit der Situation leicht überfordert.

„O.K. Das reicht. Wir müssen dich leider mitnehmen, Alessia. Du bist unsere Blackbox. Schließlich warst du mit dem Opfer online verbunden“, sagte Legrands Assistent Ben Ahmid zu der weiblichen Computerstimme, die sich unmittelbar nach dieser Aussage sofort selbst deaktivierte und herunterfuhr.

„Hallo? Alessia? Hallo?!“ Ben Ahmid brüllte vor Wut. „Verdammter Mist!“

„Leute, die nehmen wir mit ins technische Labor. Wir müssen wissen, was mit dem Teilnehmer hier passiert ist und wer ihm das Spiel verkauft…“, sagte Legrand.

Der anwesende Gerichtsmediziner unterbrach ihn plötzlich.

„Herr Legrand, schauen Sie hier. Ich kenne die Ursache: Exitus durch unumkehrbaren Hirnfunktionsausfall. Schuld ist nicht das illegale Spiel mit dem Namen Homs, sondern eher dieser primitiv verarbeitete Plagiat-Chip hier. Made in China, wie ich es vermutet hatte. Dieses Teil hatte einen Kurzschluss und hat die Synapsen von unserem Spieler Eco1994 im wahrsten Sinne des Wortes durchbrennen lassen.“ Der Gerichtsmediziner betrachtete den Chip in seinen Händen näher. „Das ist schon das dritte Todesopfer durch Cecstasy in diesem Monat“.

„Cecstasy?“, fragte Legrand.

„Das ist die Kurzform von Cyber Ecstasy. So heißt dieser neue illegale Chip. Die Konsumenten suchen den ultimativen virtuellen Nervenkitzel. Und durch effektive Hirnstimuli können sie durch das Programm in jede Welt hinein transportiert werden. Es fühlt sich an, als erlebten sie ihre Abenteuer in der Realität. Das ist der neueste Kick. Bunte Pillchen braucht man dafür nicht mehr, nur eine VR-Brille. Und die Chips werden direkt in das Gehirn eingepflanzt. Bei gut gemachten Produkten kann man im Spiel auch problemlos sterben und überlebt trotzdem in der Realität. Und das ohne jegliche Verletzung, aber wehe, der Chip ist dilettantisch konstruiert wie dieser hier…“, erklärte Ben Ahmid.

„Und wie lange ist Cecstasy schon im Umlauf?“, fragte Legrand.

„Erst seit wenigen Monaten. Es hat harmlos angefangen. Bungee-Sprünge, die ersten aufregenden Sexerlebnisse, eine exzessive Koksnacht. Jede Form von Ekstase konnte von den Usern heruntergeladen werden, sobald sie sich schon einen Chip haben einpflanzen lassen. Aber mittlerweile werden durch Cecstasy auch verbotene Kriegsspiele detailecht simuliert. Das Opfer letzte Woche wurde von einem SS-Soldaten per Kopfschuss niedergestreckt. Auch da ist wieder ein Chip durchgebrannt. Fast das identische Muster; nur war das Opfer dort gerade mal vierzehn Jahre alt“, erklärte Ben Ahmid.

„Echt pervers und geschmacklos…“, kommentierte Legrand. „Und Eco stand wohl auf modernere Kriegsware.“

„So sieht’s aus. Und er passt genau ins Kundenschema“, ergänzte Ben Ahmid.

„Ich sehe es“, sagte Kommissar Legrand, während er sich den leblosen Körper des jungen Mannes mit den kahlgeschorenen Haaren anschaute. Eine VR-Brille verdeckte sein Gesicht.

„Stark übergewichtig, unsportlich, alleinlebend und eigentlich bemitleidenswert“, ergänzte er.

„Leider konnte er sich wohl nur dieses Billigzeug und die OP leisten... Dabei gehörte er online zu den besten Spielern mit vielen realen Fans, auch wenn durch seinen Spielavatar wohl keiner wusste, wie unser Antoine Ecolet in Wirklichkeit aussah“, erwiderte Ben Ahmid.

Danach zeigte Ben Ahmid ein Foto des 14-jährigen Jungen, der eine Woche zuvor verstorben war. Angewidert nahm Legrand einen Zug von seiner E-Zigarre.

„Wie teuer ist eigentlich so ein Chip? Wenn ich das hier alles sehe, könnte ich auch einen gebrauchen, um mir eine schönere Welt vorzustellen.“

ENDE

Aristolia

„Nur weil ein Mensch nichts Böses tut, muss er noch lange kein guter Mensch sein“, nuschelte Tana vor sich her, während sie auf ihrem Himmelbett lag und tief in einem Buch über die Gesetze Aristolias versunken war.

 

„Tolle Begrüßung zu meiner Rückkehr, liebste Schwester. Neunzig Tage lang haben wir uns nicht gesehen. Ich habe mich so sehr auf diesen Umzug gefreut. Es ist ja o.k., dass du mich nicht einmal herzlich begrüßt, aber wenn ich mir anhören muss, wie du dich hier gehen lässt, mach ich mir große…“

„Was soll dies bedeuten? Ich lasse mich gehen? Ist es wegen Gnagg?“, unterbrach Tana ihren Bruder.

„Ganz genau. Treibst du es etwa mit diesem Wilden?“ Gon pausierte kurz, ehe er mit schriller Stimme wild gestikulierend umhersprang. „Gnagg! Gnagg! Gnagg! Gnaaagg?! Das ist doch kein Name! Wie klingt das eigentlich?“, rief Gon lachend. Er entledigte sich seiner verschmutzten alten Jeanshose sowie seines löchrigen Kapuzenpullovers und schlüpfte in eine frische, weiße Toga.

Tana schlug ihr Buch zu.

„Achja, GON? Dein Name klingt ja um einiges ästhetischer!“, erwiderte sie, ehe sie wieder in ihren Gedanken versank.

„Haha. Sehr witzig! Frau Oberzynikerin!“

Gon ging auf seine Schwester zu und legte sich neben ihr ins Bett.

„Hey. Ich mach‘ mir doch nur Sorgen. Alle meinen, dass du beim letzten Mal nur ganz knapp hierbleiben durftest. Dich trennen nur noch wenige Dignapunkte von dem Land der Lücke. Und glaub‘ mir, ich weiß, wie hart es da ist. Eigentlich warst du doch immer die würdigste Person von allen, die hier lebt.“ Gon schaute ihr tief in die Augen. Er wirkte besorgt. „Und jetzt? Schau‘ dich doch bitte einmal an! Du rauchst und trinkst Alkohol. Und deine weiße Toga ist völlig dreckig. Das gibt Abzüge in der ersten Säule, gesunde Ernährung.“

„Du musst mir nicht die sechs großen Säulen und unser Punktesystem erklären. Ich kenne sie zur Genüge! Aber dir ist schon bewusst, dass diese Säule aus den Komponenten gesunde Ernährung UND umweltfreundlicher Nachhaltigkeit besteht, und ich die Leiterin aller vierzehn Baumschulen in ganz Aristolia bin? Es könnte also vielleicht wieder reichen.“

„Gewiss, und ich bin doch stolz auf meine große Schwester, die als einzige Person in ganz Aristolia seit der Gründung vor acht…“

„Du meinst neun!“

„Ja genau,… die als einzige Person seit der Gründung vor NEUN Jahren immer würdig genug war, um hier die Privilegien unserer Reiches auszukosten. Hey, du bist die Einzige, die so perfekt ist, so etwas zu schaffen, und die sich dann auch noch so ein doofes Datum merken kann!“

Gon sprang auf und begab sich wieder in seinen Bereich des Zimmers.

„Perfektion? Das Wort ist ein Oxymoron! Nichts ist perfekt, solange es einen Menschen in der Nähe gibt. Das ist das Problem an Aristolia!“

„Kann sein… Boah, sind die lecker! Hm. Sensationell!“, schmatzte Gon, als er seine geliebten Kaubonbons aß, die er in einer Schublade wiedergefunden hatte. „Tschuldigung, dass ich das Thema wechsele, aber du weißt nicht, wie ich diese Dinger vermisst habe! HIMBEER! Die beste Geschmacksrichtung von allen Süßigkeiten. Ein bisschen zäh, aber genial, diese Teile.“

„Ich habe seit deinem Umzug natürlich nichts entwendet, was dir gehört. Auch nicht deine geliebten Bonbons. Schließlich wäre das gegen das Gesetz. Dies würde ich bei niemandem machen.“

„Siehst du! Du kennst die Regeln doch noch!“ Gon klatschte provokativ. „Vorbildlich! Ich hätte, ganz ehrlich gesagt, bestimmt eines von dir genascht, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre“, sagte Gon mit einem Augenzwinkern.

„Aber eine Sache müsste ich dir der Korrektheit halber noch mitteilen“, sagte Tana.

„Was denn?“, fragte Gon, während er dem Rascheln der Kaubonbonverpackung lauschte. „Das ist wie Musik in meinen Ohren. Das habe ich im Land der Lücke am meisten vermisst!“

„Ich…ich habe während deiner Abwesenheit den Platz in deinem Bett verschenkt“, offenbarte Tana beiläufig und beobachtete, wie kurz danach das Kaubonbon aus Gons Mund direkt auf den Boden fiel.

„Dein Ernst? An Gnagg? An diesen wilden, stinkenden Typen verschenkst du mein Bett? Weißt du, dass sie alle sagen, dass dieser Barbar aus der Wüste seinen Vater getötet haben soll und angeblich in dessen Gedärmen in kalten Nächten übernachtet hat, nur um zu überleben!“

„Du glaubst diesen Unsinn? Dies sind Ammenmärchen. Die Leute haben, auch im ach so perfekten Aristolia, Angst vor dem Fremden. Nur offen zeigen dürfen sie es nicht, weil sie sonst keine Dignapunkte erhaschen.“ Tana wirkte nachdenklich. „Und apropos stinken, ich wüsste nicht, dass er unangenehmer riecht als du!“

„Tana, pass bloß auf! Du weißt, dass Lono von Schnauff zu einem der neuen Wächter gelost wurde, und ich weiß, dass er dich besonders gründlich überprüfen wird. Wenn du absteigst, dann hätte er mit dir gleichgezogen! Das ist sein großes Ziel!“

„Aha!“, sagte Tana desinteressiert.

„Außerdem meinen auch viele andere, dass du dem Druck nicht mehr standhalten kannst und beginnst, Fehler zu machen!“

„Wie meinst du das?“

„Na ja, du kannst nicht mehr erreichen, als niemals in das Land der Lücke geschickt worden zu sein. Du kannst nicht perfekter werden! Das demotiviert doch, oder?“

„Perfekt. Perfekt. Perfekt. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören!“

Tana stand auf und ging auf Gon zu. „Hier lies das!“, mit voller Wucht drückte sie ihm das Buch über die Gründung Aristolias in die Hand.

„Die Gründer schreiben darin, dass das Leben zyklisch ist. ZYKLISCH! Verstehst du? Ein Mensch kann gut handeln oder schlecht handeln. Handelt er schlecht, dann kommt er in das Land der Lücke. Handelt er gut, kann er wieder nach Aristolia aufsteigen! Von Perfektion steht dort NICHTS geschrieben! Auf das Gute folgt das Böse! So ist der Kreislauf, nur dass man hier aus Fehlern lernen soll.“

„Verarsch mich nicht! Ich kenne die Regeln! Aber deine Rolle als Großphilosophin nervt nur no..“

„...ergo ist es vollkommen legitim, dass auch ich absteige!“, unterbrach ihn Tana mit lauter Stimme.

„Ist ja gut! Dann steigst du halt ab! Und egal was passiert, ich passe auf dich auf, auch im Land der Lücke, wo es allen an Luxus fehlt! Seit einigen Tagen, gibt es dort keinen einzigen Baum mehr. Stell dir das vor! Keine Bäume. Fast nur Dreck und Schlamm. Und diese Blechhütten. Es ist total überlaufen, weil die Barbaren nicht genug Dignapunkte sammeln. Es ist laut, dreckig und besonders für Frauen, nur schwer zu ertragen. Aber ich würde dich da unterstützen und dir helfen.“

Tana senkte ihren Blick.

„Ja, ist schon klar. Deswegen heißt es ja auch 'Land der Lücke'. Dort gibt es halt wenig! Aber deine Meinung bezüglich unserer neuen Mitbewohner kann ich nicht teilen. Vielleicht überzeugt dich das Argument, dass deine sogenannten Wilden gar nicht so barbarisch sind, wie du denkst. Erstens haben es viele von ihnen schon geschafft, hierzubleiben, und zweitens haben sie lediglich die Befürchtung, dass das Land der Lücke bald zu klein für alle Menschen wird. Dann entscheiden nur noch Nuancen, wer hier bleibt, aber keine wahren Werte mehr. Das ist doch kein Wettkampf!“ Gon schaute sie schweigend an. „Wer weiß? Vielleicht reicht es ja dennoch, um hier zu bleiben! In den Säulen Sport, Intelligenz und soziales Engagement hatte ich bis jetzt immer die volle Punktzahl. Damit kann man eine Kategorie ausgleichen. Und die Tests in Sport und Intelligenz liefen heute früh ganz gut“, fuhr Tana fort.

„Aber was ist mit Säule Fünf? Höflichkeit und Freundlichkeit? Ich weiß, dass Lono es auf dich abgesehen hat“, sagte Gon.

„Die Leute meiden mich mehr und mehr, nur weil ich denke, dass das System nicht mehr geeignet ist, um alle Menschen, die hier leben wollen, glücklich zu machen. Leider ist auch mir noch keine Lösung eingefallen. Das nagt an mir!“

„Vergiss bitte auch nicht die letzte Säule. Ein Verstoß gegen diese Gebote und du landest auch vor Ablauf der neunzig Tage im Land der Lücke und zwar im dortigen Kerker. Dann nützen dir deine Dignapunkte auch nichts. Und das ist kein Zuckerschlecken dort.“

„Als ob ich irgendjemanden verletzen, töten, belügen, bestehlen, bedrohen oder erpressen würde.“

„Ich meine ja nur! Das ist dort nicht wie hier, mit all deinen Privilegien. Du hast dort keine kleine Villa aus Marmor mit drei Zimmern, in der du nur mit fünf anderen Menschen wohnst. Du hast dort auch keinen Garten, kein fließend Wasser, keine drei Mahlzeiten am Tag, keinen Strom, keinen Internetzugang oder Bäume, trägst keine saubere, weiße Toga. Die Landschaft dort besteht aus einem Meer aus Blechhütten. Eine Pritsche für acht Menschen pro Hütte! Und der Kerker ist noch krasser! Wer dort eingesperrt wird, kriegt nur jeden zweiten Tag was zu essen! Und nur ein Glas Wasser pro Tag!"

„Verständlich, dass die Leute da rauswollen!“, sagte Tana desinteressiert.

„Der Hunger ist am schlimmsten. Hier ist das Paradies! Und die Wächter dort sind viel strenger als hier. Erst recht nach dem ganzen Ansturm aus der Wüste auf unser Reich. Das Land der Lücke quillt bald über. Eigentlich müsste es nun das Land ohne Lücke heißen, weil bald keiner mehr Platz hat."

„Ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen. Noch habe ich Zeit, Punkte zu sammeln. Ich benötige lediglich sechsundvierzig von neunzig Punkten pro Säule und schon bleibe ich hier!“, sagte Tana.

„Hier schon! Aber wenn du einmal im Land der Lücke bist, brauchst du mehr. Die neuen Wächter stimmen heute darüber ab, weil es im gesamten Reich immer voller wird. Und obwohl sie sogar zuerst hier leben dürfen, steigen die meisten Wilden wieder ab. Nicht jeder soll wieder aufsteigen können. Ab morgen brauchen wir dann vermutlich achtzig Dignapunkte. Mir haben vergangene Woche noch fünfundsiebzig gereicht!“

„Siehst du?!“

„Was sehe ich?“

„Dass dieses zyklische Lebenssystem einfach nicht mehr funktioniert. Hier steht geschrieben, dass wir uns selber immer hinterfragen müssen, ob wir noch das Richtige tun! Säule Drei: Intelligenz und Aufgeklärtheit.“

Tana entriss Gon das Buch und schlug die Seite auf.

„Hier! Dritter Absatz: Der aufgeklärte Bürger Aristolias hinterfragt Tag für Tag sein Tun und Handeln und ist dazu befähigt, in besonderen Situationen als Ultima Ratio alle Gesetze mit Ausnahme die der sechsten Säule zu ändern, sollte ihn das Gefühl beschleichen, dass das Prinzip Aristolias nicht mehr den Anforderungen der aktuellen Zeit entspricht.“

Gon schaute irritiert.

„Öhm… Von was für einer Ausnahmesituation sprichst du? Noch gab es keine Todesfälle im Land der Lücke. In den Kerkern ist noch ein bisschen Platz. Dann kommen die Leute halt da rein. Gewalt gibt es auch wenig! Es ist im Land der Lücke halt ein bisschen voller, weil die Wilden fauler sind. Aber es herrscht dort noch kein Sodom und Gomorra.“

„Du widersprichst dich! Eben hast du noch was anderes angedeutet. Das sind dennoch keine Zustände mehr. Gnagg und seine Freunde denken das übrigens auch!“

„Der ist doch Schlimmeres gewohnt. Dieser Barbar soll endlich unsere Gesetze akzeptieren. Ich bin froh, wenn er in neunzig Tagen sein Dasein im Land der Lücke fristet. Der ist einfach zu faul, sich anzustrengen. Er hatte nur Glück, dass Neuankömmlinge zuerst alle Privilegien genießen dürfen. Man hätte diese Wilden sofort in das Land der Lücke schicken sollen.“

„Das sehe ich nicht so, mein Bruder!“

„Schwachsinn. Unser System ist perfekt. Nach neunzig Tagen kann jeder Nicht-Kriminelle, wieder aufsteigen, wenn er sich anstrengt. Das ist einfach nur fair! Jeder, der will und würdig ist, darf in Aristolia leben!“

„Ich sehe es immer noch anders!“

„Wieso? sechsundvierzig von neunzig Punkten in vier Kategorien. Neunzig Tage Zeit. Das ist das Tollste was es jemals gab. Jeder hat eine Chance, wirklich jeder! Sogar ICH, das schwarze Schaf der Familie.“ Gon schaute einen Moment reumütig und gedankenversunken drein. „Du warst doch immer von diesem System begeistert, Tana. Geschlecht, Geld, Glaube, Herkunft…All das spielt keine Rolle mehr. Nur die Leistung zählt. Nicht so wie in der Neuen Antike, die zum Chaos auf der Welt geführt... Dieser verdammte Dritte Weltkrieg hätte uns vor elf Jahren fast alle zerstört!"

Tana nickte unbewusst.

„Willst du diesen Frieden gefährden, Tana? Die Leute hier fallen keinem Verbrechen zu Opfer, sie leben länger, sie sind friedvoll, weil sie in Aristolia leben wollen! Und vor allem sind die meisten glücklich. Wie kannst du so etwas nicht wollen? Sogar ich habe endlich hier meinen Platz gefunden. Ich bin glücklich, wenn ich hier bin. Zählt das nicht für dich?

 

„Ich will gar NIEMANDEN gefährden! Aber dieses System giert nur noch nach Punkten, hinter denen sich doch bald keine Werte mehr verstecken!“

„Wie?! Was meinst du damit?“

„Die Leute verstellen sich wegen der Punkte und wir tun so, als ob die Guten hier, und die Schlechten dort leben würden. Das ist verlogen!“

„Ich verstehe dich nicht!“

Tana begab sich zur Schublade und holte einen kleinen silbernen Kelch heraus.

„Wo willst du hin?!“

„Trinken! Gnagg und seine Freunde versammeln sich heute auf dem Marktplatz!“

Gon hielt sie am Ärmel fest.

„Bist du wahnsinnig?! Sie protestieren vor dem Marktplatz, obwohl man mehrere Erpresserschreiben vor dem Rathaus gefunden hat. Wenn man dich dort sieht, bist du dran!“

„Lass mich bitte los!“, Tana schaute ihren Bruder mit ernster Miene an. „Ich verabscheue es, wenn du mich so anfasst. Du weißt doch, dass du das auch schon als Kind mit Mama gemacht hast, und was dann passiert ist?!

Gon wirkte geschockt und lies reflexartig ihren Arm los.

„Aber, aber, da war ich noch klein. Öhm. Ich….!“

„Vor den Gesetzen Aristolias warst du noch nicht schuldfähig, aber das heißt nicht, dass dich keine Schuld trifft!“

„Ich weiß. Ich wollte das doch auch nicht!“

Tana wirkte skeptisch.

„Ja, ich glaube dir, aber bitte fass mich nie mehr an. Deine Wutausbrüche und deine Faulheit haben dich schon in das Land der Lücke gebracht, und nur weil du seit deiner Mündigkeit damit nie jemanden ernsthaft verletzt hast, blieb dir der Kerker erspart.

Gon packte sich nervös an den Hals.

„Es tut mir leid!“

„Ich gehe jetzt!“

„Ok, aber bitte trink nicht so viel. Du kannst mit den Wilden nicht mithalten. Die vertragen einiges.“

„Hast du eigentlich jemals einen von ihnen gesehen, dich jemals mit einem von ihnen unterhalten? Du redest und urteilst so, als ob du ihnen schon mehrfach begegnet wärst!“

Gon schaute sie verwundert an, ehe er mit dem Kopf schüttelte. Tana entschwand durch die Türe.

***

Nach kurzer Zeit klopfte es an der Tür. Als diese sich öffnete, stand ein klein geratener, schmächtiger Mann mit schütterem blondem Haar und auffällig großen Segelohren vor ihm. In seiner Hand trug er ein weißes Tablet. Gon ließ ihn herein.

„Salve, Lono, altes Haus. Wie du siehst, ist Tana nicht da. Also kannst du dich wieder entbehrlich machen!“

„Deine Schwester brauche ich nicht, um sie zu bewerten“, entgegnete Lono schnippisch.

Er ging zu Tanas Schreibtisch und durchstöberte akribisch die Schubladen.

„Hach! Sie raucht. Sie säuft und bei der Ärztin ist sie auch nicht erschienen, um ihre Proben abzugeben! Was ist nur aus ihr geworden?“

Der kleine Mann tippte seine Beobachtungen in einen Auswertungsbogen. Anschließend trat er an Gon heran, bäumte sich auf und schaute ihm tief in die Augen.

„Das gibt keine Punkte für heute. Gon, deine Schwester und diese Horde… Sie, sie sind…Ja, wie soll ich sagen? Sie sind eine Gefahr, nein sie sind eine Bedrohung für den Frieden in unserem Reich! Jetzt gibt es schon Drohbriefe, die im Umlauf sind. Und diese enthalten eine fürchterliche Rechtschreibung. Es ist doch klar, wer diese verfasst hat.“

„Keine größere Bedrohung als dein Gesicht, Lono. Und wie ich dich kenne, hast du diese Briefe selber geschrieben, du Schlitzohr“, antwortete Gon.

„Du…du.. das ist fast schon eine Verleumdung!“, stotterte Lono und hämmerte wie wild eine neue Bewertung in sein System ein.

„Das ist doch nur Klamauk aus meinem Munde, Herr von Schnauff, komm schon!“

„Wie dem auch sei. Das hat Konsequenzen für deine Schwester! Sie sollte wegen Hetze verurteilt werden!“

Gon krakeelte lauthals.

„Hetze?! Hier. Lies! Dann weißt du, dass ihr aufgeklärter Geist ganz dem Sinne Aristolias entspricht!“ Gon streckte Lono das Buch seiner Schwester entgegen.

„Dafür habe ich keine Zeit. Ich muss meine Bewertungen durchführen. Wir sind schließlich nur neunhundert Wächter für neunzigtausend Menschen, aber eines sage ich dir: Ich spüre, dass auch du deine Schwester nicht wiedererkennst. Sie ist größenwahnsinnig geworden und erträgt diesen Druck, der auf ihr lastet, nicht mehr. Das weiß ich und das weißt auch du! Ich frage mich, wie du sie beurteilen würdest, solltest du, durch das Zufallsprinzip ausgelost, Wächter werden.“

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