Judentum. Eine kleine Einführung

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Wie begriffen sich beide Religionen früher?

Nach dem Jahr 70 setzten Juden und Christen ihr großes Werk der Definition des eigenen Selbstverständnisses fort. Was glaubten sie über diese und die nächste Welt? Welche Gestalt sollten ihre Gemeinschaften haben? Welche Gebetsformen, welche besonderen Tage und welche Zeremonien sollten sie einführen?

Da Jesus Christus für sie so zentral war, verwandten die Christen große Mühe darauf, ihren Glauben zu definieren. Obgleich der Begriff der Trinität (Dreifaltigkeit) ständig umstritten war, wurden jene, die die herrschende Lehre anfochten, oft als Ketzer verleumdet und verfolgt. Besonders in Verruf als »Feinde Christi« kamen die Juden, da sie die christlichen Ansichten über Jesus explizit zurückwiesen. Der jüdische Glaube wurde als veraltete und diskreditierte Religion gegeißelt. Die christlichen Kirchenväter, wiewohl Liebe predigend, drückten offen ihren Hass auf die Juden und deren Glauben aus. So erhielt der gelegentlich bei antiken heidnischen Autoren anzutreffende Antisemitismus noch eine kosmische Dimension: die Juden hatten »Christus getötet«.

Die Rabbinen beschäftigten sich weniger mit der präzisen Definition des korrekten Glaubens. Da für sie der Glaube an Gott, seine Offenbarung durch die Thora und seine »Erwählung« Israels axiomatischen Charakter hatten, definierten sie den jüdischen Glauben als mizwot: die göttlichen Gebote. Diese reichten von »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18) und »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben« (5. Mose 6,5) bis zu den kleinsten Details des religiösen Rituals.

Die jüdischen Quellen äußern sich nur spärlich über das Christentum. Im großen und ganzen verhielten sich die Rabbinen meist so, als ob das Christentum nicht existierte, und fuhren einfach mit der Thora-Exegese fort. Man muss zwischen den Zeilen ihrer Schriften lesen, um zu entdecken, ob sie überhaupt auf christliche Thesen reagierten.

Durch eine gemeinsame Heilige Schrift getrennt

Der Kirchenvater Origenes, der 254 starb, lebte in Caesarea in Palästina; einer seiner jüdischen Zeitgenossen war Jochanan von Tiberias. Beide kommentierten das biblische Hohelied Salomonis; beide interpretierten es als Allegorie. Für Origenes steht es für Gott (oder Christus) und seine »Braut«, die Kirche; für Jochanan ist es eine Allegorie der Liebe zwischen Gott und seinem Volk Israel.

Reuben Kimelman, ein amerikanischer Forscher, hat ihre Kommentare analysiert und durchgehend fünf Abweichungen gefunden, entsprechend den fünf Hauptdifferenzen, die Christen und Juden trennten:

1 Origenes spricht von einem Bund, den Moses zwischen Gott und Israel vermittelte, einem indirekten Kontakt also zwischen den beiden Entitäten im Gegensatz zur unmittelbaren Gegenwart Christi. Jochanan dagegen sagt, dass Moses den Bund mit Gott aushandelte, Israel ihn also unmittelbar von Gott – wie »Küsse seines Mundes« (Hld. 1,2) – empfing. Jochanan betont das enge Verhältnis und die Liebe zwischen Gott und Israel, während Origenes sie in Distanz zueinander rückt.

2 Für Origenes wurde die Hebräische Schrift durch das Neue Testament »abgeschlossen« oder »abgelöst«. Für Jochanan wird sie durch die »mündliche Thora«, die rabbinische Interpretationstradition, »abgeschlossen«.

3 Für Origenes ist Christus die zentrale Figur, die Abraham ersetzt und Adams Sünde vollends aufhebt. Für Jochanan ändert sich nichts an Abrahams Stellung, und die Thora ist das Gegenmittel gegen die Sünde.

4 Für Origenes ist Jerusalem ein Symbol, eine »himmlische Stadt«. Für Jochanan behält das irdische Jerusalem seinen Status als Bindeglied zwischen Himmel und Erde, als der Ort, wo Gottes Präsenz wieder offenbar werden wird.

5 Origenes sieht in den Leiden Israels den Beweis dafür, dass Gott es verworfen hat. Jochanan akzeptiert die Leiden als die liebevolle Züchtigung und Disziplinierung eines verzeihenden Vaters.

Niemand weiß genau, inwieweit jüdische und christliche Lehrer in den ersten Jahrhunderten relevante direkte Kontakte pflegten oder einer die Schriften des anderen aus erster Hand kannte. Justinus der Märtyrer, der von etwa 140 bis 170 als Christ in Rom lebte, verfasste einen Dialog mit Trypho, angeblich die Aufzeichnung eines Disputs mit einem jüdischen Weisen. Doch trotz der Bemühungen der Gelehrten ist es schwierig, Tryphos Ansichten mit denen bekannter jüdischer Quellen zu identifizieren.

Es muss Kontakte, etwa in Caesarea in Palästina im 3. Jahrhundert, gegeben haben, wo es sowohl eine jüdische wie eine christliche Gemeinde gab, oder in Antiochia in Syrien, wo im folgenden Jahrhundert der heilige Johannes Chrysostomos seine antijüdischen Diatriben predigte – vielleicht weil er fürchtete, dass die Christen sich zur Synagoge hingezogen fühlten. Und natürlich gab es Individuen, die in die eine oder andere Richtung »die Seiten wechselten«, und Frauen, die Ideen weitergaben, deren Beitrag aber nicht überliefert ist.


Zwei Standbilder im Straßburger Münster (13. Jahrhundert), die die triumphierende christliche Kirche und die überwundene jüdische Synagoge verkörpern sollen

Es wäre unfair, das frühe Christentum und die jüdische Religion danach zu beurteilen, wie sie miteinander umgingen, denn für beide Religionen hatte das Verhältnis zur anderen keinen hohen Stellenwert. Dennoch belastet uns noch immer das Erbe des Misstrauens und der gegenseitigen Animositäten. Erst in jüngster Zeit haben die Christen begonnen, mit dieser dunklen Seite ihres Glaubens und dem Elend und Leid, das daraus erwuchs, ins reine zu kommen. Wiewohl die Grundlagen schon früher gelegt wurden, hat – vor allem seit dem Holocaust – der christlich-jüdische Dialog neue Wege der Versöhnung eröffnet und zur Revision traditioneller christlicher Haltungen, aber auch der christlichen Theologie gegenüber den Juden und dem jüdischen Glauben geführt.

3 Wie entwickelte sich das Judentum weiter?

Am 24. Juni 1985 gab die »Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden« ein Dokument mit dem wenig einprägsamen Titel »Bemerkungen zur korrekten Darstellung der Juden und des jüdischen Glaubens in Predigt und Katechese in der römisch-katholischen Kirche« heraus. Darin stehen die denkwürdigen Worte: »Erinnern wir uns, daß die lange Geschichte Israels von einer ununterbrochenen geistigen Produktivität – in der rabbinischen Periode, im Mittelalter und in der Neuzeit – begleitet ist, die ihren Ursprung in einem Erbteil hat, das wir lange gemeinsam teilten.« Weiter heißt es, Papst Johannes Paul II. habe erklärt, dass »der Glaube und das religiöse Leben des jüdischen Volkes, so wie sie heute noch immer verkündet und praktiziert werden, unser Verständnis gewisser Aspekte der Kirche erheblich vertiefen können.«

Nach neunzehn Jahrhunderten durfte die Wahrheit endlich ans Licht kommen. Nicht nur die Kirche hatte sie unterdrückt. Allzu oft ist die »ununterbrochene geistige Produktivität« von jüdischen Historikern verdunkelt worden, die in einem Maße die Leiden und Martyrien des jüdischen Volkes ausbreiteten, dass die Chronik der Verfolgungen die andere Seite der Geschichte: die spirituelle und geistige Kreativität der Juden »in der rabbinischen Periode, im Mittelalter und in der Neuzeit« zu überschatten drohte.

Es ist ungewöhnlich, dass ein geschundenes, verfolgtes und vertriebenes Volk, häufig zudem der normalen Mittel des Lebensunterhalts beraubt und vom Zugang zu den großen Quellen der Gelehrsamkeit ausgeschlossen, eine Kultur von so hoher Vitalität hervorbrachte. Die zehn folgenden Skizzen illustrieren jeweils einen religiösen, geistigen oder sozialen Wert im jüdischen Leben. Wir hätten andere Personen auswählen können – Gamaliel II. etwa, den Schöpfer der Liturgie, oder den großen Philosophen, Richter und Arzt Moses Maimonides oder den grandiosen jüdisch-spanischen Dichter Jehuda Halevi aus dem 12. Jahrhundert oder Glücke von Hameln, deren jiddisches Tagebuch die intimen seelischen Sorgen und Ängste einer Mutter im 17. Jahrhundert offenbart. Oder hundert andere. Jede Auswahl wäre willkürlich.

Jehuda ha-Nasi – Gelehrter, Heiliger, Führer

Wenn irgend jemand das rabbinische Judentum zur Zeit seiner Entstehung personifiziert, so ist es Jehuda mit dem Beinamen »der Fürst«, der Patriarch des Judentums um das Jahr 200. Sein Ansehen bei seinen Schülern war so groß, dass sie ihn schlicht »Rabbi« (»Lehrer«) oder »unser heiliger Rabbi« nannten, ohne irgendeinen weiteren Beinamen. Heiligkeit, Demut und Furcht vor der Sünde sind die Tugenden, die man ihm zuschrieb. »Beim Tod des Rabbi verschwanden Demut und die Furcht vor der Sünde«, klagte sein Schüler Chijja.

Jehuda war kein weltfremder Heiliger, sondern ein überragender religiöser und politischer Führer. Er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Galiläa und gründete dort Akademien in Bet Schearim und Sepphoris. Wer heute Israel besucht, kann in diesen Städten noch die Relikte der Synagogen mit ihren teilweise erhaltenen Mosaiken und die angeblichen Gräber des Rabbi und seiner Kollegen besichtigen.

Die Jahrzehnte vor Jehudas Geburt waren für Judäa katastrophal gewesen. Im Jahr 70 hatten die Römer den Ersten Jüdischen Aufstand niedergeschlagen und den Tempel in Jerusalem zerstört; und 135, etwa in Jehudas Geburtsjahr, hatte Kaiser Hadrian den Zweiten Aufstand (»Bar-Kochba«) mit riesigem Blutzoll und anschließenden Verfolgungen niedergeschlagen.

Um die Zeit jedoch, als Jehuda unter der Herrschaft des antoninischen Kaisers Mark Aurel zum Patriarchen von Judäa aufstieg, hatten sich die Beziehungen zu Rom entspannt. Ein Mann des Friedens und offensichtlich ein Kenner der römischen Kultur, tat Jehuda alles in seiner Macht Stehende, um die Beziehungen zur Besatzungsmacht zu festigen. Viele Anekdoten des Talmuds erzählen von den herzlichen Beziehungen zwischen dem »Rabbi und Antoninus«; vielleicht gibt es eine historische Basis für solche Begegnungen in den Palästinabesuchen der Kaiser Mark Aurel 175 und Septimius Severus 200.

 

In der Tat deuten die legendären »Gespräche des Rabbi mit Antoninus« darauf hin, dass mehr als nur eine oberflächliche Beziehung bestand. Die stoische Philosophie, der sich Mark Aurel verschrieben hatte, prägte sowohl die jüdische wie auch die christliche Ethik. Im übrigen ist es sicher kein Zufall, dass die große Unternehmung des Rabbi, eine umfassende Kodifizierung der jüdischen Rechtsnormen, zu einer Zeit begonnen wurde, als Gaius und Ulpian den Grund zur Systematisierung des Römischen Rechts legten.

Die sechs »Ordnungen« der Mischna


1. Saaten Benediktionen und Gebete Landwirtschaftliche Vorschriften wie die Zehnten und das Sabbatjahr
2. Festzeiten Sabbat und Festtage
3. Frauen Ehe und Scheidung; Gelübde
4. Schädigungen Zivilrecht Zusammensetzung der Gerichte Juristische Verfahren Ethik der Väter
5. Heilige Objekte Tempelopfer Erlaubte und verbotene Speisen
6. Reinheitsgebote Reinigung durch Waschen und Baden Grade der rituellen Reinheit Als »unrein« definierte Dinge

Man bezeichnet den unter der Leitung des Rabbi geschaffenen Kodex als die Mischna (»Lehre«, »Wiederholung«). Sie ergänzt die Thora als maßgebendes Dokument des rabbinischen Judentums. Ihre sechs Bände, die früheste systematische Formulierung jüdischer Religion, sind weit mehr als nur ein Gesetzbuch. Sie umfassen sowohl Tugenden wie Gesetze, ethische Prinzipien wie Vorschriften, und behandeln Liturgie und rituelle Reinheit ebenso wie Zivil- und Strafrecht und Personenstand. Schon bald wurde die Mischna als verbindlich akzeptiert und bildete die Grundlage für den Talmud.

Vom Leben des Rabbi erzählte man sich zahllose Geschichten. Eine der bekanntesten berichtet von seinem Mitgefühl für die Tiere. Ein Kalb sollte geschlachtet werden. Es rannte zum Rabbi, schmiegte den Kopf an sein Gewand und wimmerte. »Geh!« rief er, »dafür bist du doch geschaffen worden!« Da er kein Erbarmen mit ihm hatte, bestimmte der Himmel ihm Leiden. Eines Tages war die Haushälterin des Rabbi gerade beim Fegen. Sie stieß auf ein paar junge Wiesel und warf sie zum Haus hinaus. »Lass sie in Ruhe!« mahnte er, »steht nicht geschrieben: ›Er erbarmt sich all seiner Geschöpfe‹?« (Ps. 145,9) Der Himmel hat bestimmt: »Da Gott barmherzig ist, sollen wir ihm Barmherzigkeit erzeigen«.

Stamaim – die Vergessenen

(Die Betonung liegt auf im, der Pluralendung hebräischer Maskulina.) »Stamaim« ist nicht der Name irgendeines Heiligen, um den sich eine Geschichte oder Legende rankt. Es ist überhaupt kein Name; es bedeutet »die anonymen, namenlosen Menschen«. Die Forschung verwendet den Ausdruck heute zur Bezeichnung einer Gruppe von Männern – wir wissen zwar nicht, wer sie waren, doch sind wir uns ziemlich sicher, dass keine Frauen darunter waren –, die um das 6. Jahrhundert in Babylonien lebten und den Text des Talmuds redigierten.

Talmud = Mischna + Gemara

Es gibt zwei Talmudim:

 den Talmud des Landes Israel (auch als der Palästinensische Talmud oder Jeruschalmi, d. h. Talmud von Jerusalem, bezeichnet), der um 450 n. d. Z. redigiert wurde.

 den Babylonischen Talmud, redigiert um 550 n. d. Z. Er ist umfangreicher als der Jeruschalmi und gilt als autoritativer.

Doch wir greifen vor. Vor den Stamaim kamen drei andere Gruppen, alle auf »im« endend (Betonung jeweils auf der letzten Silbe), deren Namen wir kennen. Tannaim hießen die Rabbinen, die in der Mischna – bis hin zu dem Patriarchen Jehuda selbst – erwähnt sind, und ihre Zeitgenossen. Dann kamen die Amoraim, die ihre Ansichten diskutierten, evidente Widersprüche beseitigten, Konfliktfälle entschieden, das Gesetz erweiterten und es auf neue Situationen anwandten. Auf sie folgten die Seboraim, die viele »Warum«- und »Was ist die zugrunde liegende Vorstellung«-Fragen hinsichtlich der Ansichten ihrer Vorgänger stellten – Fragen also, die ihre Ansichten eher verstehen als in Zweifel ziehen sollten, da ihr Respekt vor den früheren Rabbinen so groß war, dass sie deren Urteil nicht zu widersprechen wagten. Die Diskussionen der Amoraim und Seboraim, später auch als Gemara (›Lehre‹, ›Ergänzung‹) bezeichnet, wurden gesammelt, gesichtet und redigiert im Talmud, einem umfangreichen aramäischen Text, der schließlich die Form eines Kommentars zur Mischna annahm.

Als »Talmud« werden oft die Mischna und die Gemara zusammenfassend bezeichnet. Der Talmud ist in der Tat der Kern der jüdischen Religion. Nach der Bibel ist er das Buch, das von den Juden am meisten studiert wird, ja, die Bibel selbst wird im Licht des Talmuds ausgelegt. Doch bei all seiner Bedeutung und trotz der Tatsache, dass er viele Hunderte Namen (von Tannaim, Amoraim und Seboraim) enthält, wissen wir nicht, wer ihn kompiliert und redigiert hat. Diese ›Redakteure‹ erzählten Anekdoten, trafen Entscheidungen, wussten, wie man verwickelte juristische Argumente in dramatische literarische Strukturen einkleidet, um die Spannung des Lesers wachzuhalten. Sie sammelten fesselnde Geschichten und Beobachtungen, die zu tiefen moralischen und spirituellen Einsichten vordringen, obschon sie gelegentlich die Vorurteile ihrer Zeit widerspiegeln. Doch sie hinterließen ihre Namen nicht auf einem einzigen Dokument. Vermutlich glaubten sie, sie würden lediglich die Worte der großen Meister früherer Generationen paraphrasieren, und wären von der Vorstellung schockiert gewesen, selbst etwas Originelles beigesteuert zu haben.

Jede Generation hat ihre Stamaim, anonyme Gelehrte und bescheidene Praktiker, die den »unordentlichen« Inspirationen der Weisen und Berühmten, die vor ihnen kamen, Gestalt geben und sie anwenden.

Kahina Dahiya bint Thabbita ibn Tifan – Kriegerin

Lange vor der kometenhaften Ausbreitung des Islam außerhalb der arabischen Halbinsel bis zum Ende des 7. Jahrhunderts waren einige der Volksstämme Nordafrikas zum Juden- oder Christentum konvertiert. Manche nahmen den Islam sicher freiwillig an; doch andere widersetzten sich den Armeen der arabischen Invasoren und ihrer neuen Religion.

Im Südwesten des heutigen Algeriens lebte damals ein mächtiger Berberstamm, die Jerawa, der sich zum Judentum bekannte. Unter ihrer Anführerin Kahina besiegten die Jerawa die arabische Armee des Hasan ibn Nu‛man, stoppten die Eroberung Afrikas durch die Araber und verhinderten ihr weiteres Vordringen nach Spanien. Doch Kahina wurde verraten und fiel in der Schlacht um 700 n. d. Z.

Wie die Religionsausübung dieser furchteinflößenden Berberfürstin ausgesehen haben mag und ob sie tatsächlich Jüdin war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Doch ihre Biographie, die mit Ausschmückungen von mehreren arabischen Chronisten erzählt wird, wirft eines der großen »Was wäre, wenn« der Geschichte auf. Was wäre geschehen, wenn sie ihren Sieg über Hasan ausgebaut hätte – und entweder durch Nordafrika nach Arabien oder nordwärts nach Spanien marschiert wäre? Wären Europa und der Vordere Orient trotzdem in zwei rivalisierende christliche und muslimische Reiche zerfallen – oder hätte unsere Geschichte einen völlig anderen Verlauf genommen?

Wir wissen es nicht. Die historische Realität jedenfalls, die mit durch Kahinas Niederlage geschaffen wurde, sah zwei ständig kriegführende »Großmächte«, und die Juden waren auf ihrem gesamten Territorium zur Unterwürfigkeit gezwungen.

Saadja Gaon (882–942) – Philosoph

Im Jahr 635 zerstörten aufständische arabische Stämme das – im heutigen Irak gelegene – Sassaniden-Reich und brachten die neue Religion des Islam mit. Der Babylonische Talmud war damals bereits abgeschlossen, und an den großen Akademien von Sura und Pumbeditha am Euphrat widmete man sich seinem Studium. Jede dieser beiden rivalisierenden Akademien – das Oxford und Cambridge des jüdischen Babyloniens – wurde von einem Rabbi geleitet, der den Titel »Gaon« (›der Erlauchte‹) trug. Zu seinen Verpflichtungen gehörten sowohl die Rechtspflege wie die religiöse Aufsicht und Unterweisung. Der weltliche Führer dieser autonomen Gemeinschaft war der Rosch Galuta (›Haupt des Exils‹), der seine Abstammung von König David ableitete. Er regelte die Beziehungen zwischen den Juden und dem Kalifat.

Zumindest periodisch erlebte das Judentum unter den abbasidischen Kalifen von Bagdad (750–1258) eine Blüte. Aus allen Teilen der jüdischen Welt, von der Provence bis Jemen, wurden die »Geonim« (man beachte wiederum die Pluralendung hebräischer Maskulina »im«) angerufen, um Fragen zu beantworten. Häufig hat man ihre Antworten kopiert und aufgehoben. Nach jüdischem Brauch ist derlei Korrespondenz schließlich in einer »Genisa« (Betonung auf der letzten Silbe), einem Ort für heilige Schriften, verwahrt worden. Große Teile der Kairoer Genisa wurden vor rund einem Jahrhundert in die Universitätsbibliothek von Cambridge in England gebracht. Man sollte nicht versäumen, sich dort eine Ausstellung anzusehen oder einen Vortrag über diese außergewöhnliche Sammlung anzuhören.

Saadja ben Josef wurde im Dorf Dilas in Fajjum (weshalb er auch den Beinamen »al-Fajjumi« trägt) in Oberägypten geboren. Er verließ Ägypten um 905 und wanderte mehrere Jahre lang zwischen Palästina, Aleppo und Bagdad hin und her. 928 wurde er trotz seiner fremden Herkunft zum Gaon der Akademie von Sura berufen. Er genoss hohes Ansehen als Philosoph, Wissenschaftler, Talmudist, Autor, Kommentator, Grammatiker, Übersetzer, Erzieher und religiöser Führer, war aber auf eigentlich all diesen Gebieten nicht unumstritten.

Saadja schrieb Das Buch der Doktrinen und Religionen, seinen großen philosophischen Klassiker, in den Jahren, als David ben Zaccai, das »Haupt des Exils«, ihn vom Amt suspendierte und unter Arrest setzte. Saadja hatte sich geweigert, auf Befehl Zaccais ein Dokument, das er für ungerecht hielt, zu unterschreiben. Ein versierter Kenner der islamischen Theologie (des Kalam) und der aristotelischen Philosophie (der Falasifa), insistierte Saadja auf dem Primat der Vernunft, in den er auch die moralische Erkenntnis einbezog. Vernunftgemäß sind für ihn Gottes Wege und seine Offenbarung, nicht weil Gott festsetzt, was vernünftig und gerecht ist, sondern weil Gott in völliger Freiheit gemäß absoluten Normen der Vernunft und Gerechtigkeit handelt und sich offenbart. Anders gesagt, Gott tut, was vernünftig oder gerecht ist, weil es a priori vernünftig oder gerecht ist; sein Tun ist nicht, weil er, Gott, es tut, vernünftig oder gerecht.

Saadjas Erkenntnislehre fußt auf seiner Betonung des Primats der Vernunft. All unser Wissen stammt aus der Sinneserfahrung, aus logischen Schlüssen aus der Sinneserfahrung oder einem angeborenen moralischen Sinn, der selbst eine Form der »Rationalität« darstellt. Woher wissen wir etwa, dass einer, der von sich behauptet, Gott habe ihn gesandt, uns zum Stehlen oder Huren anzuhalten oder die Thora für obsolet zu erklären, und noch dazu sein behauptetes Prophetentum durch scheinbare Wunder untermauert, nicht glaubwürdig ist? Weil die Vernunft uns befiehlt, dass wir moralisch handeln und die Wahrheit der Lüge vorziehen sollen.

Die Thora selbst ist vollkommen vernunftgemäß. Saadja teilt die Gebote in »Vernunftgebote« und »Gehorsamsgebote« ein – in solche, die durch Vernunft erkennbar, und solche, die uns primär offenbart worden sind. Selbst wenn nicht alle Gebote einsichtig begründbar sind, können wir über die Gründe für die dunkleren doch mehr als nur spekulieren. Wenn aber die Thora vollkommen vernunftgemäß ist, warum hat dann Gott Boten (Propheten) gesandt, um sie uns zu übermitteln? Die Offenbarung war ein besonderer Gnadenakt Gottes, so dass die Thora allen einsichtig und zugänglich ist, auch jenen, denen es an philosophischem Talent oder Zeit mangelt, um sie für sich selbst zu entdecken.

 

Saadja kannte die Schriften anderer Sekten und Religionen. Seine Widerlegungen sowohl der Karäer (einer jüdischen Sekte, welche die rabbinische Tradition verwarf) wie des Islam, des Christentums und ›dualistischer‹ Religionen beruhen auf genauer Kenntnis und rationalen Argumenten.

Obgleich er das hebräische Gebetbuch redigierte und einige hebräische Liturgiedichtungen verfasste, schrieb er meist auf Arabisch. Ein hervorragender Schriftgelehrter, verfasste er zahlreiche Bibelkommentare; von ihm stammt auch eine arabische Übersetzung der Hebräischen Schrift, die bis heute in Gebrauch ist.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?