Buch lesen: «Verschwundene Reiche», Seite 14
In manchen Gebieten ist die französische Seite der Pyrenäen weniger zugänglich als die spanische Seite. Das Tal der Ariège zum Beispiel, das von Andorra aus nach Norden verläuft, war politisch von der Cerdagne und dem Roussillon durch einen praktisch unpassierbaren Höhenzug getrennt. Deshalb orientierten sich die Grafen von Foix, die einst an der Ariège herrschten, westwärts ins Béarn und nach Navarra. Die Ostpyrenäen dagegen weisen zwar einige mächtige Gipfel auf, haben aber immer zu Austausch und Migration eingeladen und fungierten selten als die kulturelle und sprachliche Mauer, die politische Planer in Paris oder Madrid womöglich gern dort gesehen hätten. So wird auf beiden Seiten des Pyrenäenkamms Katalanisch gesprochen, genau wie das mit dem Baskischen im äußersten Westen der Fall ist.
Das Roussillon (Rosselló auf Katalanisch) besteht aus einem kleinen Küstenstrich und einem langen Stück des Pyrenäenkammes. Die fast 4000 Quadratkilometer der Provinz werden von einem riesigen Berg und zwei sich quer hindurchziehenden Flüssen beherrscht. Den Pic du Canigou oder »Canigo« (2785 m), auf dem die Katalanen ihre traditionellen Johannisfeuer entzünden, sieht man über das Meer hinweg schon fast vom fernen Marseille aus. Die Flüsse Têt und Tech, die die Ebene des Roussillon mit Wasser versorgen, entspringen in den Bezirken Conflent und Vallespir im Hochland, die einst eigene Grafschaften bildeten. Die Region ist berühmt für ihren vin doux naturel von der Côte Vermeille, für ihre romanischen Abteien wie St. Michel de Cuxa oder St. Martin de Canigou und für einige der »schönsten Dörfer Frankreichs« – darunter Castelnou, Evol, Mosset, Vinca und St. Laurent de Cerdans.7 Vom 13. Jahrhundert an bildete die nördliche Grenze des Roussillon, von der Hochebene von Caspir bis zur mittelalterlichen Festung Salses, eine Verteidigungslinie gegen die wachsende Macht Frankreichs. Ihr gegenüber standen die furchteinflößenden »Fünf Söhne von Carcassonne«, die französischen Burgen Aguilar, Quéribus, Peyrepertuse, Puilaurens und Termes entlang der Grenze des Languedoc. Salses sollte die Lücke zwischen den Lagunen am Meer und den Höhen im Binnenland schließen.
Das Brauchtum des Roussillon unterscheidet sich deutlich von dem anderer französischer Regionen.8 Die sardana etwa ist rein katalanischer Tanz; Männer und Frauen halten sich im Kreis an den Händen und drehen in bedächtigen Schritten im Sechs-Achtel-Rhythmus vor und zurück. Die typische Musikgruppe ist die cobla; neun oder zehn Spieler blasen tenora und tible (hohe und tiefe Oboe), flabiol (Flöte) und die bodega aus Ziegenhaut (Dudelsack), gewöhnlich begleitet von Trommel und Kontrabass. Ein internationales Folk-Festival findet jedes Jahr im August in Amélie-les-Bains (Els Banys d’Arles) statt.9
Anders als das Roussillon ist die Cerdagne (Cerdanya auf Katalanisch, Cerdaña auf Spanisch) ein reines Binnenland, das heute in eine französische und eine spanische Hälfte geteilt ist. Stark wurde die Region durch ihre Unzugänglichkeit, reich durch eine alte Handelsroute über die Pyrenäen. Ihre historische Hauptstadt mit Sitz des Grafen war Llívia. Die Grafen von Cerdagne-Conflent, die im 11. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Macht erreicht hatten, gründeten die Abteien von St. Michel de Cuxa und Montserrat, bevor sie ihr Erbe ihren Nachkommen, den Grafen von Barcelona, übertrugen. Bis ins 17. Jahrhundert blieb dieses Erbe unangetastet, doch dann wurde die Cerdagne in Verhandlungen, die 1659 in Llívia stattfanden, geteilt: Die französischen Unterhändler forderten 130 Gemeinden im Nordteil; die spanischen Unterhändler aber argumentierten, dass Llívia keine Gemeinde, sondern eine Stadt sei, und so ist Llívia seitdem eine spanische Enklave im französischen Territorium.10 Ein Besuch in dieser Stadt ist sehr aufschlussreich. Zu Beginn des »historischen Lehrpfades«, den man dort eingerichtet hat, wird Llívia als die »Wiege des katalanischen Staates« bezeichnet.
Mit über 30.000 Quadratkilometern ist das moderne Katalonien oder Catalunya viel größer als das Roussillon oder die Cerdagne. Es hat die Form eines Dreiecks und ist in einundvierzig comarques oder »Bezirke« eingeteilt. Die obere Seite des Dreiecks folgt der Pyrenäengrenze. Die Küstenseite verläuft im spitzen Winkel dazu an der Costa Brava entlang, vorbei an Barcelona und der Costa Dorada bis zur Provinz Valencia. Und im Binnenland verbindet die letzte Seite des Dreiecks den südlichsten Punkt an der Küste mit Kataloniens westlichem Punkt in den Bergen. Seit 1978 genießt die Provinz nach leidvollen Erfahrungen unter General Franco eine gewisse Autonomie innerhalb Spaniens und hat das Katalanische wieder zu einer offiziellen Amtssprache gemacht.
Der Abschnitt der östlichen Pyrenäen, in dem Oberkatalonien an die alte französische Grafschaft Foix grenzt, ist durch einige der vielen geografischen, historischen und sprachlichen Besonderheiten der Region geprägt. So hat der katalanische Bezirk Pallars drei ganz unterschiedliche Nachbarn. Im Westen liegt eine Handvoll spanisch sprechender Bezirke, angefangen mit Sobrarbe und Ribagorza. Im Norden liegt das Vall d’Aran, das man mit dem Auto nur durch den Vielha-Tunnel erreichen kann und das zwar auf der französischen Seite des Kammes liegt, aber noch immer zu Spanien gehört. Die Menschen im Vall d’Aran sprechen eine einzigartige Sprache, in der sich Baskisch mit neulateinischen Elementen mischt (aran bedeutet »Tal« auf Baskisch). Im Osten liegt das Fürstentum Andorra, einer der ältesten Staaten Europas.
Andorra besetzt ein winziges Hochtal, das sich wie ein Keil zwischen Frankreich und Spanien schiebt. Seit 1278 wurde die Regierung 700 Jahre lang vom Comte de Foix (oder später dem Präfekten des Departements Ariège) gemeinsam mit dem Bischof von Seu d’Urgell überwacht. Seit 1993 allerdings hat es sich Monaco, Liechtenstein und San Marino als souveräner europäischer Kleinstaat angeschlossen. Die Andorraner sprechen wie die Bewohner der »Franja d’Aragón« – einem direkt an Pallars angrenzenden Gebiet – Katalanisch, ihre Nationalhymne jedoch ist zweisprachig. Nur wenige Länder können sich einer so stark von der Geschichte geprägten Hymne rühmen:
El Gran Carlemany, mon Pare, dels arabs em deslliura, i del cel vida em dona Meritxell, la Gran Mare. Princesa nasqui i Pubilla, entre dues nacions neutral sols resto I’unica filla de l’imperi Carlemany. Creient i lliure onze segles creient i lliure vull ser. Siguin els furs mos tutors i mos prínceps defensors! | Le grand Charlemagne, mon père, des arabes me délivra, et du ciel me donna la vie Meritxell, notre mère. Je suis née princesse héritière neutre entre deux nations. Seule, je reste l’unique fille de l’empire de Charlemagne, croyante et libre depuis onze siècles, pour toujours je veux l’être que les Fueros soient mes tuteurs et les princes mes protecteurs!11 |
(Mein Vater, der große Karl der Große,/befreite mich von den Arabern/Und Meritxel, die große Mutter/gab mir vom Himmel das Leben./Ich wurde als Fürstin geboren, als Erbin/neutral zwischen zwei Nationen./Ich bleibe allein, die einzige Tochter/des karolingischen Reiches./Gläubig und frei über elf Jahrhunderte,/gläubig und frei werde ich bleiben./Die Gesetze des Landes seien meine Begleiter, und die Fürsten meine Verteidiger!) Die Andorraner singen noch immer von Karl dem Großen, weil ihr Land unter seiner Herrschaft gegründet und nie von den Großmächten vereinnahmt wurde, die nach ihm kamen.
Nirgendwo kann man die geografischen Gegebenheiten besser verstehen als hoch oben an der französisch-spanischen Grenze südlich von Perpignan. Die kräftige Nachmittagssonne scheint einem ins Gesicht. Links glitzert das Meer am Horizont, der letzte Ausläufer der französischen Küste, die hier zur Costa Brava wird. Rechts führt der Berggrat nach Andorra und in die Zentralpyrenäen. Das Roussillon und die Cerdagne liegen im Rücken, und jenseits davon das Languedoc. Vor dem Betrachter erstrecken sich, so weit das Auge reicht, die steilen Berge Kataloniens. Kataloniens wichtigste Stadt, die Hafenstadt Barcelona, liegt gerade außerhalb des Gesichtskreises, ist aber mit dem Auto in wenig mehr als einer Stunde auf der E-15 zu erreichen, die sich durch die Vorgebirge schlängelt.
Wegen der gegenwärtigen Dominanz zentralisierter Nationalstaaten hält man diese Pyrenäenregion gern für randständig, egal ob von Frankreich oder Spanien aus gesehen – weit weg von Paris und weit weg von Madrid. Wenn man auf dem Pyrenäenkamm entlangwandert, kommt man allerdings ins Grübeln. Die Landschaft, selbst das Produkt ewigen Wandels, lässt einen über die Veränderlichkeit aller Dinge nachdenken. Vor gar nicht allzu langer Zeit war hier von Frankreich nichts zu sehen, und Spanien gab es noch gar nicht. Perpignan war einst die Hauptstadt eines Staates, ebenso auch Barcelona und Zaragoza. Und dann wurden die Menschen auf beiden Seiten der Ostpyrenäen Untertanen eines einzigen Königs, Mitglieder und Nutznießer einer politischen Einheit, deren äußerste Grenzen sich weit jenseits des glitzernden Horizonts erstreckten.
II
Die Ursprünge des Reiches kann man auf einen Gebirgsfluss – den AragónA – zurückführen, der von den Hochalmen der Zentralpyrenäen in das breite Ebrobecken hinabfließt. Das Quellgebiet im Binnenland, heute als Alto Aragón bekannt, übernahm den Namen des Flusses. Die Landschaft, durch die er fließt, besteht vor allem aus einer öden, von einer dünnen, kalkhaltigen, salzigen Erdkrume überzogenen Ebene mit aschgrauem Buschland und ausgetrockneten Bachläufen. Die Sommer sind glühend heiß, die Winter kalt und schneereich. Die Berge ringsum aber tragen Eichen-, Kiefern- und Buchenwälder, und die Hochweiden bieten Merinoschafen Lebensraum. Der Pyrenäenkamm, der in diesen Abschnitt durch die Gipfel des Aneto und des Perdido geprägt ist, bildet eine eindrucksvolle Barriere. Ein paar grüne Oasen liegen in den schroffen Hochtälern, doch das einzige Gebiet, das sich für Landwirtschaft im größeren Stil eignet, breitet sich am Fuße der Berge aus. Dort ziehen sich Weizenfelder, Obst- und Weingärten am Ebro entlang. Einer der ältesten Handelswege über die Pyrenäen verläuft über den Col du Somport von Zaragoza ins Béarn.
Hier begannen gegen Ende des ersten Jahrtausends christliche Herrscher die muslimischen Mauren zurückzudrängen, die zwei Jahrhunderte zuvor von Nordafrika aus ins Land gekommen waren und noch den Großteil der Halbinsel unter ihrer Kontrolle hatten. Die Handvoll großer und kleiner christlicher Herrschaften am nordöstlichen Rand der Iberischen Halbinsel war entstanden, nachdem sich die fränkische Großmacht über die Pyrenäen ausgedehnt hatte, um sich dem Vormarsch des Islam entgegenzustellen. An den Feldzug Karls des Großen gegen die Mauren im Jahr 778 erinnem die ersten Zeilen des Chanson de Roland (Rolandsliedes), eines altfranzösischen Epos:
Carles li reis, nostre emperere magnes,
Set anz tuz pleins ad estet en Espaigne.
Tresqu’en la mer cunquist la tere altaigne,
N’i ad castel ki devant lui remaigne,
Mur ne citet n’i est remés a fraindre,
Fors Sarraguce, ki est en une muntaigne.
Li reis Marsilie la tient, ki Deu nen aimet,
Mahumet sert e Apollin recleimet:
Nes poet guarder que mals ne l’i ateignet.
Karl der König, unser großer Kaiser,
Sieben volle Jahre ist er in Spanien gewesen.
Er eroberte das Hochland bis zum Meer,
Keine Burg hatte vor ihm Bestand,
Und keine Festung blieb noch zu brechen,
Außer Zaragoza, das in einem Gebirge liegt.
[Zaragoza] hielt ein gewisser König Marsilie, der Gott nicht liebte.
Er diente Mohammed und betete Apollo an:
Er konnte nicht verhüten, dass Böses ihn dort erreichte.12
Der Rückzug Karls des Großen aus Zaragoza kulminierte im heldenhaften Kampf am Pass von Roncevalles, wo Roland und Oliver Unsterblichkeit erlangten.
Auf die Bedrohung durch eine muslimische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel reagierte Karl der Große bzw. sein Sohn Ludwig, der Fromme [A. d. Red.] mit der Einrichtung von vier militärischen Pufferzonen: die Grafschaft Gascogne, die Mark Tolosa (der Andorra angegliedert war), die Mark Gothien (Septimanien) entlang der Mittelmeerküste von Narbonne bis Nîmes und die Marca Hispanica von den Zentral- bis zu den Ostpyrenäen. Diese vierte Mark bestand aus nicht weniger als sechzehn Grafschaften, die jeweils von einem Bevollmächtigten oder comes regiert wurden. Die erste, das Roussillon, entstand 760; die letzte, Barcelona, 801. An der Ostflanke der Mark gehörten auch Pallars, Urgell, Conflent, Vallespir, Cerdagne, Besalú, Perelada, Ausona, Girona und Empúries dazu.13 Unter den Bewohnern dieser Grafschaften waren viele Westgoten (siehe Kapitel 1), und durch diese Mischung fränkischer, iberischer und gotischer Kultur sollte Katalonien seine einzigartige Sprache und Prägung erhalten.
In der Folgezeit zogen sich die überforderten Franken zurück; auch die Macht der Mauren schwächte sich allmählich ab, und die christlichen Herren der Pyrenäen behaupteten ihre Freiheit. Eine der wichtigeren Herrschaften in der früheren Marca Hispanica war die Grafschaft Barcelona, die jede auch nur formelle Unterordnung unter das Fränkische Reich aufgab, nachdem die Karolinger den Kapetingern Platz gemacht hatten. Eine andere war der Herrschaftsbereich des Sancho El Mayor von Navarra (gest. 1035), bekannt als »der Große«, der gewaltige Landstriche auf beiden Seiten der Pyrenäen beherrschte. Seine Hauptstadt Pamplona lag im Herzen des Baskenlandes, das sich nie fremder Herrschaft gebeugt hatte. Flankiert wurde sein Territorium im Westen vom christlichen Kastilien und León und im Osten von den gebirgigen Grafschaften Aragón, Sobrarbe und Ribagorza, die er alle unter seine Kontrolle brachte. Eine Zeit lang erkannte sogar der Graf von Barcelona, Berenguer Ramón I. El Corbat, »der Bucklige« (r. 1022–1035), seine Oberherrschaft an.B
Sancho El Mayor war mit fünf Söhnen gesegnet und entwickelte einen Plan, um die Zukunft seiner großen Familie zu sichern. Er erfand für sich den Titel eines »Königs aller Basken« und entwarf ein christliches »Reich«, das von einer Reihe tributpflichter Vasallen gestützt werden sollte. Seinen ältesten ehelich geborenen Sohn setzte er als König von Navarra ein; Kastilien und León gab er seinem zweiten Sohn; und in seinem Testament vererbte er Sobrarbe und Ribagorza den beiden jüngsten Söhnen. Sanchos unehelicher Sohn Ramiro wurde im Testament übergangen, blieb aber als baiulus oder »Vogt« von Aragón unbehelligt.
Natürlich überlebte Sanchos so schön ausgedachter Plan den Urheber nicht allzu lange. Die vier Königssöhne führten bald Krieg gegeneinander. Auf dem Konzil von Coyanza im Jahr 1055 bestätigte der Zweitgeborene Ferdinand nach dem Sieg über seinen älteren Bruder noch einmal die beispielhafte Charta, die dreißig Jahre zuvor in Kraft getreten war und jetzt mit ihrem Prinzip des erblichen Königtums als Richtlinie aller christlichen Staaten auf der Iberischen Halbinsel galt. Danach widmete er sich vor allem der Reconquista, der Zurückeroberung der Halbinsel von den Mauren, und erwarb sich dabei den Ruf eines »Kaisers von Spanien«. Die christlichen Kämpfer seiner Generation standen vor den Toren Sevillas und Toledos, wurden dann aber zurückgeschlagen. Ramiro nutzte die anderweitigen Aktivitäten seiner Halbbrüder zum eigenen Vorteil. Gerade einmal fünf Jahre waren seit dem Tod ihres Vaters vergangen, als er Sobrarbe und Ribagorza eroberte, sie Aragón anschloss und sich zum König ausrufen ließ. Die drei nebeneinanderliegenden, von Ramiro vereinten Territorien waren die Wiege seines später stark wachsenden Königreichs.
In den ersten hundert Jahren herrschte Ramiros Familie unangefochten in Aragón. Sie brachte vier Könige hervor, die nach einem Bürgerkrieg bei ihren Nachbarn im Westen neben Aragón auch Navarra regierten. Anfangs gab es keine größere aragonesische Stadt, die als administratives oder kirchliches Zentrum hätte dienen können. Die geistlichen Bedürfnisse der Untertanen befriedigten Wanderpriester und das entlegene Benediktinerkloster San Pedro de Siresa. Die Stadt Chaca oder Jaca, zuvor Basis einer karolingischen Grafschaft, wurde 1063 Sitz des ersten aragonesischen Bistums. Die größere und ältere Stadt Huesca – das römische Osca, im 11. Jahrhundert als maurische Festung Wasqah genannt – wurde erst vierzig Jahre später erobert. Ramiro, jetzt König Sancho Ramírez, hatte die Burg Montearagón ganz in der Nähe errichtet, um die Stadt zu belagern, und wurde durch einen verirrten Pfeil getötet, als er die Stadtmauern auskundschaftete. Den letzten Angriff führte schließlich sein ältester Enkel und Nachfolger Peter I., der die Stadt zu seiner wichtigsten Residenz machte und dort auch begraben liegt. Mit den Grafen von Toulouse kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen über die Kontrolle der Bergpässe, doch die alles überschattende Gefahr lag in den ständigen Kämpfen zwischen Christen und Muslimen im Süden.
Von Anfang an besaß also das junge Königreich Aragón nicht die besten Chancen auf ein längerfristiges unabhängiges Überleben zwischen den stärkeren Königreichen Kastilien und Navarra, dem mächtigen muslimischen Emirat von Córdoba und, jenseits von Ribagorza, der Ostflanke der früheren Mark, die die Grafen von Barcelona regierten. Damals fraßen Kriegsherren ihre Nachbarn oder wurden selbst gefressen. Ramiro und seine Nachfolger konnten sicher von ihrem Rückzugsmöglichkeiten in den Bergen profitieren, doch ihr Dilemma lag offen zutage: Wenn sie ihr Reich auszuweiten versuchten, riskierten sie die Rache ihrer Rivalen; wenn sie nichts taten, bestand die Gefahr, dass sie stagnierten und die Geier auf sich zogen. Ihre Unsicherheit spiegelt sich in wiederholten Versuchen, Bündnisse mit ihren Nachbarn zu schließen, zuerst mit Navarra, dann mit Kastilien und schließlich mit Barcelona.
Aragón konnte auf eine ganz eigentümliche Geschichte zurückblicken. Als Heimat des vorrömischen keltiberischen Stammes der Ilergertes hatte es nie zum Baskenland gehört und war nie Ziel größerer maurischer Siedlungstätigkeit oder stärkerer fränkischer Einflüsse gewesen, wie sie sich in Katalonien zeigten. Im Gefüge der Dialekte und Sprachen der Halbinsel hatte auch Aragón eine eigene Muttersprache. Vor allem aber war Aragón klein und arm. Es konnte keine großen Armeen aufstellen wie Kastilien, und es besaß, obwohl seine Gesellschaft weitgehend frei von feudalen Pflichten war, nicht Kataloniens Handelspotenzial oder dessen gute Kontakte nach außen. Daher konnte es seinen wachsenden Kreis von Klienten und Partnern nur dadurch zufriedenstellen, dass es ihnen weitgehende Autonomie einräumte. Im Gegensatz zu den Traditionen Kastiliens stand der »Aragonismus« für Respekt vor einheimischen Gesetzen und für dezentrale Herrschaft.
Das kleine Sobrarbe – einer der drei Bestandteile des ersten Königreichs Aragón – nimmt in der Entwicklung der politischen Traditionen eine besondere Stellung ein. Einer Legende zufolge, die jahrhundertelang als historische Tatsache galt, verlangte man dort von den Herrschern einen Eid, der einem formellen Vertrag mit ihren Untertanen gleichkam. Im Gegenzug erklärten die Untertanen: »Wir, die wir so viel wert sind wie Ihr, nehmen Euch als unseren König, vorausgesetzt, dass Ihr unsere Gesetze wahrt.« Zudem musste der König die Ernennung eines gewählten justiciar bestätigen, der die Einhaltung dieser Rechte überwachte. Die neuere Forschung hat gezeigt, dass der »Eid von Sobrarbe« eine Erfindung aus viel späterer Zeit ist; dennoch sehen viele Kommentatoren darin den Reflex einer uralten Tradition.14
Aragón spielte in der Reconquista eine wichtige Rolle. Es entspann sich ein tückisches Spiel ständig wechselnder Allianzen, in dem sich Aragón mit Kastilien zusammenschloss, um die Mauren unter Druck zu setzen, oder mit den Mauren, um die Kastilier im Zaum zu halten. Immer wieder kam es zu willkürlichen Gewalttaten. Im Jahr 1064 hatte der erste Krieg der Regierung von König Sancho Ramírez mit einem spektakulären multinationalen Feldzug gegen die von den Muslimen besetzte Stadt Barbastro begonnen. Mit dem Segen des Papstes hatte sich die aragonesische und katalanische Streitmacht durch ein Ritterheer aus Aquitanien, Burgund und Kalabrien verstärkt. Die Belagerung hatte Erfolg, die Verteidiger wurden niedergemetzelt – angeblich verloren 50.000 Menschen ihr Leben. Doch der Sieg sollte nicht lange währen: Beladen mit Beutegut, Sklaven und Frauen, zogen die Kreuzfahrer ab und ließen nur eine kleine Garnison zurück, woraufhin Barbastro ein Jahr später von einem muslimischen Entsatzheer, das von Lleida her anrückte, zurückerobert wurde. Die christlichen Bewohner erlitten das gleiche Schicksal wie ihre muslimischen Vorgänger.15
Die erste Belagerung von Barbastro bildet den Hintergrund eines seltenen Einblicks in das Leben in der christlich-muslimischen Grenzregion; Urheber ist ein maurischer Autor, Ibn Bassam, der wiederum mit dem Bericht eines Juden vertraut war, den man in die Stadt geschickt hatte, um einflussreiche Bürger freizukaufen:
Als die französischen Kreuzritter Barbastro … im Jahr 1064 einnahmen, erhielt jeder der führenden Ritter ein Haus mit allem, was darin war, Frauen, Kinder und Möbel … [Der Jude] fand den Kreuzritter in maurischer Kleidung auf einem Divan sitzend und umgeben von muslimischen Dienerinnen; er … hatte die Tochter des früheren Besitzers geheiratet und hoffte, dass sie ihm Nachkommen schenken werde. »Ihre muslimischen Vorfahren taten dasselbe mit unseren Frauen, als sie dieses Land in ihren Besitz brachten. Jetzt machen wir es ebenso …« Dann wandte er sich dem Mädchen zu und sagte in gebrochenem Arabisch: »Nimm Deine Laute und sing ein paar Lieder für diesen Herrn.« Der Jude fügt noch hinzu: »Ich war froh, dass der Graf eine solche Begeisterung zeigte, als ob er die Worte verstünde – allerdings trank er weiterhin.«16
Solche Zusammentreffen können kulturell nicht ohne Folgen geblieben sein. Es ist wohl kein Zufall, dass Guillaume (Wilhelm) VIII., Herzog von Aquitanien und Graf von Poitou, Vater des ersten aller Troubadoure, zu den Anführern des »Feldzugs von Barbastro« gehörte.17
Das war die Welt des Rodrigo Díaz (um 1040–1099), eines kastilischen Ritters aus Vivar, der sich seinen frühen Beinamen »El Campeador«, »der Kämpfer«, damit verdient hatte, dass er einen General aus Navarra in einem Zweikampf erschlug. In den 70er-Jahren des 11. Jahrhunderts wurde er nach Sevilla geschickt, um dort Tribute einzusammeln. Dann allerdings warf man ihm vor, er habe einen Teil des Königsschatzes für sich selbst auf die Seite gebracht, und strafte ihn mit Verbannung. Von da an war er ein Söldner, der die Dienste der Lanzen seine Kompanie an den Meistbietenden verkaufte. Er unterhielt enge Verbindungen zu Peter I. von Aragón, dessen Sohn und Erben er seine Tochter zur Frau gab, doch sein wichtigster Auftraggeber war Moktadir, der arabische Emir von Zaragoza. Von den Muslimen bekam er auch den Beinamen »El Cid«, »der Kriegsherr«. Alle Staaten im Norden hatten schwer unter seinen Raubzügen zu leiden – seine letzte Heldentat war die Belagerung Valencias an der Spitze eines muslimischen Heeres.18
Der Cid der Romane und Legenden, Spaniens herausragender literarischer Held, wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einem Ritter ohne Furcht und Tadel, der nur sehr wenige Ähnlichkeiten mit dem echten Rodrigo Díaz hatte. Die ersten in Küchenlatein geschriebenen Geschichten kamen bald nach seinem Tod in Umlauf, während das Epos Cantar del Mio Cid aus dem späten 12. Jahrhundert stammt:
De los sos ojos tan fuertemientre llorando,
Tornava la cabeça e estrávalos catando …
Allí piensan de aguijar, allí sueltan las rriendas.
A l’exida de Bivar ovieron la corneja diestra …
»iÁlbricia, Álbar Fáñez, ca echados somos de tierra?« …
Aus des Helden Augen tropften
traurig Tränen, und noch einmal
dreht er den Kopf. Noch einmal
schaut zurück der Cid zum Abschied …
Und sie spornten ihre Rosse,
locker ließen sie die Zügel.
Als sie aus Bivar geritten,
war der Dohlen Flug zur Rechten …
»Wie sie uns aus unsrer Heimat,
aus Kastilien heute treiben,
so mit großen Ehren werden
eines Tags zurück wir kehren.«
Cid, mein Cid, Rodrigo Díaz,
ein zog er in Burgos’ Mauern
und mit ihm an sechzig Lanzen.
Alle kommen, ihn zu sehen,
alle Männer, alle Weiber.
Recken sich aus allen Fenstern.
Viele Tränen sieht man glänzen.
Alle schmerzt das, was sie sehen.
Und da war nicht eine Stimme,
die es nicht zu sagen drängte:
»Welch ein edler Held! O Schöpfer!
Hätte der nur einen Herren,
auch so edel wie der Lehnsmann«19
Bei seinem Plünderzug durch Aragón verirrrte sich Díaz einmal weiter östlich in den Herrschaftsbereich von Raimund oder Ramón Berenguer I., Graf von Barcelona. Wie üblich zog er raubend und plündernd durchs Land und erpresste Tributzahlungen:
Übers Land lief rasch die Kunde,
auch der Graf von Barcelona
hatte bald davon vernommen.
Dass der Cid durch seine Lande
kreuz und quer lief, unbelästigt,
solches grämte schwer den Grafen …
Dieser Graf, er war ein Wortheld.
Laut sagt er, voll Eitelkeiten:
»Tut er mir so große Schmach an,
dieser Cid, der aus Bivar kommt? …
Land, das unter meinem Schutz steht,
das hat er jetzt ausgeplündert …
Ich hab Freundschaft nicht gekündigt.
er hat mich herausgefordert,
so nehm ich zurück die Freundschaft.«
Zahlreich sind die Kriegerscharen …
zu verfolgen Cid Rodrigo.
Durch drei Tage und drei Nächte
mussten sie in Eile reiten,
bis sie ihn erreichen konnten
in dem Pinienwald von Tévar.
Mit der Beute, die er mitführt,
steigt mein Cid Rodrigo Díaz
von den hohen Bergen nieder,
von der Sierra bis zum Tale.
Und dort wartet auf ihn Botschaft
von dem Grafen Don Ramón schon …
»Sagt dem Grafen: Nicht verübeln
möchte er’s, denn von seinen Gütern
nicht das kleinste Stückchen nehm ich.
Lass er mich in Frieden ziehen.«
Antwort gibt der Graf ihm darauf:
»Niemals, nie wird es geschehen.
Was er jetzt und was er früher
angetan mir, zahlen soll er’s…«
Der Cid antwortet darauf:
»Gürtet rasch euch mit den Waffen.
Graf Ramón, der will uns liefern
eine große Feldschlacht heute,
denn von Mauren und von Christen
bringt er eine große Menge …
Zieht den Rossen ihre Riemen
fester an und seid gewappnet …
Graf Ramón, er wird noch sehen,
wen er hier zu jagen dachte, …
Fest die Waffen in den Händen
sitzen steil sie in den Rossen.
Sehn die FrankenC abwärts stürmen.
In der Mulde eines Abhangs,
nahe schon dem flachen Lande,
gibt mein Cid Rodrigo Díaz
den Befehl, sie anzugreifen.
Und die Seinen folgen rasch ihm,
guten Willens und voll Eifer.
Ihre Fahnen, ihre Lanzen
wissen gut sie zu gebrauchen.
Schlagen Wunden dort, und diesen
werfen sie aus seinem Sattel.
Sieger bleibt in diesem Treffen,
der zu guter Stund geboren,
bleibt mein Cid, und Graf Ramón selbst
geht gefangen aus der Feldschlacht…
Meinem Cid Rodrigo Díaz
reiche Speise sie bereiten,
doch dem Grafen Don Ramón, dem
will nichts von den Speisen schmecken.
Von dem Besten, was sie bringen,
alles lässt er vor sich stehen …
alles sieht er mit Verachtung.
»Keinen Bissen will ich nehmen
von dem, was mir Spanien bietet.
Bin ich doch besiegt im Kampfe
von euch mit den schlecliten Hosen.«
Und mein Cid Rodrigo Díaz?
Hört, was der zu ihm gesagt hat:
»Esst mein Graf, von diesem Brote!
Trinkt mein Graf, von diesem Weine!
Wenn Ihr tut, was ich Euch sage,
sollt Ihr nicht gefangen bleiben.
Wenn nicht, dann den Rest des Lebens
sitzt Ihr fensterlos im Dunkel!«20
El Cid hielt sein Wort: Der Graf blieb am Leben und kehrte nach Hause zurück, um seine Wunden zu lecken. Ihm muss klar geworden sein, dass in Zukunft nicht allein der Kampf gegen die Mauren, sondern auch die Rivalitäten zwischen Barcelona, Kastilien, Navarra und Aragón eine wichtige Rolle spielen würde.
Wenn Kastilien sich El Cid zum Lieblingshelden erwählte, so adoptierte Aragón quasi offiziell den hl. Georg als seinen Schutzpatron, drei Jahrhunderte, bevor die Könige von England dasselbe taten. Die königliche Standarte Aragóns zeigte das rote Georgskreuz auf weißem Grund, manchmal mit dem Kopf eines schwarzen, gekrönten Mauren in jedem der vier Quadranten. Der Kult des heiligen Georg, eines armenischen Märtyrers des 4. Jahrhunderts, war unter den Kreuzfahrern sehr beliebt und mit Aragóns Wunsch verbunden, ein päpstliches Protektorat zu werden. Urban II., der Papst des Ersten Kreuzzugs, nahm Aragón 1089 ganz offiziell in die »Freiheit der römischen Kirche« auf, ebenso wie Barcelona ein Jahr später.21