Buch lesen: «Raban und Röiven Eine magische Freundschaft»
Raban und Röiven
Eine magische Freundschaft
Fantasy Roman
Norbert Wibben
Raban und Röiven
Eine magische Freundschaft
Raban und Röiven, Band 1
Für Maraike
Du bist immer in meinem Herzen.
Ich vermisse dich!
In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:
Ein Huhn und ein Hahn ‒ …
Ein ganz normaler Junge
Beginn einer Rettungsaktion
Der Kolkrabe berichtet
Minervas Auftrag
Ein Plan entsteht
Ein Missgeschick
Ein Zauberer überlegt
Die Priorei
Der Wolf
Ein neuer Plan
Auseinandersetzung
Ein Angriff
Grübeleien
Ein erneuter Fehlschlag
Ein Alarm
Schlechte Nachrichten
Minervas Ratschlag
Zauberkräfte
Dunkle Zauber
Sorgen
Rettung im letzten Moment
Plötzliche Erkenntnis
Barans Grübeleien
Treffen in Serengard
Solveigs Ratschlag
Lagebesprechung
Im Weidenweg
Zeitungsberichte
Eilas Armreif
Eine Suche
Im Norden
Träume und ein erster Erfolg
Clanführer
Professor Ansaepluma
Erste Tote im Norden
Eine alte Stadt
Die Jagd beginnt
Zurück in den Süden
Verbündete
Überlegungen
Wechsel in den geheimen Wald
Ungewissheit
Rabans Beobachtungen
Rat des Großvaters
Hilferufe
Wieder Zuhause
Zaubersprüche
Danksagung
Ein ganz normaler Junge
Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Es ist Sommer. Die Sonne steht hoch am blauen Himmel, an dem nur wenige, duftig geformte Wolken zu sehen sind. Es ist früher Nachmittag und der erste Ferientag. Was kann es Schöneres geben?
Ein leiser, warmer Windhauch streicht über die sanften Hänge mit dem wenigen Buschwerk im bergigen Norden des Landes. Weiße Schafe mit schwarzen Köpfen grasen friedlich auf den mit Steinmauern eingegrenzten, hügeligen Weiden. Die älteren rupfen gemächlich herumwandernd das fette Gras, um es langsam zu kauen, während die schon recht großen Lämmer verspielt herumtollen. Auch sie haben schwarze Köpfe mit weißen Flecken, aber noch keine Hörner. Gelegentlich versucht eines von ihnen doch noch etwas Milch von seiner Mutter zu ergattern. Es stößt auffordernd mit dem Kopf an den Bauch des Muttertieres und bückt sich tief hinab, um mit dem Maul an eine der Zitzen zu gelangen. Manchmal hat eines Glück, so wie jetzt und kann eine kurze Zeit die nahrhafte Milch genießen, während sich dabei sein Schwänzchen wie ein Propeller dreht.
»So ein kleiner Schlingel«, denkt Raban. »Es ist ja auch viel einfacher, den Bauch mit der fetten Milch zu füllen, als selber Gras zu fressen.« Wohlwollend lächelnd schaut er dem cleveren Lamm zu. Doch nach nicht einmal einer Minute unterbricht das Mutterschaf die Fütterung, indem es sich ein paar Schritte vorwärts bewegt. Das erneute Anstoßen des Lamms an ihren Bauch führt nun nicht zum gewünschten Erfolg. Das Schaf dreht sich vielmehr zu seinem Kind und senkt drohend den Kopf mit den Hörnern. Die Geste wird von diesem verstanden und es tollt in mehreren hohen Sprüngen davon, um anschließend doch etwas vom Gras zu naschen. Raban lacht lauthals beim Anblick dieses übermütigen Verhaltens.
Er wendet sich von der Weide ab und folgt dem Pfad hangaufwärts.
In Gedanken versunken achtet er nicht weiter auf das Gesumm der Insekten, die Nektar von den Blumen am Wegrand sammeln. Das gelegentliche Trillern und Zwitschern der Vögel dringt nur unbewusst zu ihm vor, obwohl gerade Vögel seine Lieblingstiere sind. Eigentlich hätte er sich sofort davon überzeugt, wessen Gesang er gerade hört. Den eines Trauerschnäppers oder ist es vielleicht der einer Gartengrasmücke? Aber nicht heute. Raban überdenkt seine Situation. Er ist froh, in den Ferien machen zu können, was ihm am Liebsten ist: Lesen, Zeichnen, Wandern und Tiere beobachten. Während der Schulzeit hat er dafür nicht so ausgiebig Zeit. Dann bestimmt der Unterricht den ganzen Vormittag, bis hin zum halben Nachmittag.
Raban grübelt darüber nach, was es Schönes für ihn im Schulleben gibt. Na klar, Sport macht er gerne, auch wenn er nicht so talentiert wie die meisten Jungen in seiner Klasse ist. Überall dort, wo Kraft und nicht unbedingt Geschicklichkeit wichtig ist, befindet er sich den anderen gegenüber im Nachteil. Obwohl er wie die meisten seiner Klasse 14 Jahre alt ist, wirkt er neben ihren massigen Staturen eher zierlich. Zum Fußballspiel wird er sehr oft nicht direkt in die Mannschaft gewählt. Meistens ist er der Letzte, der notgedrungen genommen wird, um die Anzahl der Mitspieler auszugleichen. Viele Mädchen werden sogar vor ihm gewählt.
Biologie und Kunstunterricht sind seine Lieblingsfächer. Besonders wissbegierig nimmt er alle Informationen auf, wenn es dabei um Tiere geht. Er ist im Zeichnen von Vögeln sehr begabt und sicher einer der Besten der Schule, nicht nur seines Jahrgangs, obwohl er dafür oft gehänselt wird.
»Du bist ein richtiges Weichei!« und »Zeichnen und Tiere sind doch Dinge, für die sich Mädchen interessieren, aber keine Jungen, die zu echten Männern werden wollen!«, bekommt er immer wieder vorgehalten. Auf dem Schulhof wird er häufig von Klassenkameraden oder Schülern aus den oberen Klassen angerempelt, falls er nicht vorher geschickt ausweichen kann. Er hat keine besonderen Freunde und ist in den Pausen meist allein für sich, wobei er oft abseits sitzt und in einem Skizzenheft zeichnet. Es ist daher nur verständlich, wenn er sich besonders über die Zeit der Ferien freut.
»Da kommt ja unser Weichmichel«, schreckt ihn plötzlich eine bekannte Stimme aus seinen Gedanken. Er folgt dem Pfad um ein Gebüsch herum.
»Hallo Rabine«, neckt gleich darauf eine weitere Stimme.
»Haben wir dich in deinen Träumen gestört?« lacht ihn ein dritter Junge aus.
»Hallo Jungs«, antwortet Raban kurz angebunden und versucht, seine Klassenkameraden nicht weiter beachtend, die bisherige Richtung beizubehalten. Er ist ihnen körperlich nicht gewachsen und befürchtet, sie sind wieder einmal auf eine Balgerei aus.
»Halt, warte doch mal!«, wird er nun von Alexander, dem Anführer der drei, aufgefordert. »Wir haben einen Vogel gefangen, sind uns aber nicht einig, was es für einer ist. Du kennst dich doch ganz gut aus. Derjenige von uns, der Recht hat, kann ihn mit nach Hause nehmen.«
Tatsächlich bleibt Raban jetzt interessiert stehen.
»Wo habt ihr denn den Vogel und wie habt ihr ihn überhaupt gefangen?« Er lässt seinen Blick suchend umherschweifen.
»Bist du denn blind? Schau doch mal da«, weist Alexander mit ausgestrecktem Arm auf das Weißdorn-Gebüsch, unter dem sich etwas im Schatten zu bewegen scheint.
Langsam nähert sich Raban dem Strauchwerk. Als er noch ein paar Meter entfernt ist, hockt er sich abwartend nieder. Er betrachtet forschend den großen, dunklen Vogel. Dieser hat sich so weit wie möglich unter den Strauch gedrückt und lässt seinen rechten Flügel etwas hängen. Sehr dunkle Augen blicken aus einem etwas schräg gehaltenen Kopf zu Raban hoch, um ihn, so sieht es aus, ebenfalls forschend zu betrachten.
Raban hält erschrocken kurz den Atem an. Das kann doch nicht wahr sein.
»Sch, sch! Du musst keine Angst haben, ich tue dir nichts«, versucht der Junge mit leiser Stimme den Vogel zu beruhigen. Langsam bewegt er sich rückwärts, erhebt sich und wendet sich den drei Anderen zu. Er muss einige tiefe Atemzüge machen. Erst einmal ist Ruhe notwendig.
»Nun? Du kennst diese Vogelart wohl auch nicht!«, wird er von Alexander verhöhnt.
»Ich weiß genau, was das für ein Vogel ist«, entgegnet Raban bestimmt. »Ich verstehe nur nicht, wie ihr es wagen konntet, auf ein wehrloses Tier mit euren Steinschleudern zu schießen.« Aufgebracht schaut er in die Gesichter seiner Klassenkameraden und deutet auf die hölzernen Waffen, die halb aus deren Taschen schauen.
»Da ist doch nichts dabei! Wie hätten wir diesen Vogel denn sonst bekommen können?« Brummig blicken die drei zurück. »Außerdem ist das doch bloß ein Tier! Und du kennst es auch nicht.«
»Doch, ich kenne diesen Vogel. Wenn ihr die falsche Art nennt, dann nehme ich ihn mit. Er ist verletzt und muss dringend behandelt werden!«
Als die anderen lauthals zu lachen beginnen, hebt er seine Fäuste und macht drohend einen Schritt auf sie zu. Das Gelächter verstummt sofort. Die drei glauben ihren Augen nicht zu trauen. Dieser schmächtige Junge, der etwa einen halben Kopf kleiner als sie ist, fordert sie heraus? Sie werden auf dem Schulhof von den anderen Kindern gefürchtet, da sie zusammenhalten und keiner Rauferei aus dem Weg gehen. Aber irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Raban wirkt heute nicht lächerlich, sondern tatsächlich bedrohlich. Woran es liegt, wissen die Jungen nicht, aber sie treten erschrocken einen Schritt zurück.
»Langsam, du musst nicht gleich aufbrausen«, entgegnet Alexander nun. »Wir machen das so, wie gerade von dir vorgeschlagen.«
»Abgemacht, der Handel gilt«, bestätigt Raban nickend. »Also nennt mir eure Vorschläge.«
»Das ist eine Dohle«, kommt sofort der erste.
»Nein«, entgegnet Raban, »die hätte blaue Augen, wenn sie jung ist, oder hellgraue, wenn sie erwachsen ist, und außerdem wäre sie wesentlich kleiner.«
Nach kurzem Zögern lautet der zweite Vorschlag:
»Das ist ’ne etwas zu groß geratene Schwarzdrossel!«
»Nein!« lacht Raban, »die hätte einen gelben Schnabel und wäre nicht einmal halb so groß.«
Nach einer langen Pause erfolgt die letzte Nennung von Alexander:
»Das ist eine Saatkrähe oder eine Rabenkrähe.«
»Das war jetzt geschummelt, trotzdem hat es dir nichts genutzt. Beide Antworten sind nicht richtig. Augen- und Schnabelfarbe stimmen zwar, aber beide Arten wären kleiner.«
»Was soll das denn dann für ein Vogel sein? Vielleicht ein Rabe, so ähnlich lautet dein Name doch auch?« Alexander ist wütend, da Raban von ihnen den Vogel gewonnen hat. Er hätte ihn nur zu gern zu Hause in einen Käfig gesperrt und sich als großer Jäger gefühlt, wenn andere Jungen einen Blick darauf werfen dürften.
»Es ist ein Kolkrabe! Und jetzt lasst mich das Tier mitnehmen, damit es die notwendige ärztliche Hilfe bekommt. Es soll die von euch verursachten Schmerzen nicht länger als nötig aushalten müssen. Geht!«
Der Blick, den Raban ihnen zuwirft, ist drohend. Erneut sind seine Fäuste geballt und erhoben.
Einen Moment zögern die Drei, unschlüssig, ob sie sich geschlagen geben sollen. Wenn das die anderen aus der Klasse erfahren, ist ihre bisherige Überlegenheit in Gefahr. Doch dann geschieht das Unerwartete. Sie grummeln leise etwas vor sich hin, zucken mit den Schultern, drehen sich um und schlurfen davon. Alexander blickt sich noch einmal kurz um, spuckt hinter sich auf den Boden und murmelt wütend:
»Weichei, Mädchen!«
Raban atmet auf. Das war aber knapp. Er hatte den Atem angehalten und nicht zu hoffen gewagt, diesen Sieg zu erringen.
Langsam dreht er sich zum Weißdorn-Gebüsch um und traut seinen Augen nicht. Der Kolkrabe kommt aus dem Schutz des Gebüschs hervor und befindet sich nun ganz in seiner Nähe. Der Junge geht in die Hocke. Ihre Blicke begegnen sich. Plötzlich hört er eine knarzige Stimme:
»Danke! Du hast mich gerettet.«
Erschrocken fährt Raban hoch und blickt sich um. Aber der Vogel und er sind die einzigen Lebewesen hier.
»Spinne ich?«, rätselt der Junge, als er erneut die Stimme wahrnimmt.
»Nein, Raban. Du spinnst nicht. Du hörst meine Stimme in deinem Kopf, so wie ich deine Gedanken hören kann. Du hast Recht. Ich bin ein Kolkrabe, so wie ihr Menschen unsere Art nennt. Mein Name ist Röiven. Ich bin dir sehr dankbar, wenn du mir helfen und meinen Flügel wieder richten kannst. Mittlerweile sind die Schmerzen schon unerträglich.«
In diesem Moment schließt der Kolkrabe seine Augen und kippt auf die Seite.
Obwohl Raban sprachlos darüber ist, was der Vogel zu ihm gesagt hat, reagiert er sehr schnell. Er fängt ihn auf, bevor er den Boden berührt. Vorsichtig erhebt er sich mit dem Tier in seinen Armen und rennt in Richtung des Dorfes.
»Kann ich wirklich den Vogel gehört haben?«, überlegt der Junge. »Falls das möglich sein sollte, werde ich davon lieber nichts zu anderen sagen. Ich werde sonst sicher für verrückt erklärt. Jetzt muss ich den Tierarzt um die Behandlung des Vogels bitten. Der Flügel scheint gebrochen zu sein und muss sicher gerichtet werden.«
Beginn einer Rettungsaktion
Es ist Abend und Raban liegt in seinem Bett. Durch das Fenster leuchtet der Mond herein. Gerade als ein Mondstrahl auf das dunkle, blau glänzende Gefieder fällt, bewegt sich der große Vogel. Seine dunkelbraunen Pupillen sind nachdenklich auf den fest schlafenden Jungen gerichtet. Der Kolkrabe hockt auf einem kleinen Tischchen neben Rabans Bett und überlegt. Soll er dem Jungen erzählen, wer er ist und warum er hier ist? Wird er das überhaupt glauben? Menschen sind oft grausam zu Tieren. Doch dieser Junge hat sein Mitgefühl für ihn bewiesen, hat sich sogar mit den anderen anlegen wollen. Er hatte es wohl bemerkt.
»Dabei ist dieser Junge eher schmächtig und macht nicht gerade den Eindruck, ein geübter Kämpfer zu sein. Aber ich habe seinen wachen und forschenden Blick gesehen. Für sein Alter wirkt er bereits sehr klug. Die hellblauen Augen scheinen mir sehr gut zu seinen kurzen, blonden Haaren zu passen. Zusammen mit den wenigen Sommersprossen auf und um seine Nase wirkt er etwas verschmitzt aber freundlich. Was er wohl von mir denken mag?«, grübelt Röiven. »Im Moment, da die Gefahr vorüber ist, falle ich in Ohnmacht. Ich bin in seinen Augen sicher ein Schwächling! Hm, ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Der Mond schickt sein silbernes Licht direkt auf das Gesicht des Jungen.« Leise, unverständliche Worte ertönen.
Raban bewegt sich, reibt verschlafen die Augen und erhebt sich. Sein Blick sucht den Vogel. Erleichtert atmet er auf, als er ihn im Mondlicht erkennt. Der Verband über dessen Schulter zum rechtem Flügel hin ist nicht zu übersehen.
Raban erinnert sich. Der Tierarzt hatte sehr erstaunt geschaut, als er mit dem großen Kolkraben im Arm in der Praxis stand. Die Behandlung verlief schnell und einfach, da der Vogel noch nicht erwacht war. Nach einer gründlichen aber vorsichtigen Abtastung hatte der Arzt ihn beruhigt.
»Zum Glück ist der Flügel nicht gebrochen. Aber ich habe eine heftige Prellung an seinem kleinen Brustmuskel ertastet. Dadurch wird er einige Tage den Flügel nicht heben können. Ich werde ihm einen Schulter-Flügel-Verband anlegen, der diesen fixiert. Dadurch werden Muskelbewegungen vermieden, die sonst heftige Schmerzen verursachen würden. Vorher gebe ich dem Tier eine schmerzstillende und abschwellende Salbe auf den Muskel. In etwa drei bis fünf Tagen kannst du den Verband entfernen und die Reste der Salbe mit lauwarmen Wasser abwaschen, damit der Vogel diese womöglich nicht mit dem Schnabel entfernen muss. Schaffst du das?«
Der Arzt hatte ihn freundlich angesehen und zu seiner Bestätigung genickt. Danach wollte er noch wissen, wie das Tier zu dieser Verletzung gekommen sei. Ohne die anderen zu verraten, erzählte Raban ihm, er habe den Kolkraben betäubt in der Nähe eines Baums gefunden, den dieser vermutlich im Flug gestreift haben musste.
Er erinnert sich noch genau an den forschenden und leicht ungläubigen Blick des Mannes durch die runden Brillengläser. Der Junge weiß genau, Kolkraben sind ausgezeichnete Flugkünstler und würden nie eine derartige Verletzung durch Selbstverschulden bekommen. Viel wahrscheinlicher könnten Menschen den Tieren so etwas antun. Diese betrachten Rabenvögel oftmals negativ als Unglücksboten, als diebisch, ungeschickt oder gefährlich, und gehen gegen sie vor. Nach kurzem Schweigen hatte der Arzt ihm wieder zugelächelt. Er traute Raban offenbar eine das Tier verletzende Tat nicht zu, da er dann nicht mit dem Vogel im Arm zu ihm gekommen wäre.
Der Junge betrachtet den Vogel, der wieder mit leicht schräg gestelltem Kopf und wachen, dunkelbraunen Augen zurückblickt. Der Kolkrabe hat eine Körperlänge von weit mehr als 50 cm und eine schlanke Statur. Sein Schnabel ist sehr groß und kräftig, der Oberschnabel ist deutlich nach unten gebogen. Das Gefieder ist einfarbig schwarz und glänzt im Mondschein metallisch. Beine und Schnabel sind ebenfalls schwarz.
»Bist du jetzt fertig mit meiner Musterung?«, vernimmt er die leicht knarzende Stimme.
»Entschuldige bitte, Röiven! Ich wollte dich nicht so anstarren. Aber ich konnte noch nie einen Kolkraben aus der Nähe betrachten. Ich hoffe, ich habe deine Gefühle nicht verletzt.«
»Ähem, ist schon gut. Ich möchte dir noch danken. Die Schmerzen sind weg. Aber leider ist mein rechter Flügel jetzt unbeweglich. Hast du ihn mit Absicht festgebunden?« Die Augen des Vogels scheinen aufzuglimmen, so, als ob dort ein unsichtbares Feuer lodert.
»Das hat der Arzt, zu dem ich dich gebracht habe, gemacht, um deinen Flügel, also die Muskulatur zu schonen. Aber, keine Angst, in drei Tagen werde ich ihn entfernen.«
»Ich habe keine Angst, nie!«, vernimmt der Junge jetzt eine aufgebrachte Stimme. »Aber ich habe einen dringenden Auftrag, den ich erfüllen muss. Jetzt wird es sehr schwierig werden, Baran aufzuhalten.« Der große Vogel klappert mit seinen Augendeckeln.
»Ich brauche meinen rechten Flügel nicht nur zum Fliegen«, fügt er nach einer kleinen Pause erläuternd hinzu. »Ich benötige ihn auch, damit ich mit voller Kraft zaubern kann! Meine Magie ist in meinem derzeitigen Zustand vielleicht sogar gefährlich für mich, wer weiß das schon so genau.«
»Magie und Zauberei? Träume ich vielleicht noch?« Raban reibt sich erneut die Augen. Der Vogel beugt sich von dem kleinen Tischchen zu ihm herüber und zwickt ihn kurz mit dem kräftigen Schnabel in die Schulter.
»Autsch, was soll das denn jetzt?«, fährt der Junge auf.
»Ich wollte dir beweisen, du träumst nicht!« Ein leises Lachen, das wie rollende Steine auf einem sandigen Fels klingt, folgt.
»Also, du kannst zaubern? Zumindest, wenn du nicht derart eingepackt bist?«, will der Junge, immer noch etwas ungläubig wissen.
»Na klar. Das ist doch nicht in Frage zu stellen. Wie hätte ich dich denn sonst finden können?« Der Vogel klingt selbstbewusst. Der Junge versteht aber immer noch nicht.
»Wie? Du hast mich gefunden? Ich meine eher, ich habe dich gerettet, oder meinetwegen auch gefunden, wenn das deine Ehre kränken sollte.« Jetzt lacht Raban leise.
»Ach, sei’s drum. Der Mond wandert weiter. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen, wenn wir noch etwas retten wollen!«, lenkt der Kolkrabe unerwartet aber drängend ein.
»Was? Wir müssen zu einer Rettungsaktion aufbrechen? Da solltest du mich aber erst besser informieren, worum es überhaupt geht!«
»Dazu ist keine Zeit. Wir müssen sofort aufbrechen. Jetzt!« Der schwarze Vogel berührt den verdutzten Jungen mit seinem linken Flügel.
»Portaro!«
Raban hört die knarzende Stimme. Das Zimmer beginnt sich zu drehen. Es flimmert kurz.
Als das Gleißen aufhört, steht er im Freien, auf einem Bergrücken. Der Kolkrabe läuft schimpfend auf einem schmalen Pfad hangabwärts:
»Elender, blöder, nichtsnutziger Verband. Völlig ungeeignet zum Zaubern. Wir sollten eigentlich direkt bei Minerva angekommen sein.« Der schwarze Vogel blickt sich kurz nach dem Jungen um, der noch immer dort steht, wo sie angekommen sind. »Nun schau dich kurz etwas um. Aber beeile dich und folge mir schnell nach!«, hört er Röivens Stimme.
Was der Junge sieht, verschlägt ihm den Atem. Er befindet sich auf einem beeindruckenden Bergrücken. Die langen Abhänge hinter ihm leuchten hell im Mondlicht. Auf der vor ihm liegenden Seite liegen dagegen graue Schatten. So weit er den Weg vor und hinter sich sowie das umgebende Land überblicken kann, ist nirgends ein Haus oder eine Ansiedlung zu sehen. Der sich vor ihm abwärts windende Weg verläuft in Richtung eines Moorgebietes, auf dem nur schwach vereinzelte Büsche zu erkennen sind. Ein leichter Dunst liegt auf dem Gebiet. Über die gesamte Weite ist kein Ton zu hören oder die geringste Bewegung zu erkennen. Lediglich der schwarze Vogel schreitet auf dem Weg vor ihm abwärts.
»Wie sind wir hierher gekommen und wohin willst du so schnell?« Der Junge holt den Vogel kurz darauf ein, um sich ihm in den Weg zu stellen. »Du gibst mir jetzt sofort eine Erklärung für das alles.«
Nach einer kurzen Pause fordert er: »Und wenn du schon zaubern kannst, besorge mir doch meine Hose, Shirt und Schuhe. In meinem Schlafzeug ist es reichlich kalt. Außerdem möchte ich nicht derart gekleidet umherwandern!« Herausfordernd blickt Raban in Röivens Augen.
»Ist ja gut. Ich versuch es mit deinen Sachen.«
Der Junge hört ein kurzes, unverständliches Gemurmel, dann ist er normal gekleidet, so wie er gestern unterwegs war.
»Danke, das ging ja mal schnell. Aber jetzt solltest du meine Fragen beantworten und mir sagen, worum es geht. Und bitte, fang vorne an.«
Lächelnd nimmt er den Vogel auf seine Arme und folgt dem Pfad in der bisherigen Richtung.
»Wir sind mit dem magischen Sprung hierher gekommen. Wenn sich ein Zauberer einen ihm bekannten Ort vorstellt und »Portaro« spricht, verlässt er den bisherigen Ort und befindet sich sofort an dem aus seinen Gedanken.«
»Das Reisen mittels magischem Sprung kenne ich aus einem Buch. Dass das tatsächlich funktioniert, hätte ich nicht gedacht«, staunt der Junge verblüfft. »Aber warum sind wir hier auf diesem unwirtlichen Berghang?«