Jesus der Zweite

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Jesus der Zweite
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Jesus der Zweite

NORBERT SCHNEIDER

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ALLES ZU RETTEN, MUSS ALLES GEWAGT WERDEN
Friedrich Schiller
Kapitel 1
Wenn Isaiah zur Hauptstraße schaute, sah er meistens nichts, überhaupt nichts. Nur einmal in der Woche kam der Bus vorbei, der zwischen Salmonsla und Modutung verkehrte. Früher hatte er noch angehalten. Dann kamen die Frauen vom Markt zurück oder auch einige wenige Touristen stiegen aus und kamen in ihr Dorf. Aber seit die meisten im Dorf krank wurden, sah Isaiah den Bus immer nur vorbeifahren.
Auch heute erwartete er, dass der Bus vorbeifuhr. Doch diesmal hielt er an. Als er weiterfuhr, sah er einen Mann an der Straße stehen. Ab und zu kam ein Arzt von der Stadt vorbei aber der konnte es nicht sein, denn der kam mit dem Jeep und hatte immer eine Tasche dabei.
Der Fremde kam zielstrebig näher, als wenn er genau wüsste, wo er hinwollte. Beim Näherkommen sah sich Isaiah den Mann genauer an. Er schien gut 30 Jahre alt zu sein, war hoch gewachsen, schlank und hatte ein angenehm geschnittenes Gesicht. Er trug gepflegte Jeans, darüber ein kariertes Hemd und bequeme Ledersandalen. Trotz der großen Hitze war er ohne Hut.
Als er vor der Hütte ankam, vor der Isaiah saß, setzte er sich zu ihm auf den Boden, kreuzte die Beine und sprach ihn in seiner Muttersprache an. Ein immer selten werdender Bantu-Dialekt. Er war stolz darauf ihn noch zu sprechen. Aber die Gelegenheit, ihn an Jüngere weiterzugeben wurde immer geringer. Es interessierte sich niemand dafür.
„Ich grüße dich, ich weiß, du bist Isaiah und hier der Dorfälteste. Du hast großen Kummer. Viele deiner Stammesbrüder und -Schwestern sind todkrank. Es gibt keine Medikamente und auch der Arzt, der öfters vorbeischaut, ist euch kaum eine Hilfe. Auch zu essen habt ihr nicht genug, weil immer weniger von euch noch arbeiten können und daher niemand mehr zum Markt gehen kann. Viele der Kinder haben keine Eltern mehr. Die Krankheit hat die Zukunft eures Dorfes ruiniert“.
Isaiah dachte im ersten Moment, der Fremde komme von der Regierung und wolle ihm die Aufgabe ihres Dorfes vorschlagen. Er hatte auf dem Markt schon von solchen Versuchen gehört.
„Ja“, antwortete Isaiah, „uns geht es zwar sehr schlecht, aber wir glauben daran, dass Gott sich unser erbarmt und die Krankheit verschwindet. Der Arzt, der uns manchmal besucht sagt, dass es bald Medikamente gibt, welche uns helfen werden. Dann ist es vielleicht bald wie früher. Dann kommen vielleicht auch wieder die Touristen und kaufen uns die geflochtenen Körbe oder unsere geschnitzten Masken ab. Ich hoffe nur, dass dann noch genügend von uns leben werden. Auf jeden Fall möchten wir hier bleiben. Hier sind unsere Vorfahren begraben, hier wird auch mal mein Grab sein“.
Der Fremde hörte Isaiah zu, ohne ihn zu unterbrechen und fragte dann: “Kann ich die Kranken sehen?“
„Gehe rüber in unsere größte Hütte, wir haben dort alle kranken Frauen zusammengelegt. Wir hoffen, damit die gesunden Dorfbewohner zu schützen. Die kranken Männer sind alle nebenan in der kleineren Hütte. Die kranken Kinder sind bei Ihren Müttern“. Darauf stand der Fremde auf und ging in eine Hütte, zunächst zu den Frauen.
Isaiah blieb vor seiner Hütte sitzen. Er konnte den Anblick der Todkranken kaum ertragen. Es waren Freunde darunter, bei den Frauen auch seine Lieblingsfrau. Aber auch zwei ihrer gemeinsamen Kinder. Drei seiner Söhne waren schon gestorben.
Meistens begann es mit Durchfall, Erbrechen und quälenden Hustenanfällen. Die Kranken wurden immer schwächer. Dazu kamen meist noch fleckige Ausschläge. Schließlich dämmerten sie nur noch teilnahmslos vor sich hin. Die noch wenigen gesunden Angehörigen versorgten sie dann mit Wasser und fütterten sie mit Hirsebrei oder Bohnen.
Immer öfter wurden Verstorbene aus den Hütten getragen, in einfachste Brettersärge gebettet und hinter dem Dorf begraben. Inzwischen waren auch die Bretter ausgegangen und es mussten einige Tücher genügen. Die Zurückgebliebenen mussten nicht erst beginnen zu trauern. Trauer war im Dorf ohnehin ein Dauerzustand.
Nein, in die Hütten der Kranken ging Isaiah kaum noch. Der Gestank darin erinnerte ihn zu sehr an den Tod.
Isaiah wunderte sich, dass der Fremde so lange in der Hütte blieb. Hören konnte er nur ein leises Gemurmel. Nach etwa zehn Minuten verließ der ihm immer seltsamer vorkommende Fremde die Frauenhütte, um direkt in dem dunklen Eingang der Männerhütte zu verschwinden. Auch hier blieb er einige Zeit und kehrte dann zurück zu Isaiah.
„Sorge dafür, dass genug Wasser verteilt wird, schicke morgen alle Kranken wieder zu ihren Familien und verbrenne dann die beiden Hütten“.
Isaiah verstand nichts davon. Wie und von wem sollte er diese stinkenden Wesen zurück zu ihren Familien schleppen lassen? Der Fremde musste seine Gedanken lesen können, denn er antwortete: „Morgen wirst du verstehen, was ich meine“. Die Rätsel, die dir bleiben, werden dir noch lange zu denken geben. Aber irgendwann wirst du erfahren, warum ich hier war!“.
Er streckte ihm die Hand entgegen. „Halte dich bei Kräften, du wirst in der nächsten Zeit viel zu tun bekommen. Dein Dorf wird bald jeder kennenlernen wollen“.
Der Händedruck war fest, der Blick in seine Augen eindringlich. Irgendwie verspürte Isaiah, dass gerade etwas Besonderes geschehen war und der Fremde die Wahrheit sagte. Welche, wusste er nicht. Aber bald würde er es erfahren.
Der mysteriöse Fremde machte sich auf den Weg und Isaiah sah ihm nach, bis er in der Ferne verschwand.

Kapitel 2
Sie waren alle gekommen. Die Marketingstrategen der drei großen Pharmariesen, die Patentanwälte von den bestrenommierten Patentbüros aus London und New York. Sie hatten das ganze Hotel gebucht. Selbst hier in Saint Tropez gab es nichts Besseres, nichts Verschwiegeneres als das „La Bastide de St. Tropez“. Sie wollten unter sich sein, wollten feiern, sich an ihrem Erfolg ergötzen, die wirklich ersten großen Lizenzeinnahmen und Patenttantiemen genießen, die Weichen stellen für noch größere Erfolge. Hier konnte man sich abschotten von lästigen Reportern. Die Führung des „La Bastide de St. Tropez“ konnte mit beidem umgehen. Mit denen die gerne gesehen werden wollten in den Gazetten der Journale von London oder Paris, denen es nichts ausmachte, wenn alle Welt von ihrem Reichtum erfuhr, oder auch mit denen, die Diskretion bevorzugten. Nicht jedem war es recht, wenn die Öffentlichkeit mitbekam, dass man für eine Nacht im Doppelzimmer 1000 € ausgeben kann. Da funktionierte die Verschwiegenheit perfekt. So war es bei dem Treffen der Pharmaelite. Das „La Bastide de St. Tropez“ war deswegen einfach wegen Renovierung einige Tage geschlossen. Mit 46 Teilnehmern war das Hotel damit immerhin fast zu dreiviertel belegt.
Eingeladen hatte J.S.Morgenthaler der Patentkanzlei Morgenthaler & Benson. M&B hatten die Hauptgefechte der Patente für diverse Aids-Medikamente der Pharmaindustrie geführt. Die großen Drei hatten sich den Kuchen der Aidspräparate geteilt. Da die Behandlung von Aids nie aus nur einem Wirkstoff, sondern aus einer Mixtur verschiedener Wirkstoffe bestand, gab es für alle Hersteller genug große Stücke davon. Vorausgesetzt, man konnte die Preise hochhalten.
Bisher hatte das hervorragend funktioniert. Bei genügend öffentlichem Druck senkte man zwar kurz die Preise aber die ständig steigende Anzahl der neu Infizierten kompensierte das immer wieder. Zusätzlich ersetzte man ältere Wirkstoffe durch neuere Entwicklungen, für die man weit höhere Preise erzielte. Um dieses Spiel ständig am Laufen zu halten bedurfte es der besten Patentanwälte, die man auftreiben konnte. Und dies war die Agentur M&B.
Aber man verspürte doch zunehmenden Gegenwind. In den Ländern der Dritten Welt, aber auch in Schwellenländern wie Brasilien und Südafrika war man nicht mehr bereit und auch in der Lage, sich die hohen Medikamentenkosten zu leisten. Auch dort gab es clevere Anwälte und auch eine chemische Infrastruktur, welche in der Lage war, HIV-Medikamente nachzukochen und als Generika zu weit niedrigeren Kosten auf den Markt zu werfen. Dies trübte aber nur etwas die Stimmung im „La Bastide de St. Tropez“. Man war sich sicher, auch dagegen die richtigen Gegenmaßnahmen zu finden.
So war auch die Stimmung am ersten Abend alles andere als pessimistisch und man hatte sich zu einem Cocktail am Pool versammelt. Wie so oft im Oktober an der Côte Azur war es auch an diesem Abend herrlich lau und man konnte noch so richtig die Wärme des von der Sommerhitze aufgeheizten Mittelmeeres genießen. Es hatten sich rings um den Pool kleinere Grüppchen gebildet. Obwohl man nach außen hin erbitterter Konkurrent war kannte man sich. Besser als erlaubt. Die Marketingspitzenleute der drei Großen hatten oft Kontakt, wenn auch meist konspirativ. Wäre herausgekommen, welche Weichen in diesen Zirkeln gestellt wurden, wären abgesehen vom Imageverlust Milliardenzahlungen der EU und auch der amerikanischen Aufsichtsbehörden unausweichlich gewesen.
An einem etwas abgelegenen Stehtisch mit herrlichem Blick zum Cap Cameret prostete J.S.Morgenthaler mit feinstem Champagner, einer „Diamond Edition" von De Watère, dem ranghöchsten Marketingmanager, Carl Wenstedt von Abott zu. „Schade, dass wir uns so wenig sehen, Carl. Wir sollten mal wieder mit unseren Frauen was Gemeinsames unternehmen. Hier im Hotel haben sie eine Zwanzig-Meter-Yacht vom Feinsten, wir könnten mal rüber nach Korsika. Ich kenne da ein Fischrestaurant. Liegt an der Ostküste an einem Salzsee, direkt am Meer!“.
„Würde mir schon gefallen, aber du weißt ja, dass Martha schon seekrank wird, wenn sie die „Meuterei auf der Bounty“ guckt. „Dann nehmen uns halt eine Motoryacht, in fünf Stunden sind wir drüben!“. Wenn du vorher mit Martha zusammen eine Flasche Champagner leerst, merkt die davon überhaupt nichts.
„Na ja, bringen wir erst mal das Brasilienproblem hinter uns!“
„Ich nehme das nicht mehr so ernst. Wir haben unverschämtes Glück. Ich habe von unserem Verbindungsmann aus Kapstadt eine Meldung, die kann uns zig Millionen bringen. Dort ist ein besonders aggressiver Virus aufgetreten, gegen den unser bisheriger Dreierpack nichts mehr ausrichtet. Unsere Labors werden sich dem Ding annehmen und sich damit mehr als genügend Zeit lassen. Bis die was haben, haben wir die richtige Durchseuchungsdichte auch bei uns. In der Zwischenzeit reduzieren wir die Preise für unseren bisherigen Mix und schon stehen wir nach außen wieder gut da.
Stell Dir vor: Allein in Westeuropa im ersten Jahr, wenn wir unsere neuen Wirkstoffe einsetzen, 100 000 neue Fälle, das sind pro Infizierten 2000 € pro Jahr. Wir müssen nur abwarten, bis sich genügend Leute infiziert haben. Hoffentlich durchkreuzt uns der Papst nicht mit einer Präservativerlaubnis unsere Pläne“.
„Dann dauert es halt etwas länger...“.
Ihr Gespräch brach abrupt ab, als sich jemand zu ihnen gesellte. J.S.M. aber auch Carl hatten ihn noch nie gesehen. J.S.M. hätte eigentlich jeden Gast kennen sollen und Fremde kamen hier nicht ins Hotel. J.S.M. würde das Hotel nie wieder für ein solches Event anmieten. Das konnte sich auch ein „La Bastide de St.Tropez“ nicht leisten.
„Wen darf ich begrüßen?“ J.S.M. war sofort misstrauisch. Der Fremde war gegen dreißig, gepflegt, machte einen selbstsicheren Eindruck und antwortete:
„Gehen Sie einfach davon aus, dass ich Ihnen sehr wichtig sein werde. Würden Sie mich an die frische Luft setzen,
wären Sie mit der dann anrollenden Presse überfordert.
Ich interessiere mich für Ihre Geschäfte. Ich kenne alle Ihre Aktivitäten, Ihre Verflechtungen, Ihre Einflussnahmen auf die Politik.
Was Sie vielleicht nicht kennen oder kennen wollen, sind die Folgen daraus. Sie erhalten von mir die einmalige Chance dies hautnah kennenzulernen. Dazu werden Sie bald Gelegenheit haben“.
Bevor es zu einem richtigen Dialog kam, verabschiedete sich der Fremde, verließ den Park und verschwand im Dunkeln.
Carl wollte noch jemanden vom Personal verständigen um den Eindringling zurückzuhalten, aber J.S.M. hielt ihn zurück. “Wenn uns der Fremde die Presse auf den Hals hetzt, tut das unserer Angelegenheit nicht gut!“.
Beide konnten nicht viel mit den wenigen Worten anfangen. Er machte aber nicht den Eindruck, dass er nicht wisse wovon er spreche.
Das seltsame Gespräch war aber schnell vergessen, als sich die Runde vergrößerte und die erwarteten Zahlen fürs nächste Quartal diskutiert wurden.

Kapitel 3
Isaiah lebte und schlief, seit seine Lieblingsfrau gestorben war, alleine in seiner Hütte. In der Nacht nach dem Besuch des seltsamen Fremden schlief er entgegen seiner sonst üblichen Nächte tief und er erwachte auch ungewöhnlich spät. Meist konnte er wegen der Hustenanfälle, die aus den Hütten der Kranken kamen, schlecht einschlafen. Er litt oft mit den armen geplagten Todkranken, denen er doch nicht helfen konnte.
Aber in dieser vergangenen Nacht war es ruhiger als sonst. Auch am Morgen als er aufwachte war es anders als gewöhnlich. Die ersten Geräusche die er meist hörte, waren quälende Hustenanfälle und hie und da das Stöhnen der Todgeweihten. Heute war es anders, er hörte leises Gemurmel, eher freundliche Töne und sogar vereinzeltes Lachen.
Isaiah war neugierig darauf sich selbst ein Bild davon zu machen, was da vor sich ging. Er ging nach draußen und er konnte es kaum fassen. Vor den Hütten der Kranken saßen die, die gestern noch im Sterben lagen, machten miteinander Scherze und verhielten sich so, als wenn sie niemals krank gewesen wären. Natürlich waren die meisten unter ihnen abgemagert bis auf die Knochen, aber ihre Augen strahlten, als wenn ihnen gerade großes Glück widerfahren wäre.
Anscheinend waren bei allen, die noch vor wenigen Stunden ohne Hoffnung vor sich hindämmerten, sämtliche Krankheitssymptome spurlos verschwunden.
Isaiah dachte sofort an den Fremden. Hatte der nicht angedeutet, dass etwas Besonderes in seinem Dorf passieren würde, und dass er viel Arbeit bekommen sollte?
In zwei Tagen erwartete er den Arzt aus der Stadt, bis dahin hatte er noch viel zu tun.

Kapitel 4
J.S. Morgenthaler war ein sehr disziplinierter Mensch. Sich gehen lassen war ihm zuwider. Bei seinen Aufgaben hatte er immer hellwach zu sein. Keine Phase von Schwäche wurde ihm bei seinem Job verziehen. Außer einem Gläschen Champagner hatte er wie immer nichts getrunken. Meist schlief er auch gut und fest. Aber diese Nacht hatte es in sich. Es war noch nicht mal zwei Uhr als er erwachte. Ihm war speiübel. Es schaffte es gerade noch bis zur Toilette, wo er sich übergeben musste. Es wird wohl irgend etwas beim Fischbuffet dabei gewesen sein, das nicht in Ordnung war, dachte er sich und versuchte sich zu beruhigen. Er legte sich wieder ins Bett und versuchte einzuschlafen. Doch ein Hustenreiz, der nicht enden wollte, trieb ihn wieder aus dem Bett. Als Kind hatte er einen Keuchhusten überstanden. Seitdem hatte er nie wieder Ähnliches erlebt. Er fühlte sich wie erschlagen. Er schluckte zwei Aspirin, um endlich etwas Ruhe zu finden. Gegen vier Uhr schlief er wieder kurz ein. Wenig später erwachte er mit Magen- und Darmkrämpfen, stürzte zur Toilette. Dann schien sein Darm zu explodieren. Dazu kam noch ein unwiderstehlicher Brechreiz. Er wusste nicht mehr ob er sitzen bleiben oder sich über die Kloschüssel beugen sollte. Als er sitzen blieb, musste er sich dann doch nochmals übergeben. Zusammengesunken hing er über der Toilette, es wollte einfach nicht aufhören. Irgendwann, als sein Gedärm, sein Magen, sich unter Krämpfen ausgewrungen hatte, kam er wieder einigermaßen zu sich. Bevor die Zimmermädchen kamen, musste er noch schnell das Badezimmer reinigen. Eigentlich war er viel zu schwach dazu, aber diese Blöße wollte er sich nicht geben. Eimer und Putzlappen gab es natürlich nicht in der Suite, aber mit einem Handtuch versuchte er sich zu behelfen. Mit etwas Duschgel und viel Wasser schaffte er es, das Badezimmer wieder einigermaßen zu säubern. Trotzdem, der saure Geruch des Erbrochenen blieb im Raum hängen.
Jetzt erst betrachtete er sich im Spiegel. Was er sah, war nicht der, der sich vor wenigen Stunden in dieser Suite zum Schlafen gelegt hatte. Auf der Stirn stand kalter Schweiß, das Gesicht aschfahl, die Augen rot unterlaufen. Er hatte auch ein eigenartiges taubes Gefühl im Mund. Im Spiegel sah er dann einen weißen Belag in seiner Mundhöhle.
Es war der Moment, in dem er das erste Mal an eine HIV-Infektion dachte. Alle Symptome passten. Er verdrängte sofort diesen ersten Anflug von Panik. Er wusste in diesem Umfeld darüber bestens Bescheid, kannte alle bekannten Übertragungswege, die Inkubationszeiten, den Verlauf dieser Krankheit in allen Facetten.
Es konnte einfach nicht sein!
Er wusste, dass im Zimmer nebenan Dr. Werner untergebracht war, der Mediziner und Chemiker zugleich war. Wenn ihm jemand seinen aktuellen Zustand beschreiben konnte, war er es.
Die Zimmernummer kannte er und damit die Direktanwahl.
„Doktor, ich brauche Ihren Rat“. Er erzählte in kurzen
Worten was er erlebte, präzise, ohne was auszulassen oder zu übertreiben. Der Doktor sagte zuerst einmal nichts. Nach einer langen Pause bat er ihn zu sich in sein Zimmer. J.S. zog seinen Bademantel über und ging zum Zimmer nebenan. Schon beim ersten Anblick wusste er, Dr. Werner hatte das Gleiche wie er hinter sich. Sie setzten sich nach draußen auf die Terrasse. Von der Bucht von Saint Tropez sah man schon die Morgendämmerung aufziehen. „Doc, was haben wir uns da eingefangen?“.
Die Antwort war, dass er ihm ein Visitenkarten ähnliches Papier hinschob. „Das lag heute Morgen vor meiner Zimmertür, wurde wohl in der Nacht unter der Tür durchgeschoben. Darauf standen nur wenige Worte:
„Gruß von siehe: Google, Johannesburg, Spontanheilung Aids“.
Dr. Werner klappte sein Notebook auf, loggte sich ein und gab die Suchbegriffe ein. Bereits der erste gefundene Link war ein Treffer: Unter http://www.witness.co.za/ fand er folgenden Text.
„Spontanheilung von 46 Aidskranken in einem Dorf nahe KwaZulu Natal!
In dem geöffneten Link waren dann noch die Einzelheiten beschrieben.
Es war eine Meldung der „The Natal Witness“, einer großen Zeitung für die Gegend um KwaZulu Natal.
„Mysteriöse Spontanheilung von Aidskranken in Südafrika. Unser Reporter war vor Ort. Noch bis vorgestern waren in dem Ort 46 Personen an HIV erkrankt. Der zuständige Doktor für dieses Dorf bestätigte uns, dass alle Personen im Dorf, welche an HIV erkrankt waren, über Nacht gesund wurden. Sie waren zwar noch alle sehr schwach, zeigten aber keinerlei Symptome mehr. Der Dorfälteste berichtete, dass am Tag zuvor ein Fremder ins Dorf gekommen wäre, hätte kurz mit ihm gesprochen, dann die Hütten der Kranken besucht und sich dann mit den Worten „Dein Dorf wird bald jeder kennen lernen wollen“ verabschiedet.
Auch wenn uns der Doktor und auch der Dorfälteste diese Geschichte glaubhaft erzählten: Es klingt doch alles zu phantastisch um wahr zu sein. Die zuständigen Gesundheitsbehörden werden sich der Sache annehmen und mit medizinischen Tests wie z.B. umfangreichen Blutuntersuchungen versuchen die mysteriösen Vorgänge aufzuklären“.

Dr. Werner und J.S. Morgenthaler dachten beide sofort an den gestrigen Besucher. Den Schluss den sie daraus zogen war genauso absurd, wie in seiner Konsequenz ungeheuerlich.
Der Fremde hatte ihnen, wie auch immer, die Seuche der Südafrikaner mitgebracht. Nicht nur weitergegeben, sondern wie ein Staffelholz übergeben. Wenn dies stimmte, waren alle 46 Teilnehmer ihres Treffens nun HIV infiziert. Ein grauenvoller Gedanke.
Das Frühstücksbuffet, inzwischen war es fast 8:00 geworden, würde schnell darüber Klarheit bringen.
Der Doktor und J.S.M. hatten seit dem Lesen des Artikels noch kein Wort miteinander gewechselt. Keiner wollte es aussprechen.
Bei schönem Wetter war vorgesehen, das Frühstück auf der Dachterrasse einzunehmen. Das Wetter war sehr angenehm. Die aufgehende Morgensonne wärmte schon etwas und vom Meer her kam eine leichte laue Brise. Als beide die Dachterrasse betraten, war schon mehr als die Hälfte der eingeladenen Gäste eingetroffen. Niemand saß aber an den bereits gedeckten Tischen oder bediente sich am Buffet. Es hatten sich größere Gruppen gebildet, die fast schweigend zusammenstanden. Als sie sich einer Gruppe zugesellten, wussten sie, dass ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt waren. Alle hier auf der Terrasse hatten keinen Blick auf das einzigartige Panorama der aufgehenden Sonne über der Bucht von Frejus. Man sah es jedem an. Alle hatten schreckliche Stunden hinter sich.
Doch im Unterschied zu Dr. Werner und J.S. Morgenthaler wussten sie nicht, was sie noch vor sich hatten. Es war wohl der Fisch, das war die allgemeine Ansicht.
Auch Carl ahnte noch nicht, wie recht der Besucher von gestern mit seinen letzten Worten hatte.