Animalische Schattenseiten

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Animalische Schattenseiten
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Norbert Böseler

Animalische Schattenseiten

Unheimliche Tiergeschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Federflut

Gedankenleser

Netzfänger

Tohuwabohuzoo

Spätfolgen

Inselbankett

Blutmond

Impressum neobooks

Federflut

Marcel grüßte den Pförtner und verließ das Firmengelände. Er überlegte kurz, ob er noch in seiner Stammkneipe einkehren sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sabrina wartete sicherlich sehnsüchtig auf ihn. Es könnte aber auch sein, dass seine Frau bereits schlief. Sie war in letzter Zeit häufig abgespannt und müde. Oftmals lag sie schon im Bett, wenn er von der Spätschicht nach Hause kam. Die harte Arbeit im Warenlager machte ihr sehr zu schaffen, doch auf das zusätzliche Einkommen waren sie beide angewiesen. Marcel zog die Kapuze über seinen Kopf und ging über den Bürgersteig, der entlang der Hauptstraße ins Dorf führte. Die anderthalb Kilometer lief er meistens zu Fuß. Die frische Luft tat ihm gut, sie vertrieb den Gestank, der seine Nase während der Arbeit permanent malträtierte. Der Abend war kalt und dichter Nebel verschleierte seinen Blick. Er konnte gerade mal von einer Straßenlaterne zur nächsten schauen. Die Lichter des Ortes waren nur zu erahnen. Dichtes Strauchwerk säumte den Bürgersteig, dahinter floss ein kleiner Bach, in dem sich gerne Enten tummelten. Leises Plätschern begleitete Marcels Schritte. An seiner Nasenspitze sammelte sich ein feuchter Tropfen. Er wischte ihn mit dem Jackenärmel ab. Er durfte jetzt nicht krank werden. Auf dem Haus lastete ein Haufen Schulden, und die Leiharbeiter würden sich um seinen Job reißen. Er hatte zwar einen unbefristeten Vertrag, doch was zählte das heutzutage noch. Jeder war ersetzbar, erst recht, wenn man körperlich nicht mehr mithalten konnte. Ein weiterer Tropfen schlich aus seiner Nase, er schnippte ihn mit dem Zeigefinger weg. Um den aufkommenden Schleimfluss zu stoppen, schnäuzte er in ein Taschentuch. Als er das durchnässte Tuch in seiner Jackentasche verstaute, vernahm er hinter den Sträuchern ein leises Rasseln. Marcel blickte zu der Stelle, konnte aber nichts erkennen. Der Nebel verdichtete sich zusehends. Die Straßenlampen durchbrachen den grauen Schleier nur schemenhaft. Ein Auto rauschte vorbei. Die roten Rücklichter wurden förmlich vom Nebel verschluckt. Marcel beschleunigte seinen Gang. Die nasskalte Luft hatte sich durch seine Kleidung gefressen. Er wollte möglichst schnell nach Hause. Wieder hörte er dieses Rasseln aus dem Gebüsch, diesmal deutlich lauter. Marcel reduzierte sein Tempo und spähte in die dunkle Wegbepflanzung. Plötzlich sprang etwas aus den Sträuchern und attackierte seine Beine. Marcel geriet ins Stolpern, konnte jedoch einen Sturz im letzten Moment vermeiden. Er erkannte eine Ente, die sich in seiner Hose verbissen hatte. Marcel schlug mit dem Bein nach vorne, versuchte, auf diese Methode seinen Widersacher loszuwerden. Doch der Schnabel hatte sich so fest in den Stoff verankert, dass sich die Ente auf diese Weise nicht abwimmeln ließ. Marcel wollte sich gerade bücken, als etwas Dunkles auf ihn zugeflogen kam. Eine zweite Wildente prallte frontal gegen seinen Kopf. Der harte Schnabel riss die Haut seiner Stirn auf. Marcel stürzte, Blut rann in seine Augen. Die Entenfüße samt Schwimmhäuten krallten sich in seine Haare. Der flache Schnabel hackte auf seinen Hinterkopf ein. Marcel griff nach hinten und bekam den Hals der Wildente zu fassen. Er schleuderte das aggressive Tier mit einem Ruck über die Büsche. Er hörte, wie es in den Bach platschte. Die andere Wildente ließ von seiner Hose ab und flatterte nach oben auf sein Gesicht zu. Marcel stoppte den Angriff mit einem beherzten Faustschlag. Das gefiederte Tier landete auf dem Bürgersteig und taumelte gackernd durch die Büsche. Mühsam richtete Marcel sich auf und vergewisserte sich, ob er die wildgewordenen Viecher wirklich in die Flucht geschlagen hatte, oder ob er mit einem erneuten Angriff rechnen musste. Alles verhielt sich still, nur das Plätschern des Baches war zu hören. Marcel holte das Taschentuch aus seiner Jacke und wischte das Blut aus seinem Gesicht. Er drückte das Tuch auf die Wunde und setzte seinen Heimweg fort. Eilig marschierte er auf das Dorf zu, dabei blickte er sich immer wieder um, stets bereit, etwaige Angreifer abzuschütteln. Niemand griff ihn an. Er erreichte den Ort, kam an der Stammkneipe vorbei, in der er oft mit seinen Kumpels über Gott und die Welt philosophierte. Er würdigte der Gaststätte keines Blickes, er hatte nur ein Ziel vor Augen. Das Haus, wo seine geliebte Frau auf ihn wartete. Ein roter Tropfen fiel von seiner Nasenspitze auf den Boden. Sabrina würde als erstes seine Wunde verbinden müssen. Was war nur in diese verfluchten Enten gefahren? Marcel konnte sich das aggressive Verhalten der Tiere nicht erklären.

Zwischen den Häusern lichtete sich der Nebel etwas. Marcel stand vor seiner Haustür und führte mit zittriger Hand den Schlüssel ins Schloss. Ihm war kalt, sein Kopf schmerzte. Das blutdurchtränkte Taschentuch hatte er in die Mülltonne geworfen. Er öffnete die Tür und trat ins Haus. Wohltuende Wärme schlug ihm entgegen. Auf der Fußmatte streifte er die Schuhe ab. Die Feder, die auf der Matte lag, beachtete er nicht. Er hängte die Jacke an die Garderobe und ging durch den Flur ins Wohnzimmer. Sabrina war nicht zu sehen. Er rief nach ihr, erhielt aber keine Antwort. Im Haus herrschte absolute Stille. Wahrscheinlich schlief seine Frau bereits. Leise schritt Marcel die Treppe nach oben und suchte zuerst das Badezimmer auf. Er wollte seine Frau nicht mit einem blutverschmierten Gesicht erschrecken. Er knipste das Licht an und stellte sich vor den Spiegel. Auf seiner Stirn klaffte eine dunkelrot umrandete Platzwunde. An der Nase klebte geronnenes Blut. Er drehte den Wasserkran auf, wartete bis das Wasser warm wurde und schaufelte es mit geöffneten Händen vorsichtig in sein Gesicht. Die aufgeplatzte Haut brannte. Gerötetes Wasser floss in den Abfluss. Nachdem er das Gröbste abgewaschen hatte, nahm er ein weiches Tuch und säuberte zaghaft die Wunde. Er hoffte, dass Wildenten keine Tollwut übertragen konnten.

Marcel ging auf den Flur und wandte sich der Schlafzimmertür zu. Vor der Tür lagen drei kleine weiße Federn. Marcel sah sie, schenkte ihnen aber keine Beachtung. Er wollte zu seiner Frau, mit der er seit fünf Jahren verheiratet war. Leise drückte er die Klinke nach unten. Der Raum lag im Dunklen. Marcel betätigte den Lichtschalter. Diesmal fielen ihm die Federn sofort auf, die auf dem Boden verstreut herumlagen. Marcel machte einen Schritt in das Zimmer hinein. Beim Anblick seiner Frau verschlug es ihm den Atem. Sie lag mit weitaufgerissenen Augen im Bett. Ihr Gesicht war blutig und mit Kratzwunden übersäht. Aus dem offenen Mund ragte ein Knäul aus weißen Federn. Die Daunenkissen und Bettdecken waren zerfetzt. Auf dem Ehebett verstreuten sich haufenweise kleine Daunenfedern. Marcel überwand seine Schockstarre und hastete zum Bett. Er fasste seine Frau an und rüttelte vorsichtig an ihren Schultern. Er rief ihren Namen, zuerst leise, dann lauter, zuletzt schrie er sie verzweifelt an. Er erhielt keine Antwort. Leblos lag die Frau, die er so sehr liebte, in seinen Armen. Er griff behutsam nach ihrem Mund und zog einige Federn heraus. Die Daunen in der Mundhöhle waren mit Speichel durchtränkt. Immer tiefer fuhren seine Finger in ihren Schlund und zogen Federn heraus. Selbst in Sabrinas tiefsten Rachen steckten sie und verstopften die Luftröhre. Marcel konnte die hinteren Federn nicht erreichen und stellte niedergeschlagen seine Bemühungen ein. Wie in Trance fühlte er nach Sabrinas Halsschlagader, dann fing er an zu weinen.

Eine Woche nach Sabrinas Beerdigung, nahm Marcel seine Arbeit wieder auf, was ihm äußerst schwerfiel. Er mochte seinen Job nicht, verabscheute ihn regelrecht. Das Piepen, das Rattern der Maschine, der widerliche Geruch. All das nahm er nach Feierabend mit nach Hause. Manchmal verfolgte die Arbeit ihn noch bis in den Schlaf, wo sie entsetzliche Alpträume hervorrief. Doch was sollte er machen, das Leben ging weiter, obwohl er in den letzten Tagen oft daran gedacht hatte, es einfach zu beenden. Sabrinas Tod hatte ihn in ein tiefes Loch fallen lassen. Ohne sie kam er sich hilflos und nutzlos vor. Die Umstände ihres Ablebens blieben ein Rätsel, anfängliche Ermittlungen auf ein Fremdverschulden wurden schnell eingestellt. Marcel stand vor dem Nichts. Auch wenn er frustriert seiner Arbeit nachging, musste er das Haus höchstwahrscheinlich veräußern. Mit seinem Einkommen konnte er die Schulden niemals tilgen. So ging er zur Arbeit, tat das, was getan werden musste und legte sich mit klagenden Gedanken ins Bett. Im Schlaf hörte er das Piepen.

Die erste Arbeitswoche nach dem Schicksalsschlag verlief relativ normal. Stoisch, wie ein Roboter, verrichtete Marcel seine Tätigkeit. Lust - und Emotionslos. Beim Schichtwechsel tauschte er sich nur kurz mit seinem Kollegen aus und ging dann gemächlich nach Hause. Seine beiden Kollegen, mit denen er sich die 24 Stunden-Schicht teilte, hatten keine Probleme mit den erschwerten Arbeitsbedingungen. Marcel hingegen haderte mehr und mehr. Am liebsten würde er den Job hinschmeißen, besonders jetzt, seit Sabrina nicht mehr an seiner Seite war. Umso erleichterter war er, als es nach der anstrengenden Arbeitswoche in ein langes Wochenende ging. Erst am Dienstagmorgen musste er wieder zur Frühschicht.

 

Damit er nicht zu viel nachdenken musste, stürzte Marcel sich in die Hausarbeit. Er wusch Wäsche und saugte den Boden. Unter dem Ehebett fand er noch ein paar Federn, was bei ihm sofort eine Gänsehaut verursachte. Wieder keimten Gedanken auf, die sich nicht in seinen Kopf einnisten sollten. Um sich abzulenken, legte er sich aufs Sofa und sah fern. Er zappte durch die Programme und entschied sich für eine Dokumentation über das Amazonasgebiet. Auch die berauschenden Naturaufnahmen konnten seine Selbstzweifel nicht vertreiben. Erst als seine Augenlider vor Müdigkeit schwer wurden und er in einen sanften Schlaf fiel, hatte er Ruhe.

Etwas tippelte über seinen Brustkorb. Ein flauschiges Kitzeln unter der Nase. Dann ein brennender Schmerz, der Marcel aufschrecken ließ. Er schmeckte Blut. Etwas stach in seine Lippe. Schlaftrunken öffnete Marcel die Augen. Noch von Müdigkeit benebelt, erkannte er dicht vor seinem Gesicht ein gelbliches Gebilde. Zunächst dachte er an einen Tennisball, doch dieses gelbe Etwas hatte zwei kleine Beine. Es drehte sich langsam um und Marcel blickte in zwei kreisrunde schwarze Äuglein. Vor ihm stand ein kleines Küken. Das eigentlich niedliche Tier strahlte eine bedrohliche Aura aus, die stecknadelkopfgroßen Augen sahen Marcel hasserfüllt an. Der blutverschmierte Schnabel hob sich und hackte erneut in Marcels Unterlippe. Marcel holte aus und schlug mit der flachen Hand nach dem Tier. Das Küken flog mit voller Wucht gegen den Fernsehschrank und landete zappelnd auf dem Boden. Marcel setzte sich auf und sah hinunter. Das Hühnerküken zuckte noch einmal und hauchte dann sein Leben aus. Marcel bückte sich und nahm es in die Hand. Der kleine Kopf baumelte am gebrochenen Genick zwischen seinen Fingern. Einige Blutspritzer hatten auf dem gelblichen Flaum rote Flecken hinterlassen. Marcel ging mit dem toten Federvieh nach draußen und warf es in die Mülltonne. Wieder im Haus schwelgten seine Gedanken zwischen Sabrina, seiner Arbeit und dem Küken. Er dachte an die Federn im Mund seiner Frau.

Den Abend verbrachte Marcel in seiner Stammkneipe, wo er seine Sorgen mit Alkohol hinunterspülte. Verkatert schleppte er sich durch den Sonntag. Am Montag ging er früh zu Bett, da er am nächsten Tag zeitig zur Frühschicht musste. Mitten in der Nacht wurde er von seinem Handy geweckt. Der Kollege von der Nachtschicht rief ihn an. Er klang aufgebracht und verstört. Die Maschine würde Probleme machen und überhaupt herrsche in der Halle ein fürchterliches Chaos. Von der Firmenleitung könne er niemanden erreichen und so bat er Marcel um Hilfe. Der versprach, sofort zu kommen. Marcel zog sich eilig an, holte sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr zur Brüterei.

Er führte seine Karte in den Türöffner und gab seinen Pin ein. Mit einem Summen wurde die Tür entriegelt. Marcel schob sie auf und fuhr mit dem Rad aufs Firmengelände. Das Pförtnerhäuschen war um diese Zeit nicht besetzt. Im Grunde genommen stand der Betrieb während der Nacht still. Nur die Brutanlagen wurden von zwei Mitarbeitern überwacht und auch in seiner Abteilung musste immer jemand vor Ort sein. Die Halle, in der sein Kollege scheinbar gravierende Probleme hatte, befand sich abseits der anderen ganz hinten auf dem Betriebsgelände. Marcel näherte sich dem fensterlosen Gebäude, das mit grauen Trapezblechen verkleidet war. Aus den vergitterten Boxen, hinter denen sich normalerweise die Ventilatoren der Lüftung geräuschvoll drehten, drang kein Laut. Anscheinend war die Lüftungsanlage ausgefallen. Marcel kam die nächtliche Stille unheimlich vor. Auch die Leuchtstoffröhre über der Eingangstür strahlte kein Licht ab. Marcel lehnte sein Fahrrad an die Blechwand und führte seine Karte in den Schlitz der Türsicherung. Wieder gab er seinen Pin ein, woraufhin die schalldichte Tür sich öffnen ließ. Das Erste, was Marcel auffiel, als er den Vorraum betrat, war der Gestank nach Verbranntem. Er konnte den Geruch nicht genau definieren. Es roch nach verbranntem Fleisch, aber auch nach Gummi und Kunststoff. Rauch konnte er nicht erkennen. Was ebenso unangenehm war, war die Geräuschkulisse, die sich in seine Ohren bohrte wie ein spitzer Pfeil. Eine markerschütternde Mischung aus Piepen, Pfeifen, Zirpen und Kreischen. Als er die Tür zum Technikraum öffnete, nahm der Geräuschpegel noch um etliche Dezibel zu. Was ebenfalls zunahm, war der beißende Gestank, der Tränen in seine Augen trieb. Marcel hielt sich die Nase zu und musste husten, als er die von Gasen zersetzte Luft einatmete. Ihm wurde schwindelig, der Boden unter seinen Füßen schien im wahrsten Sinne des Wortes lebendig geworden zu sein. Auf dem Boden wimmelte es von kleinen Küken. Er konnte es nicht vermeiden auf die winzigen Hühnchen zu treten. Marcel stützte sich an der Wand ab und blickte auf die Schaltkästen, die regelrecht aufgepickt worden waren. Die Türen der Schränke standen offen und legten Kabel und Sicherungen frei. Die Küken hatten mit ihren Schnäbeln die Kabel beschädigt und Sicherungen demoliert. In den Kästen lagen verschmorte, angekokelte Tiere, deren schwarzgewordener Flaum noch glühte. Überall sprühten knisternde Funken unkontrolliert hin und her. Sterbende Küken lagen zitternd auf dem Boden und wurden einfach von anderen Tieren überrannt, um das Werk ihrer Artgenossen zu vollenden. Die Notbeleuchtung flackerte, dann gab es einen lauten Knall aus dem hinteren Sicherungskasten und das Licht im Versorgungsraum erlosch. Marcel wandte sich der letzten Tür zu, die in die Halle führte. Als er sie öffnete, stockte ihm der Atem.

Der Hallenboden bestand aus einem Meer aus Küken. Eine bräunlich gelbe Welle schwappte durch die Halle, begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm, der durch das Gebäude schallte. Das Kreischen der Eintagsküken bohrte sich unaufhaltsam in Marcels Ohren. Er hielt sich die Hände an den Kopf, versuchte, das Heulen des tierischen Sturmes zu ersticken. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Gang zur Sortierung offenstand und noch mehr Tiere in die Halle strömten. Vermutlich war auch die Schleuse zu den Brutanlagen geöffnet. Das Förderband, das von der Sortierung in die Halle führte, ragte aus dem Gang wie eine eitrige Zunge, die mit flauschigen Tieren bedeckt war. Wenn Küken vom Band fielen, sah es aus, als würde Schleim zu Boden tropfen. Marcels Augen folgten dem Band bis zum Ende, wo sich der Schredder befand. Was er dort sah, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Der Kollege, der ihn um Hilfe gebeten hatte, lag leblos auf dem Förderband. Sein ausgestreckter Arm steckte bis zur Schulter im Schredder. Die scharfen Zinken der Walze hatten sich in sein Fleisch gefressen und die Knochen zermalmt. Die Maschine war mit seinem Blut besudelt. Marcel konnte das Entsetzen und den Schmerz in seinen Augen erkennen. Das war auch das Einzige, was er von seinem Arbeitskollegen sehen konnte, denn sein ganzer Körper war von Küken verhüllt, die ihn wie ein fleischgewordenes Laken bedeckten. Die amoklaufenden Jungtiere hackten wild auf den Mann ein, rissen ihm förmlich die Kleider vom Leib, um ihre Schnäbel in sein Fleisch versenken zu können. Die Meute kämpfte um die besten Plätze, Flaumfedern flogen wie gelbe Schneeflocken durch die Luft. Marcel erwachte aus seiner Schockstarre. Er musste seinem Kollegen helfen, obwohl er vermutete, dass jede Hilfe zu spät kam.

Er trat einen Schritt in die Halle hinein und wurde sofort von den Küken attackiert, die sich in sein Hosenbein verbissen. Marcel ignorierte sie und watete weiter in das gelbe Meer. Einige Tiere wurden von seinen Schuhsohlen zerquetscht. Je weiter er in die Halle hineinschritt, umso mehr nahm er einen anderen Geruch wahr. Es roch nach Gas. Marcel blickte zur Gaskammer, die nur benutzt wurde, wenn besonders viele männliche Küken getötet werden mussten. Die Kammer war aufgebrochen worden und Gas strömte aus, welches sich unter der Hallendecke sammelte. Dort oben flackerte bedrohlich die Industriebeleuchtung und untermalte den kreischenden Geräuschpegel mit diffusen Lichteffekten. Marcel näherte sich dem Förderband, wo immer noch ein reger Kampf um seinen Kollegen tobte. Auch er wurde vermehrt angegriffen. Seine Hose war bis zur Wade zerfetzt, die Haut aufgerissen und Blut lief in seine Schuhe. Er erreichte das Band und schlug die Küken vom Leib des Mannes. Wie aufgeplatzte Tennisbälle katapultierten die Tiere durch die Luft und klatschten teilweise gegen die Hallenwand. Marcel legte einen zerpickten Körper frei, dem kein Leben mehr innewohnte. Erst jetzt schien das Meer der Küken ihn als Bedrohung wahrzunehmen.

In der Mitte der Halle stapelte sich eine wahrhaftige Welle aus kreischenden Hühnerküken auf. Als die Welle überzuschwappen drohte, setzte sie sich in Bewegung und trieb auf Marcel zu. Binnen Sekunden wurde er von der Federflut verschlungen. Marcel ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und den Boden unter den Füßen. Er stürzte in das totbringende, gelbe Meer. Es fühlte sich an, als landete er auf einem weichen Federkissen. Er empfand es anfangs als angenehm, die Wärme des Flaums zu spüren. Die Wärme wurde mit der seines Blutes angereichert. Selbst der Schmerz hatte etwas Erfüllendes. Die Federflut spülte ihn dem Tod entgegen, den er sich nach Sabrinas Verlust sehnlichst gewünscht hatte. Nach Ansicht der Tiere, hätte er ihn vielleicht sogar verdient. Die Welle brach und gab für Marcel einen letzten Blick frei. Er sah zur Hallendecke hinauf. Die Beleuchtung flackerte. Eine Industrielampe zerplatzte. Das Gas umarmte gierig die aufsprühenden Funken. Ein Feuerball flammte auf und blendete Marcels Augen, bevor er von ewiger Dunkelheit umgeben wurde.

Gedankenleser

Der alte Hund ließ sich bereitwillig anleinen und zum Auto führen. Er sprang freiwillig in den Kastenwagen. Als sich die Heckklappe hinter ihm schloss, war er erleichtert.

Max arbeitete seit über zehn Jahre in dem städtischen Tierheim. Das vom gemeinnützigen Tierschutzverein organisierte Heim finanzierte sich hauptsächlich von Spendengeldern. Max und seine Kollegin waren jedoch fest bei der Stadt angestellt. Der Tierpfleger liebte seinen Job fast so sehr wie seine Familie. Er war glücklich verheiratet und hatte zwei Kinder. Er freute sich über jede Minute, die er mit seiner Frau und den beiden Jungs verbringen konnte. Er genoss aber auch seine Arbeitszeit, die er überwiegend mit den Tieren verbrachte. Viele der Heimbewohner benötigten genauso viel Aufmerksamkeit wie Kinder, insbesondere Jungtiere und neu hinzugekommene Haustiere. Max hatte seine letzte Runde für heute gedreht und die Tiere für die Nacht versorgt. Später würde Frau Landwehr, die ehrenamtlich im Tierheim aushalf, nochmal nach dem Rechten sehen. Max holte seine Tasche aus dem Aufenthaltsraum, als es an der Eingangstür klingelte. Vor der Tür standen zwei Männer vom Ordnungsamt, die er gut kannte. Er öffnete die Tür.

„Hallo Max, entschuldige die späte Störung, aber wir haben einen Neuankömmling für dich im Wagen“, sagte der ältere der beiden Männer.

„Ist schon okay. Was habt ihr denn Schönes für mich?“

„Einen Rottweiler älteren Jahrgangs. Der ist den ganzen Nachmittag durch die Stadt gestreunt. Wir haben ihn lange beobachtet, er scheint harmlos zu sein. Jedenfalls konnten wir keinen Besitzer ausfindig machen und es hat sich auch niemand über den Hund erbarmt, deshalb haben wir ihn eingeladen, um ihn dir auszuhändigen. Du hast doch bestimmt ein warmes Plätzchen für ihn übrig, Max?“, meinte der jüngere der beiden.

„Ja klar. Ich hol nur schnell eine Leine.“

Wenige Minuten später legte Max dem Rottweiler ein Halsband an und hakte den Karabinerhaken der Leine ein. Der Hund ließ ihn anstandslos gewähren, er schien tatsächlich ein ruhiges Gemüt zu haben. Max zog etwas an der Leine, woraufhin der Hund aufstand und schwerfällig aus dem Wagen sprang. Max entfernte sich einige Schritte vom Auto und verabschiedete sich von den Männern. Als sie zur Tür gingen, stellte Max fest, dass der Hund mit dem linken Vorderbein humpelte. Oberhalb des Gelenks war eine Verknorpelung zu erkennen, die von einem unbehandelten Bruch herrühren könnte. Max zog die Tür auf und der Hund ging ohne zu zögern in das Gebäude. Auf der rechten Seite des Eingangsbereiches führte eine Feuerschutztür in den Gebäudetrakt, der nur für Hunde reserviert war. Max öffnete die Stahltür und wurde gleich mit unterschiedlichsten Belllauten begrüßt. Als der Rottweiler in den Flur trat, wurde das Bellen um einige Dezibel erhöht. Der Flur glich mit seinen vergitterten Boxen einem Gefängnis, hatte aber eine ganz andere Bedeutung. Hier wurde ausgesetzten und herrenlosen Tieren ein Heim geboten. Hier wurden sie gepflegt, hier hatten sie die Chance auf einen Neuanfang, falls ein anderer Besitzer sich ihrer annehmen würde. In dem Trakt gab es dreißig Hundeboxen, die alle über einen Außenzwinger verfügten, den die Tiere durch eine Klappe erreichen konnten. Bei Hunden, die nicht nach draußen sollten, konnte man den Durchgang schließen. Es gab nur noch drei freie Boxen, alle anderen waren mit Hunden unterschiedlichster Rassen belegt. Fast die Hälfte davon waren Mischlinge, die potenziell interessierte Hundeliebhaber oft mit ihrem Niedlichkeitsfaktor überzeugen konnten. Die Mehrheit der Vierbeiner war eher kleinwüchsig. Die größeren Hunde waren am Ende des Flures untergebracht. Ein Dobermann, ein Labrador, ein Schäferhund und ein Collie belegten die letzten Zellen. Max ließ den Rottweiler in die letzte Box, somit lagen zwischen ihm und den Dobermann zwei leere Gehege. Max band die Leine an eine Stange und holte zwei Futternäpfe mit Wasser und Trockenfutter. Bevor er den Hund von der Leine befreite, stellte er noch einen großen Korb mit einer weichen Auflage in die Box. Max löste den Karabiner und schloss die vergitterte Tür. Der Rottweiler schnüffelte am Trockenfutter und begann zu fressen. Max sah sich den Hund genauer an, der sehr alt zu sein schien. Das bräunliche Fell an der Schnauze war ergraut, der Rest des ansonsten dunklen Felles wirkte farb- und leblos. Zahlreiche Narben zeichneten sich auf dem abgemagerten Leib des Hundes ab. Sie könnten von Bissen oder von Schlägen herrühren. Eine besonders lange Narbe zog sich über die Hüfte des Rottweilers. Seine Ohren sahen ausgefranzt aus, als hätte man keilförmige Hautlappen herausgerissen. Der alte Hund war schwer vom Leben gezeichnet, nur seine Augen wirkten jung und lebendig. Der Neuankömmling stellte sich vor das Gitter und sah Max an. Die hellwachen, schwarzen Augen strahlten ihn entgegen, sie schienen ihn förmlich zu durchbohren. Er hielt den Blick des Hundes gebannt stand. Er glaubte ein grünliches Flackern in den Augen erkennen zu können, was ihn noch mehr faszinierte. Max spürte ein leises Pochen in seinem Kopf, das sich langsam ausweitete und dumpfe Schmerzen verursachte. Als die Schmerzen schlimmer wurden, wandte Max seinen Blick ab. Der Dobermann nebenan fing an zu jaulen und die anderen Hunde stimmten mit ein. Max hielt sich die Ohren zu, bis der Klagegesang verstummte. Anschließend sah er in die Box des Rottweilers. Der alte Hund lag in dem Korb und hatte die Augen geschlossen. Max Kopfschmerzen schliefen ebenfalls ein.

 

Am nächsten Tag fuhr Max früher als gewohnt zur Arbeit. Eigentlich müsste er erst mittags anfangen, weil seine Kollegin die Frühschicht hatte. Ihre Schichten tauschten die beiden im wöchentlichen Wechsel. Er hatte den Rottweiler zwar im Übergabebuch erwähnt, dennoch wollte er vor Ort sicherstellen, ob alles in Ordnung war. Der Rottweiler wirkte zwar harmlos, doch Max quälte ein ungutes Gefühl. Er hatte in der Nacht nicht gut geschlafen und von dem Hund geträumt. An den Traum konnte er sich nicht wirklich erinnern, aber er war davon aufgewacht, weil er ein schreckliches Ende genommen hatte, an das er sich ebenfalls nicht erinnern konnte.

Tanja war in der Kleintierabteilung beschäftigt und unterhielt sich mit einer Frau, die für ihre Tochter einen Hamster suchte. Max wollte sich nicht einmischen, deshalb ging er geradewegs zu den Hunden. Auf dem Flur war es verhältnismäßig still. Viele Hunde waren bei dem schönen Wetter draußen, andere ruhten in ihren Körben. Der Rottweiler war nicht in seiner Box, was Max sofort beunruhigte. Er öffnete die Tür am Ende des Flures und ging nach draußen. Der Rottweiler lag im Außenzwinger und genoss scheinbar die Sonne. Er zwinkerte kurz mit den Augen, dann schloss er die müden Lider und döste weiter. Max ließ ihn in Ruhe und ging wieder hinein. Später sprach er mit Tanja, die ihm nichts Ungewöhnliches zu berichten hatte. Sie freute sich nur über seine frühe Ankunft und fragte ihn, ob sie vielleicht eine Stunde eher gehen könne. Max willigte ein und begab sich missmutig ins Büro, wo jede Menge Papierkram auf ihn wartete. Die Büroarbeit war ihm ein Graus. Nachdem Tanja gegangen war, rief er beim Ordnungsamt an und fragte nach, ob sich irgendjemand zu dem Rottweiler gemeldet hätte, was nicht der Fall war. Max hatte auch nichts anderes erwartet. Max hatte das Gespräch gerade beendet, als er von draußen ein wütendes Bellen hörte. Er sprang auf und rannte in den Außenbereich. Der Dobermann stand aufrecht am Gitter und bellte unentwegt. Max sah noch, wie ein großer Hund in den Büschen der Anlage verschwand. Nach dem Körperbau zu beurteilen, den er kurz erblicken konnte, könnte es ein Rottweiler gewesen sein. Max redete beschwichtigend auf den Dobermann ein, der sich daraufhin tatsächlich beruhigte. Dann ging er zwei Zwinger weiter zu dem alten Hund. Der saß seelenruhig auf dem mit Spänen ausgestreuten Boden und spitzte seine ausgefranzten Ohren. Max glaubte, in seinem ergrauten Antlitz ein Lächeln erkennen zu können.

Max ging wieder rein und säuberte diverse Käfige in der Kleintierabteilung. Danach machte er seine Fütterungsrunde. Am Nachmittag kamen vier Schulkinder, die mit bestimmten Hunden ausgingen. Von den großen Hunden durfte nur der Collie mit. Die Kinder kamen jeden Tag und führten die Hunde mit großer Freude aus. Vor den Sommerferien bekamen sie für ihre Bemühungen einen kleinen Obolus. Während die Kinder unterwegs waren, ging Max zu dem Rottweiler, den die Kinder vermutlich nie ausführen würden. Irgendetwas stimmte mit dem Hund nicht, davon war Max felsenfest überzeugt. Der Hund stieg aus dem Korb und stellte sich vors Gitter. Er sah Max eindringlich mit seinen dunklen Augen an. Max hielt den Blick des Hundes stand. Selbst als der schleichende Schmerz wieder seinen Kopf vereinnahmte, schaute er nicht weg. Erneut flackerte es in den Augen des Rottweilers. Diesmal eindeutig. Grüne Blitze funkelten in der schwarzen Iris. Die Blitze bündelten sich in der Pupille zu einem grünen Punkt. Wie in Trance starrte Max auf die unheimlichen Pupillen. Das Pochen in seinem Kopf wurde lauter. Der Schmerz verwandelte sich in eine Stimme, das Pochen formte sich zu Worte. Zunächst klangen sie undeutlich und weit entfernt, dann rückte die Stimme immer weiter nach vorne und die Worte wurden klarer.

„Hörst du mich?“

Max schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Er unterbrach den Blickkontakt und sah in den Flur. Dort war niemand, der ihn angesprochen hatte. Er war allein. Nur die Hunde leisteten ihm Gesellschaft, insbesondere der alte Rottweiler. Die Schmerzen kehrten zurück. Der Rottweiler knurrte. Max sah ihn wieder an, blickte konzentriert in die grünen Pupillen, und der Schmerz bekam einen Klang.

„Hörst du mich?“

Max hielt seine Ohren zu, doch die Stimme blieb in seinem Kopf

„Hörst du mich?“

Klar und deutlich konnte er die Worte verstehen.

„Hörst du mich? Wenn ja, zeige mit dem Daumen nach oben, wenn nein, zeige mit dem Daumen nach unten!“

Max streckte seinen Daumen nach oben.

„Das ist gut. Ich habe sofort gewusst, dass du meine Gedanken lesen kannst. Du bist einzigartig und deshalb musst du mir helfen. Aber nicht heute, denn ich bin müde. Morgen kommst du wieder zu mir und liest meine Gedanken. Hast du das verstanden? Wenn ja, zeige mit dem Daumen nach oben, wenn nein, zeige mit dem Daumen nach unten. Und wenn du unsicher bist, zeigst du mit dem Daumen zur Seite!“

Max wusste nicht, wie ihm geschah. Wie konnte der Hund über eine Stimme verfügen, mit der er seine Gedanken übertrug? Wie konnte es sein, dass er diese Stimme hörte? War es etwa seine eigene? Max konnte keine klaren Gedanken fassen, denn er teilte seinen Kopf mit etwas Fremdartiges.