Herz gegen Vernunft

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Aus der Reihe: Co-Working-Space #1
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Herz gegen Vernunft
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Deutsche Erstausgabe (ePub) September 2020

© 2020 by Nora Wolff

Verlagsrechte © 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Julia Schwenk

ISBN-13: 978-3-95823-845-9

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www.cursed-verlag.de


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Klappentext:

Für Workaholic Anton zählt nur eins: so schnell wie möglich seine App programmieren und damit seiner Familie beweisen, dass er auch ohne sie auf eigenen Beinen steht. Den sexy Pizzaboten Chris, der ihm innerhalb kürzester Zeit den Kopf verdreht, kann er dabei so gar nicht gebrauchen. Als Anton sich trotzdem auf das Abenteuer einlässt, muss er sich schon bald eingestehen, dass Chris viel mehr ist als nur eine unvernünftige Ablenkung für zwischendurch. Doch kann Anton seinem Herzen folgen, obwohl so viel für ihn auf dem Spiel steht?

Kapitel 1

Die Befehlskolonnen verschwimmen vor meinen Augen, als ich den Code erneut Zeile für Zeile durchgehe, um den Fehler zu finden. Schließlich nehme ich sogar wie ein Leseanfänger meinen Zeigefinger zu Hilfe, um nicht versehentlich eine Reihe zu überspringen.

Irgendwo habe ich etwas übersehen. Als ich vor einer Stunde die Darstellung auf meinem Handy kontrolliert habe, hat noch alles gepasst, aber seitdem hat sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen. Nur – wo, verdammt? Wenn ich ihn nicht finde, wird mich das die ganze Nacht lang verfolgen wie besonders nervige Retargeting-Werbeanzeigen.

Mein Kopf dröhnt. Okay. Kurze Pause.

Ich reibe mir mit beiden Händen über die vom langen Starren auf den Monitor müden Augen und lehne mich auf dem Stuhl zurück. Mein Rücken stöhnt erleichtert auf und erinnert mich daran, dass ich weniger Zeit zusammengekauert vor meinem Mac und mehr im Fitnessstudio verbringen sollte.

Oder draußen. Wo es zappenduster ist, wie ich mit einem verblüfften Blick zu den zahllosen Fenstern des Co-Working-Space feststelle. Auch an sämtlichen Arbeitsplätzen um mich herum ist das Licht aus und kein Mensch in Sicht. Nirgendwo bläst ein Laptoplüfter, kein Kaffeeautomat rattert, kein Handy klingelt. Niemand tippt, telefoniert, räuspert sich oder spielt an einem der drei Kickertische.

Mein eigener Atem klingt in meinen Ohren plötzlich so laut wie eine vorsintflutliche Klimaanlage.

Scheiße. Wie spät ist es?

21:56 leuchtet es mir vom oberen Bildschirmrand entgegen. Wow. Damit habe ich heute offiziell fast vierzehn Stunden gearbeitet – zum Nulltarif. Angesichts dessen, was ich mit meinen Qualifikationen auf dem freien Markt verdienen würde, würde mein Vater ausflippen. Vor allem, weil er mir dieses Gehalt bezahlen würde. Bezahlt hat.

Ich massiere mir die Schläfen, hinter denen es immer noch pocht. Gleichzeitig registriere ich das gewaltige Loch in meinem Bauch. Abgesehen von zu viel Kaffee und einem labberigen, abgepackten Sandwich aus dem Automaten in der Küche habe ich heute noch nichts gegessen.

Doch. Frühstück. Heute Morgen um sieben. Scheiße. Kein Wunder, dass ich Kopfschmerzen habe.

Neben mir auf dem Schreibtisch leuchtet das Display meines Handys in der Dunkelheit auf. Mit einer Hand massiere ich meinen steifen Nacken, mit der anderen greife ich nach dem Smartphone. Im Gegensatz zu vielen anderen im Co-Working-Space schalte ich es auf lautlos, sobald ich das Gebäude betrete, um selbst entscheiden zu können, wann ich meine Arbeit unterbreche.

Na ja, und weil ich ohnehin keine relevanten Anrufe erwarte.

Tatsächlich habe ich bloß ein paar Nachrichten im Familienchat erhalten. Anita möchte das sonntägliche Mittagessen von zwölf auf eins verschieben, da sie noch irgendwas für den Grundkurs Programmieren vorbereiten muss, den sie an der Volkshochschule gibt. Unsere Eltern sind einverstanden, also schicke auch ich eine kurze Zustimmung.

Die gerade eingetrudelte Nachricht stammt von Joscha.

Joscha, 21:59 Uhr

Hast du unseren Sundowner vergessen? Du kannst mich nicht mit Kev allein lassen. Stichwort: Ferrari.

Ich muss lächeln. Bei einem meiner Gänge zum Kaffeeautomaten bin ich Kev in die Arme gelaufen. Wenn er mir nicht zwanzig Minuten lang von dem Ferrari vorgeschwärmt hätte, den er sich gestern online konfiguriert und gekauft hat, hätte ich es heute sogar auf über vierzehn Arbeitsstunden geschafft. Offenbar ist seine Begeisterung noch nicht abgeklungen, wenn er nun Joscha damit zutextet.

Ein Ferrari.

Ich schüttle den Kopf. Gibt es da überhaupt ein Modell, das unter 200.000 Euro kostet? Die Vorstellung, so viel Geld für ein Auto auszugeben, ist absurd. Besonders, wenn man sich – wie ich – fragen muss, ob die monatliche Miete für den Co-Working-Space nicht besser eingespart werden sollte, für schlechte Zeiten.

Okay, für noch schlechtere Zeiten.

Schlechter, als kein Geld zu verdienen, würde bedeuten, Schulden zu machen. Noch kann ich von meinen Ersparnissen leben, aber sobald die aufgebraucht sind, habe ich ein Problem.

Das Handy in meiner Hand leuchtet erneut auf.

Joscha, 22:03 Uhr

Bist du überhaupt noch da?

Während ich aufstehe und nach meiner Jacke über der Stuhllehne greife, tippe ich eine kurze Antwort, dann fällt mein Blick auf den Code meiner App – auf den fehlerhaften Code. Ich zögere. Alles in mir sträubt sich bei dem Gedanken, ihn bis morgen unfertig liegen zu lassen. Aber wenn ich den Absprung jetzt nicht schaffe, sitze ich die ganze Nacht hier und kann den morgigen Tag komplett abschreiben.

Eine Pause wird mir guttun. Auf andere Gedanken kommen wird mir guttun.

Mein Magen knurrt wie ein halb verhungerter Wolf.

Etwas essen wird mir guttun.

Kurzerhand klappe ich den Mac zu. Morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht sehe ich dann klarer und den Fehler schneller. Und immerhin ist die Miete für diesen Monat schon bezahlt.

Ich lasse den Mac auf dem Schreibtisch liegen und schiebe mein Handy auf dem Weg durch den Co-Working-Space in die Gesäßtasche.

Der große Raum mit den hohen Decken ist seit zwei Wochen mein neues Büro, obwohl er eher wie ein verwinkeltes Wohnzimmer aussieht. Überall wurden durch geschickt platzierte Pflanzen oder Möbel wie Regale oder Kommoden kleine Nischen geschaffen, in denen sich hübsch angeordnet Arbeitsplätze mit Schreib- und Stehtischen verbergen. In der Mitte befindet sich eine Sitzgruppe aus dunkelblauen Sofas und Sesseln für die kurze, kreative Auszeit zwischendurch. Vor dem Eingang rechts in einer nicht einsehbaren, etwas abgeschotteten Ecke stehen die Kickertische.

Neben dem Co-Working-Space mit flexiblen und fixen Arbeitsplätzen gibt es zwei Gemeinschaftsküchen, vier Kaffee- und Teeküchen, diverse Meetingräume jeder Größe, Art und Ausstattung, Einzelbüros und kleinere Co-Working-Offices.

Alles in allem sehr modern, trendy, hipstermäßig und das genaue Gegenteil von den vollgestopften, beengten Büroräumen, in denen mein Vater seit Jahrzehnten residiert.

Trotzdem ein Luxus, den ich mir eigentlich nicht leisten kann. Der Esstisch in meiner Wohnung kostet nichts, abgesehen von der Miete, die ich sowieso zahle. Aber es wirkt zweifellos professioneller, wenn ich morgens zum Arbeiten das Haus verlasse und so etwas wie eine Bürogemeinschaft um mich herum habe, anstatt den ganzen Tag in Jogginghose in den eigenen vier Wänden zu sitzen.

Als ich an der Sitzgruppe in der Mitte vorbeigehe, fallen mir auf dem Couchtisch eine Handvoll neongelber Flyer auf, einerseits wegen der schaurigen Fotos, andererseits wegen der abgebildeten Pizza, auf die mein ausgehungerter Magen sofort anspringt. Dankenswerterweise ist die grauenvolle, knallrote Comic Sans-Schrift so über die Fotos geklatscht, dass sie das meiste verdeckt und trotzdem das Wichtigste verkündet: Lieferung bis 24:00 Uhr und eine Telefonnummer. Dazwischen espressobraune Augen.

Hm?

Ich blinzle und sehe noch mal genauer hin. Auf dem Roller mit Warmhaltetransportbox für die Pizzen sitzt ein junger Mann, der dank der schlechten Bildqualität und des Helms mit Werbeaufdruck nur unzureichend zu erkennen ist. Selbst das Gesicht wirkt verzerrt. Die Augen scheinen dunkel zu sein, aber ob nun espressobraun oder anders braun – schwer zu sagen.

Und völlig irrelevant.

Trotzdem stecke ich den Flyer ein. Die lange Öffnungszeit ist zu verlockend. Dann laufe ich endlich die Treppe zur Dachterrasse hoch.

 

Kapitel 2

»Anton!« Kev reicht mir direkt eine Bierflasche. »Ist inzwischen pillewarm, aber aus dem Sundowner ist ja auch ein Moonriser geworden.« Demonstrativ nickt er zu dem abnehmenden Mond am dunklen Himmel über uns. Vereinzelte Sterne leisten ihm Gesellschaft, für mehr ist es mitten in der Stadt zu hell.

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu, bevor ich die Bierflasche entgegennehme. Obwohl es tagsüber meist schon recht warm ist, kühlt es nachts ab und zu noch auf unter zehn Grad ab. Keine Ahnung, warum Kev in seinem Hoodie nicht friert. Vielleicht, weil das da in seiner Hand nicht sein erster Drink ist. Vermutlich Gin Tonic. Oder Gin minus Tonic. Kevs Cocktails variieren je nach Stimmung.

Neben ihm steht Joscha und prostet mir zur Begrüßung mit seinem Piccolo zu. Wenn ich den Anblick nicht schon gewohnt wäre, würde mich die kleine Flasche sicher irritieren, weil man bei einem schlanken Kerl in Lederjacke wie ihm eher rustikales Bier oder Schnaps erwarten würde. Andererseits wirkt auch das glatt gebügelte, hellblaue Hemd unter der Lederjacke fehl am Platz, vor allem mit dem Wissen, dass zumindest sein linker Unterarm – und wer weiß wie viel von seinem restlichen Körper – mit einem detailreichen Tattoo verziert ist.

Kev stößt mit seinem Glas gegen meine Bierflasche. »Du hast nicht wirklich bis jetzt gearbeitet, oder?«

»Doch, habe ich.« Was hat er denn gedacht? Dass ich die letzten Stunden damit verbracht habe, mir auch online ein Auto zu konfigurieren?

»Fuck. Und? Wie läuft's mit deiner App?«

Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Arbeit mittendrin abgebrochen habe. Nein, nicht nur mittendrin, sondern auch noch funktionsuntüchtig.

»Ich feile noch dran.«

»Immer noch kein Termin für den Launch?«

Der nächste wunde Punkt. Um Zeit zu schinden, trinke ich einen Schluck Bier, allerdings nur einen kleinen. Für mehr fehlt mir die Grundlage im Magen.

»Es ist nach zehn«, sagt Joscha, bevor mir eine gute Antwort einfällt, und klopft Kev auf die Schulter. »Wie wär's, wenn wir über was anderes reden als Business?«

Dankbar lächle ich Joscha zu, der es mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nimmt.

Ich habe die beiden auf meiner ersten After-Work-Party im Co-Working-Space kennengelernt, an der ich eigentlich gar nicht teilnehmen wollte. Da jedoch die ganze Bürogemeinschaft in geselliger Runde gefeiert hat, hätte ich nach Hause gehen müssen, um der Party zu entkommen, hatte mich aber an einem Programmierungsfehler festgebissen.

Bis mir Joscha aufgefallen ist und ich ihn wegen seines unfassbar hübschen Gesichts so lange angestarrt habe, dass er irgendwann zu mir rübergekommen ist und sich vorgestellt hat. Kev ist ein paar Minuten später wie auf ein stummes Stichwort gefolgt. Die beiden besitzen ein wesentlich zuverlässigeres Gaydar als ich.

»Okay, kein Problem.« Kev wechselt sein Glas von der linken in die rechte und schüttelt die nun freie Hand aus, als hätte er einen fünfzigseitigen Aufsatz per Hand geschrieben. »Ich hab heute auch genug Business betrieben. Worüber reden wir dann? Oh, mein Ferrari –«

»Nein.« Joscha hebt die Piccoloflasche wie ein Stoppschild hoch. »Nicht dein Ferrari. Der Einzige, der darüber redet, bist du und ich kann's langsam nicht mehr hören.«

»Neidisch?«

»Genervt.«

Kev schnalzt mit der Zunge. »Wie nett. Wie wär's, wenn du gegenüber deiner Sahneschnitte von Boss mal so ehrlich wärst?«

Joscha verdreht die Augen und wendet sich an mich. »Hast du es am Wochenende zur Isar geschafft?«

Ich schüttle den Kopf, möchte aber nicht zugeben, dass ich stattdessen gearbeitet habe. Der Co-Working-Space steht Monats- und Wochenmietern 24/7 zur Verfügung. Bei all den Räumlichkeiten fehlen eigentlich nur noch Schlafzimmer. Wobei die Sofas der Loungeinsel ganz bequem sind, wie ich aus Erfahrung weiß.

Da Joscha mich abwartend ansieht, suche ich nach einer Ausrede. »Es hätte eh noch nicht viel zu fotografieren gegeben. Der Frühling fängt gerade erst an.«

»Und in der Übergangszeit gibt's nichts zu fotografieren? Wasser, Steine, Bäume? Da ist die Jahreszeit doch egal.«

»Oder Menschen.« Kev schnaubt. »Ich versteh immer noch nicht, warum du keine Menschen fotografierst.«

Und ich verstehe immer noch nicht, warum ich ihm das überhaupt erzählt habe.

»Menschen sind schwieriger.« Und deutlich anspruchsvoller als ein Stein.

»Na und? Challenge accepted.«

»Zweifellos dein Lebensmotto«, wirft Joscha trocken ein, woraufhin Kev lacht.

»Oh yeah, Baby.« Er schlingt einen Arm um Joscha, zieht ihn an sich heran und drückt ihm einen Kuss auf die Schläfe. »Das macht dich auch so unwiderstehlich für mich.«

Der sinnliche Klang seiner Stimme verursacht selbst mir eine wohlige Gänsehaut. In zehn Staffeln Micktown hat Kev es zweifellos geschafft, sämtliche Tonlagen zu perfektionieren.

Joscha scheint dafür nicht besonders anfällig zu sein. Kopfschüttelnd, aber mit einem Grinsen im Gesicht befreit er sich aus Kevs Umarmung und schubst ihn auf Abstand. »Spinner. Mit deinen Millionen auf dem Konto kannst du doch jeden haben.«

»Das macht es ja so langweilig.«

Entgeistert starre ich Kev an. »Was? Es sind inzwischen schon Millionen? Plural?«

Kev zuckt die Schultern. »Letzte Woche hab ich die zweite geknackt. Deshalb auch der Ferrari.« Er zwinkert mir zu und kippt seinen Drink auf ex runter.

»Aber... warum arbeitest du dann noch hier und nicht in deinem eigenen Bürokomplex?«

»Ich mag die Arbeitsatmosphäre und die Kollegen. Auch wenn's natürlich keine richtigen Kollegen sind. Geht dir doch genauso.«

Automatisch öffne ich den Mund, klappe ihn dann aber wieder zu. Ich bin nicht aus exakt dem gleichen Grund hier, aber es ist nah genug dran. Jemandem wie Kev etwas von Außenwirkung und Professionalität zu erzählen, wäre vergebene Liebesmüh.

»Na so was.« Mit hochgezogenen Augenbrauen wendet sich Kev an Joscha. »Jetzt reden wir ja doch wieder übers Business.«

Er betrachtet sein leeres Glas und verzieht kurz ärgerlich die Mundwinkel. Die Flaschen zum Auffüllen stehen vermutlich in einem der Kühlschränke unten. Kevs Gesichtsausdruck nach zu urteilen, zu weit weg. Ich nippe an meinem Bier, das ich bisher kaum angerührt habe. Schon jetzt merke ich, wie mir die wenigen Schlucke auf den leeren Magen schlagen.

Seufzend stellt Kev sein Glas auf der gemauerten Begrenzung der Dachterrasse ab. Unter uns rauscht der Münchner Nachtverkehr vorbei. »So. Und was machen wir nun mit dem angebrochenen Abend?« Er sieht von Joscha zu mir und wieder zurück und rollt die Hüften. »Tanzen, feiern, saufen, Sex?«

Völlig unerwartet wendet er sich wieder mir zu, packt mich und dirigiert mich in eine Pirouette, die ich stolpernd und stümperhaft zu Ende führe, ehe mich Kev dicht an sich heranzieht. Starke Arme pressen mich an einen harten Körper. Im Gegensatz zu mir verbringt Kev seine Zeit nicht nur am Schreibtisch.

Kev beugt sich über mich, so dicht, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre. Gin. Definitiv Gin. »In dieser Reihenfolge?«

Die Situation überfordert mich komplett. Hitze schießt mir in die Wangen und mein Herzschlag stockt. Das letzte Mal, dass ich einem anderen Mann so nahe gewesen bin, ist... ewig her.

War das ein Angebot? Meint er das ernst?

»Ähm, ich... äh, glaube... nicht?«

Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen, wobei ich in der einen zu allem Überfluss immer noch die Bierflasche halte. Ich will ihn auf Abstand schieben, was nicht leicht ist, wenn ich ihn dabei so wenig wie möglich anfassen will. Der Hoodie ist jedenfalls nicht dick genug, um die darunterliegenden Muskeln nicht zu spüren.

Gott. Wieso kann ich das nicht so locker und verspielt wie Joscha?

Grinsend schüttelt Kev den Kopf und lockert seinen Griff. »Mann, Anton. Entspann dich mal. Du bist steif wie ein verdammtes Brett. Und ich meine steif nicht auf die gute, geile Art.« Er lässt mich los. »Ich beiße nicht.« Das wölfische Grinsen auf seinem Gesicht lässt mich schlucken. »Außer du willst es.«

»Äh, nein... ich... danke, nein.« Ich erinnere mich an die Bierflasche in meiner Hand und trinke einen großen Schluck in der Hoffnung, dass der Alkohol meine flatterigen Nerven beruhigt.

Himmel. Bin ich denn wirklich so raus aus diesem Spiel?

Joscha klopft Kev auf die Schulter. »Lass ihn in Ruhe. Du siehst doch, dass ihm das unangenehm ist.«

Kev legt den Kopf schief. »Im Ernst? Was ist dir unangenehm? Beißen? Körperkontakt? Ich?«

»Äh...«

»Kev.«

»Ich frag ja nur.«

Oh Gott, das wird immer schlimmer. Am Ende halten mich die beiden noch für eine verklemmte Jungfrau. »Ich bin nur... etwas aus der Übung. Das ist alles.«

»Dann solltest du dich nicht immer hinter deinem Schreibtisch verkriechen, sondern mal mit uns feiern gehen.«

»Oder du gehst allein feiern.« Joscha wirft Kev einen bezeichnenden Blick zu. »Kev übertreibt es gerne mal. Daran muss man sich erst gewöhnen.«

»Haha. Ich geh jedenfalls nicht allein nach Hause, wenn ich nicht will. Wie lange hattest du keinen Sex mehr, Anton? Einen Monat? Zwei?«

Fast hätte ich mich an meiner eigenen Spucke verschluckt. Das ist die längste Abstinenz, die er sich vorstellen kann?

»Länger als zwei Monate?«

Ich schlucke – und muss erst mal rechnen.

»Oh Scheiße, bitte sag mir, dass es wenigstens innerhalb des letzten halben Jahres war.«

»Das... könnte so gerade hinkommen.« Als mich nicht nur Kev entsetzt ansieht, sondern auch Joschas Blick nachdenklich wird, fühle ich mich wie eine seltene Lebensform, die erst noch genauer erforscht werden muss. Der paarungsunwillige Nerd oder so. »Ich hatte keine Zeit. Ich habe studiert, dann gearbeitet, meine App geplant, bei meiner vorherigen Firma gekündigt...« Diese Entscheidung muss ich heute noch vor meiner Familie verteidigen. »Da kann einem schon mal die Lust vergehen.«

»Wenn mir sechs Monate lang die Lust vergeht, bin ich tot. Und zwar seit mindestens sieben Monaten.«

Joscha kippt seinen Sekt hinunter. »Wollen wir noch irgendwo hingehen? Vielleicht in eine Bar, wenn du kein Clubgänger bist?«

»Moment mal. War das gerade eine Einladung zum Sex? Warum hast du mir noch nie Sex angeboten?«

»Hast du irgendwo das Wort ficken gehört?«

»Bei dir hör ich so Einiges zwischen den Zeilen, Baby.«

»Es war ein Angebot auf angenehme Gesellschaft.« Joscha hebt fragend die Augenbrauen. »Wie sieht's aus? Wir können auch ohne Mr. Multimillionär losziehen.«

»Uh.« Kev stöhnt so laut, dass man sich sechs Stockwerke unter uns auf der Straße fragen könnte, ob hier oben auf der Dachterrasse gerade ein Porno gedreht wird. »Das klingt so heiß, wenn du das sagst. Multi. Millio. När.«

Ich muss lachen und auch Joscha stimmt kurz darauf ein. So anstrengend und schwierig es manchmal mit Kev ist, so lustig kann es auch mit ihm sein. Trotzdem würde mich kein noch so großer Teil seiner Millionen dazu bringen, mit ihm feiern zu gehen. Wenn Joscha schon findet, dass er es dabei übertreibt, würde ich vermutlich vor Fremdschämen im Boden versinken wollen.

Kev grinst. »Na bitte. Das ist doch schon viel besser. Und jetzt suchen wir uns einen Club.« Er zieht bereits sein Handy aus der Bauchtasche seines Hoodies, als er es sich kopfschüttelnd anders überlegt. »Vergesst es. In München gibt es nur einen Club, wo wir hingehen können. Oder wollt ihr den Heteros mal zeigen, wie hart Homos feiern können?« Er schlingt je einen Arm um Joscha und mich und stößt uns mit wiegenden Hüften an. »Pun intended. Vielleicht krieg ich euch mit genug Alkohol noch zu einem Dreier.«

Erschrocken schnappe ich nach Luft, während Joscha schnaubt. »Nie im Leben.«

»Okay. Dann nur du und ich. Anton wird's verkraften, oder, Anton?«

»Ja. Also, nein. Äh, ich meine...« Ich schiebe Kevs Arm von meinen Schultern. »Ich will mit keinem von euch schlafen.«

»Ich auch nicht.« Joscha befreit sich ebenfalls aus Kevs Umarmung.

»Und ich komme auch nicht mit feiern. Oder in eine Bar. Oder sonst wohin. Obwohl das Angebot echt nett ist. Danke.«

Joscha zuckt die Schultern. »Wenn du es dir anders überlegst, sag Bescheid. Ich bin ein guter Zuhörer.«

Es ist niederschmetternd, dass er mir innerhalb weniger Minuten schon zum zweiten Mal seine Gesellschaft anbietet wie einem Obdachlosen einen Kaffee. Ich kann wohl nicht besonders gut verbergen, dass sich mein Sozialleben, inklusive guter Zuhörer, auf ein Minimum beschränkt. Schon gar nicht, nachdem beide nun wissen, dass ich so viel arbeite, dass ich nicht mal Zeit für Sex finde.

 

»Und ein echter Samariter.« Mit einem theatralischen Seufzen klatscht sich Kev eine Hand auf die Brust. »Bitte sag mir, dass du dich auch meiner erbarmst und mich heute Abend begleitest.«

Joscha hebt die Hand mit der Piccoloflasche und spreizt den Zeigefinger ab, um damit vor Kevs Nase herumzuwedeln. »Nur um auf dich aufzupassen. Nicht, um dich zu ficken.«

Kev schürzt die Lippen. »Hm, das genügt mir.«

»Was machst du dann jetzt?«, fragt Joscha mich, während Kev sein Glas von der Mauer nimmt.

»Ich werde...« ... arbeiten. Gerade noch rechtzeitig verkneife ich mir das Wort. Für heute bin ich erbärmlich genug rübergekommen. Aber ich habe die Bierflasche nicht mal zur Hälfte geleert und auf meinem Mac wartet noch ein Problem auf mich. Es ist ja erst zehn. Oder jetzt halb elf. Noch eine Stunde oder so. Bis die Pizza geliefert wird.

Pizza!

»Ich werde erst mal was essen. Ich bin am Verhungern.« Ich ziehe den scheußlichen Flyer aus meiner Gesäßtasche und schwenke ihn durch die Luft. »Weiß einer von euch, ob die Pizzen gut sind?«

Kev nimmt mir den Flyer aus der Hand. »Tonis Trattoria. Oh ja. Besonders der eine Pizzabote ist verdammt lecker.« Er gibt mir den Flyer zurück. »Vielleicht hast du ja Glück.«