Buch lesen: «Zwischen Jungbusch und Filsbach»
Für meine Großeltern
und die junge Generation,
denen der Krieg die Jugend raubte
sowie für all jene, die mit ihrem künstlerischen,
kulturellen, politischen oder auch persönlichen Einsatz
die Weiterentwicklung der beiden Stadtteile voranbringen,
stellvertretend für viele andere Sylvia Nast-Kolb,
Michael Scheuermann, Bernd Görner, Norbert Herrmann,
Rita Kunz-Krusenbaum, Achim Machill,
Alexander Bergmann und Susanna Weber.
Mein ganz besonderer Dank
gilt meiner Mutter Eleonore Jung
und ihrem Cousin Günter Noé dafür,
dass ich ihre Erinnerungen
in diesen Roman einbringen durfte.
Nora Noé, geb. 1952 in Mannheim, war nach dem Germanistik- und Kunststudium zunächst als Lehrerin tätig. Danach leitete sie zwei Jahrzehnte den Kunst- und Kulturbereich an der Volkshochschule Karlsruhe. Neben Theaterstücken für Kinder brachte sie zahlreiche musikalisch-literarische Programme auf die Bühne. Bisher erschienen die Romane Wer einmal einen Priester küsst (2006) sowie Mitten im Jungbusch (5. Auflage 2010). Nora Noé lebt heute als freischaffende Schriftstellerin in Mannheim. www.noranoe.de
Nora Noé
Zwischen
Jungbusch
und Filsbach
Roman
Stammbaum der Familie Legrand
bis Ende 1945
Die Stadtteile Jungbusch und Filsbach vor 1945
Mit den Bomben ist das wie mit dem Gewitter:
Wenn du das Grollen des Donners hörst, weißt du,
dass der Blitz nicht dich getroffen hat.
1
„Und wie heißt dieses Viertel, in dem wir jetzt gerade sind?“, fragte der Mann im Trenchcoat seine private Stadtführerin, als sie vor dem „ZI“, dem „Zentralinstitut für Seelische Gesundheit“ standen.
„Das ist die Filsbach! Wie der Jungbusch ist das hier auch ein Arbeiter- und Arme-Leute-Viertel gewesen“, erklärte sie ihm.
„Ja, und wie unterscheidet man den Jungbusch von der Filsbach?“ Für ihn war Mannheim mit seinen Quadraten in vieler Hinsicht ein böhmisches Dorf.
Sie zog ihren kleinen Stadtplan hervor.
„Schauen Sie mal, Herr Baumgärtner, hier im Nordosten liegt der Jungbusch. Er liegt wie ein Dreieck zwischen Neckar, Verbindungskanal und dem Luisenring, aber jenseits der Quadrate.“ Sie deutete auf die Karte.
„Ja, und wo liegt jetzt die Filsbach?“
„Tja, das ist gar nicht so einfach zu erklären, denn es kommt darauf an, wen man fragt. Meine Mutter und viele ältere Leute, die dort gelebt haben, bezeichnen die Quadrate, die direkt an die ‚Schiefe Gass‘ zwischen H5 und J5 angrenzten, als ‚Filsbach‘. Dort soll sich ganz früher mal ein Wassergraben befunden haben, in dem die Handwerker ihre Filze wuschen.“
„Und wo ist diese Schiefe Gass? “ Er schaute sich um.
„Die suchen Sie vergeblich, denn es gibt sie nicht mehr. Als ich klein war, existierte sie noch. Da standen dort auch noch die alten niedrigen Barockhäuser, unter anderem auch das ‚Henkerhaus‘, in dem der Henker von Mannheim wohnte. Aber in den 70er Jahren hat man alles abgerissen und auf dem Gelände das ZI errichtet.“
„Schön ist das nicht unbedingt. Die Bauweise passt überhaupt nicht in das Viertel.“ Er schüttelte den Kopf.
„Ich finde es auch scheußlich. Aber so baute man eben damals. Man hat den Gebäudekomplex wohl deswegen hier mitten in die Stadt gesetzt, weil man wollte, dass sich die Patienten in das soziale Leben um sie herum integriert fühlen. Ich kann das schon nachvollziehen, obwohl ich es schöner gefunden hätte, wenn die alten Häuser erhalten geblieben wären. Ich finde es einfach wichtig, dass man der Nachwelt noch einen Eindruck vom alten Mannheim hinterlässt“, entgegnete sie nachdenklich.
„Ich habe gehört, dass die Teufelsbrücke, auf der wir uns kennengelernt haben, auch abgerissen werden soll. Ist das wahr?“ Er klang beinahe vorwurfsvoll.
„Ja, leider. Das ist ein ähnlicher Fall! Die Spatzenbrücke, die Teufelsbrücke und die Kaufmannsmühle im Jungbusch zählen zu den frühesten Zeugnissen der Mannheimer Industriekultur. Anstatt diese eindrucksvolle Architektur zu erhalten, lässt man sie schon seit Jahren vergammeln und jetzt will man sogar die Teufelsbrücke abreißen, obwohl sie unter Denkmalschutz steht. Das ist unglaublich!“ Sie war empört.
„Vor allem ist es kurzsichtig. In Mannheim wurde so vieles durch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg zerstört, da sollte man doch zumindest die wenigen historischen Zeugnisse, die es noch gibt, bewahren.“ Und mit gespielter Betroffenheit fügte er hinzu: „Ohne die Teufelsbrücke wären wir beide uns nie begegnet! Die Brücke darf also auf gar keinen Fall abgerissen werden!“
„Da gebe ich Ihnen vollkommen recht, Herr Baumgärtner!“, antwortete sie lächelnd.
„Darf ich Sie um etwas bitten?“, fragte er plötzlich. „Sagen Sie doch bitte nicht immer Herr Baumgärtner zu mir! Jetzt gehen wir schon seit zwei Stunden kreuz und quer durch die Stadt und Sie haben mir schon so vieles gezeigt, da denke ich, wäre es doch an der Zeit, dass Sie mich Robert nennen ...?“
Er streckte ihr die Hand hin, die sie ergriff.
„Gut, aber dann müssen Sie auch Charlotte sagen.“
Er nahm das Angebot gerne an.
„Aber noch einmal zurück zu dem, was Sie vorhin gesagt, haben, nämlich dass die Definition, was denn nun als Filsbach zu bezeichnen sei, nicht eindeutig ist. Wie haben Sie das gemeint?“
„Ja, sehen Sie, es gibt einen Mannheim-Brockhaus und in dem steht, dass die Filsbach die ganze westliche Unterstadt von den E- bis zu den K-Quadraten umfasse.“ Charlotte deutete erneut auf den Stadtplan.
„Das wäre ja dann ein Viertel der ganzen Innenstadt-Quadrate. Ganz schön groß!“, stellte Robert fest und meinte weiter: „Also mir gefällt die Brockhaus-Definition besser!“
„Und warum?“ Charlotte blickte ihn verwundert an.
„Na, ganz einfach, weil Sie mir dann wesentlich mehr zeigen müssen. Wenn das kein Grund ist!“ Er lachte schelmisch.
„Na ja, bei einer so charmanten Aufforderung kann ich Ihnen ja kaum widersprechen“, entgegnete Charlotte und sie gingen weiter.
Sie zeigte ihm nun den Markt- und Paradeplatz, dann bogen sie ab in Richtung Rheinstraße.
„Sehen Sie, das war ursprünglich die Börse, später kam dann noch die Städtische Musikhochschule in das Gebäude“, erklärte sie, als sie am Quadrat E4 vorbeikamen.
„Und was ist das da vorne für ein Bau mit den vielen Säulen?“
„Das ist das Rathaus. Das wurde während des Dritten Reiches gebaut. Es hat den Grundriss eines H – es wird behauptet, das sei zu Ehren von Hitler geschehen. Aber das wissen die wenigsten. Irgendwie habe ich den Eindruck, man versucht, das heutzutage zu verdrängen.“
„Na ja, es würde in den Geist der damaligen Zeit passen, bei dem Personenkult, den man betrieben hat.“ Robert lächelte bitter.
Sie bogen zwischen E5 und E6 ein.
„Und was ist das da drüben, bitte schön?“ Robert deutete auf eine Statue auf der anderen Straßenseite.
Charlotte musste lachen. „Eigentlich sollte ich das nicht sagen, aber im Volksmund nennt man sie die ‚schebb’ Lissl‘.“
„Wie bitte?“ Robert schaute sie ungläubig an.
„Nein, Spaß beiseite. Das ist der ‚Friedensengel‘. Der steht hier seit 1983 und soll an die Toten des Zweiten Weltkriegs mahnen.“
„Manchmal haben die Mannheimer ja schon eine ganz schön lockere Zunge“, meinte Robert.
„Kann schon sein, aber sie sind offen und geradeaus, auch wenn sie nicht immer diplomatisch sind, und das gefällt mir“, verteidigte Charlotte ihre Leute.
„Warum denken Sie, hatte Mannheim nie ein Ghetto?“, fuhr sie fort. „Die Juden haben hier Jahrhunderte lang wesentlich freier und unbescholtener leben können als in anderen Städten. Besonders in den F-Quadraten da drüben haben viele Juden gewohnt. Dort vorne in F2 war übrigens die Synagoge. Nachdem sie jedoch 1938 in der Reichskristallnacht von SA-Leuten gesprengt wurde, trug man die Ruine 1955 ganz ab. Heute findet man nur noch eine Gedenktafel an dem Wohnhaus, das dort später errichtet wurde, und mehrere Stolpersteine, die daran erinnern sollen. Aber gegenüber in F3 hat man 1987 eine neue, sehr imposante Synagoge errichtet.“
„Gab es hier nicht auch einen jüdischen Friedhof?“ Robert meinte sich zu erinnern, einmal davon gehört zu haben.
„Ja, sicher gab es einen. Der war in F7 und dort wurden fast 200 Jahre lang Menschen beerdigt. 1842 wurde er dann neben dem neu eröffneten Hauptfriedhof angelegt.“
Kurz darauf durchquerten sie einen kleinen Park. „Bis auf die ziemlich unauffällige Gedenktafel da drüben, im Garten in der Säuglingstagesstätte, weist nichts mehr auf den jüdischen Friedhof hin. – Aber jetzt möchte ich Ihnen noch etwas ganz anderes zeigen“, meinte Charlotte, als sie die kleine Grünanlage verließen. „Sehen Sie mal, da drüben in G7,41, das ist das Haus des Pfadfinderbundes Mannheim. Da hatte vor 1945 der Metzger Dalacker seinen Laden und da stand auch ein Hinterhaus, in dem Handwerker und Arbeiter lebten. Das wurde im Krieg zerstört und später errichtete man dort ein einstöckiges Gebäude. Dort hat ein guter Freund von mir seit ein paar Jahren sein Atelier. Wenn Sie sich für Kunst interessieren, könnten wir mal bei ihm klingeln. Vielleicht ist er ja zu Hause?“
„Sehr gerne! Ich gehe, wann immer ich kann, zu Vernissagen und ich liebe Kunstausstellungen.“ Robert war von der Idee begeistert.
Sie hatten Glück, denn nach zweimaligem Klingeln kam Theo Schneickert in seiner Malerkluft und einem Pinsel in der Hand an die Haustür und öffnete ihnen. Sie durchquerten den Hof.
„Das ist ja richtig idyllisch hier.“ Aber als Robert das Atelier betrat, kam er erst richtig ins Staunen. „Das würde man hier niemals vermuten.“ Robert schaute sich die Bilder an und war begeistert. „Ich verstehe gar nicht, dass ich von Ihnen noch nichts gehört habe“, meint er beim Hinausgehen. „Aber ihren Namen muss man sich merken. Das gefällt mir gut, was Sie machen, besonders das, an dem Sie gerade arbeiten. Wenn es fertig ist, komme ich ganz bestimmt wieder! In meiner Wohnung gibt es einen Platz, da würde es perfekt hinpassen.“
„Dann haben wir ja anscheinend einen ähnlichen Kunstgeschmack“, meinte Charlotte, als sie in Richtung Luisenring gingen, „denn bei mir zu Hause hängen die Wände mit Schneickerts voll. Ich sammle seine Bilder schon seit Jahren.“
„Jetzt brauche ich aber dringend einen Kaffee“, meinte Robert schließlich.
„Sie können es sich aussuchen, wo wir hingehen wollen. Ins Café ‚Buschgalerie‘ zu Rita Kunz-Krusenbaum in der Dalbergstraße? Sie macht immer kleine Kunstausstellungen und backt alle ihre Kuchen selbst. Oder in das Restaurant oben im Musikpark mit Blick über den Hafen, oder ins neu eröffnete ‚Cafga‘ von Gerhard Fontagnier in der Jungbuschstraße. Oder natürlich ins ‚Nelsons‘, das kennen Sie ja noch vom letzten Mal.“
„Da fällt einem wirklich die Wahl schwer, aber ehrlich gesagt, am liebsten würde ich sozusagen in memoriam dahin gehen, wo wir beim ersten Mal waren.“
Und so machten sie sich auf ins Nelsons am Ende der Jungbuschstraße.
„Es ist schon enorm, wie sich die beiden Stadtteile verändern“, meinte Robert, „da kommt richtig etwas in Bewegung.“
„Ja, das finde ich auch. Aber natürlich hängt das insbesondere mit den engagierten Leuten zusammen, die hier im Jungbusch und in der Filsbach jede Menge kulturelle Projekte ankurbeln und Aktivitäten entfalten. Fantastisch, was die alles machen.“ Charlotte kam ins Schwärmen.
„Aber eines ist ihnen noch nicht gelungen“, warf Robert ein.
„Na ja, warum heißt die Haltestelle ‚Dalbergstraße‘ und nicht ‚Jungbusch/Filsbach‘? Könnte es vielleicht sein, dass die Verantwortlichen der Stadt beziehungsweise der Verkehrsbetriebe nicht wirklich zu dem Stadtteil stehen, weil die beiden Bezirke eben doch einen zweifelhaften Ruf haben? Der Name des ehemaligen Intendanten des Mannheimer Nationaltheaters Dalberg macht wohl doch mehr her?“
Je länger Charlotte darüber nachdachte, desto mehr musste sie Robert recht geben. „Da könnte was dran sein!“, stimmte sie ihm schließlich zu.
Als sie ihren Kaffee bestellt hatten, meinte Robert: „Jetzt will ich aber endlich wissen, wie es 1942 nach Marlenes Tod weiterging. Jetzt haben Sie mich lange genug auf die Folter gespannt.“
Und so begann Charlotte zu erzählen.
2
Draußen war es bitterkalt. Die Scheiben der Schlafzimmerfenster waren beschlagen und an ihren Rändern hatten sich Eisblumen gebildet.
Carlo fröstelte. Das schwere Federbett vermochte ihn nicht zu wärmen. Die Kälte, die er empfand, war jedoch in erster Linie Ausdruck seiner seelischen Verfassung. Obwohl er todmüde war, konnte er nicht schlafen. Er lauschte in die Dunkelheit. Tick-tack, tick-tack. Er blickte zur Seite auf das grün fluoreszierende Zifferblatt seines großen runden Weckers: drei Minuten vor Mitternacht. Vorsichtig tasteten seine Finger im Dunkeln die weißmelierte Marmorplatte des Nachttisches entlang zum Fuß der Lampe. Schließlich fühlte er das kalte Messing. Er machte Licht und lehnte sich über den Bettrand hinaus, denn daneben stand sein Radio, der kastenförmige Volksempfänger aus glänzendem dunkelbraunem Bakelit. Er schaltete ihn ein und drehte an dem Rädchen. Nach rechts, nach links – nichts als Rauschen. Behutsam, millimetergenau bewegte er den Sucher erneut nach rechts. Er konzentrierte sich auf den Wellensalat und filterte weit entfernt die ihm vertrauten Töne heraus. Das Rauschen wurde schwächer und schwächer. Und schließlich vernahm er, zunächst weit entfernt, dann jedoch immer klarer das, wonach er gesucht hatte. Er hatte die Frequenz gefunden.
„Ta, ta, ta, taaa! – Ta, ta, ta, taaa – Ta, ta, ta, taaa“ – das Kopfmotiv von Beethovens 5. Sinfonie erklang: das Erkennungszeichen des deutschen Programms von BBC London. Die tiefen Paukenschläge, die sich immer von neuem wiederholten, hämmerten zuerst in seinem Kopf, dann hallten sie in seinem ganzen Körper nach.
Die Stimme von Hugh Greene ertönte. „This is London calling.” Und dann in gebrochenem Deutsch mit englischem Akzent: „Hier ist England. Sie hören die Mitternachtsnachrichten auf Kurzwelle im 19-, 25-, 31- und 41-Meter-Band und auf Ultrakurzwelle auf 90,2 Megahertz.
England: Am gestrigen Abend griffen gegen 20.30 Uhr deutsche Kampfflugzeuge die Hafenstadt Hull in der Grafschaft Yorkshire an. Unter der Zivilbevölkerung sind zahlreiche Verletzte zu beklagen. Trotzdem gelang es der britischen Flugabwehr, einen der deutschen Bomber, eine Dornier Do 217, zur Landung zu zwingen. Dabei kam ein Besatzungsmitglied in dem brennenden Flugzeug ums Leben, drei weitere Insassen wurden gefangen genommen.
Libyen: Nachdem die 8. Britische Armee unter Führung von General Montgomery im letzten Monat die Offensive des Afrikakorps von Generalfeldmarschall Rommel in Libyen erfolgreich stoppen konnte, gelang es ihr gestern in den frühen Morgenstunden mit einem wohl-kalkulierten Überraschungsangriff, die deutsch-italienischen Panzerverbände zum Rückzug aus der Buerat-Stellung zu zwingen...“
„Gott sei Dank, dann kommt Kurt hoffentlich bald heim!“ Amelie war aufgewacht und lauschte nun auch der Stimme aus dem Radio. Als sie die Nachricht vom Afrikafeldzug hörte, musste sie sofort an Kurt, den Stiefsohn ihrer Schwägerin Marie denken. Den gerade mal Zwanzigjährigen hatte man im letzten Herbst eingezogen und gleich nach Nordafrika geschickt.
„Psst! Amelie!“ Carlo legte den Zeigefinger auf seine Lippen und stellte das Radio lauter. Er wollte auf keinen Fall, dass ihm eine Nachricht entging.
„Carlo, bist du lebensmüde! Mach das nicht so laut, wenn das einer mitkriegt, dann sind wir dran! Du weißt doch, was sie mit Leuten machen, die Feindsender hören!“ Amelie versuchte, über ihn hinweg zum Radio zu greifen.
Aber Carlo wehrte sie ab. „Ist ja schon gut“, entgegnete er, und stellte den Apparat leiser. „Ich will doch bloß kurz hören, was es noch an Neuigkeiten gibt. Das, was sie uns im Großdeutschen Rundfunk erzählen, ist doch sowieso alles gelogen. Ich mach ja gleich wieder aus.“ Er rückte mit seinem Ohr näher an den Lautsprecher heran.
„Stalingrad: Seit zwei Tagen sind unter den verzweifelten deutschen Soldaten der maroden 6. Armee von General Paulus Flugblätter mit den Unterschriften von Exilanten wie Walter Ulbricht in Umlauf. Sie fordern darin die eingekesselten Wehrmachtsangehörigen zur Kapitulation vor den Sowjets auf. Man kann nur hoffen, dass sie dem Aufruf Folge leisten und dieser grausame Stellungskrieg schnellstmöglich ein Ende findet. – Das waren die Nachrichten für Deutschland von BBC London. Wir melden uns wieder gegen 3 Uhr.“
Carlo schaltete ab.
„Hoffentlich lebt Gustav noch! Ausgerechnet ihn mussten sie nach Stalingrad schicken: meinen Bruder, den überzeugten Sozia-listen! Jetzt kämpft er an der Ostfront in seiner deutschen Wehrmachtsuniform gegen kommunistische Soldaten. Und die halten ihn natürlich für einen Nazi und schießen auf ihn. Und Gustav bleibt nichts anderes übrig als zurückzuschießen, wenn er überleben will. Was für ein Irrsinn, Amelie!“ Carlo schüttelte den Kopf.
„Du meinst, was für ein infames Spiel, das die Nazis da treiben. Sie haben doch alle Kommunisten entweder ins Arbeitslager oder an die Ostfront geschickt, damit sie möglichst gleich draufgehen. Genau das ist ihre perfide Absicht.“ Sie seufzte. „Aber Carlo, lass uns jetzt trotzdem versuchen, noch ein bisschen zu schlafen. Wir haben morgen einen harten Tag vor uns.“
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann drehte sie sich um und ihre kleine Gestalt verschwand unter dem Plumeau.
Carlo zog sein Federbett hoch bis an die Nasenspitze. Er war hellwach. Sein Blick fiel auf den Abreißkalender an der gegenüberliegenden Wand: Montag, der 4. Januar 1943. Heute würde er seine kleine Schwester Marlene zu Grabe tragen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schaute hinauf zur Decke auf die Stuckverzierungen um die Lampe herum. Schwäne mit Blättern, Zweigen und Früchten. Marlene hatte sie stets bewundert. Als sie damals in der Beilstraße eingezogen waren, hatte Marlene sie besucht und fasziniert zur Decke blickend gemeint: „Wenn ich mal alt bin und nicht mehr auf dem Schiff leben muss, dann möchte ich auch eine richtige Wohnung haben, mit eleganten weißen Lamperien aus edlem Holz oder noch besser gleich aus Marmor. Und die Räume müssen ganz hohe Decken haben und vor allem genau solche wunderschönen Stuckarbeiten, wie ihr sie hier habt!“ Dabei hatten ihre großen blauen Augen gestrahlt.
Ja, ihre Augen waren unvergleichlich gewesen. Er hatte niemanden gekannt, der so erwartungsvoll in die Zukunft geblickt hatte wie seine kleine Schwester. Und dann der Reinfall mit diesem Franz! Der Gedanke an Franz Brandstetter ließ Carlo die Fäuste unter der Bettdecke ballen. Wenn der sie damals geheiratet hätte, wäre alles anders gekommen. Aber er hatte ihr das Kind gemacht und sie dann sitzen lassen. Dieses Nazischwein! Wäre sie doch diesem Kerl bloß nie begegnet!
Carlo atmete tief durch. Er machte sich Vorwürfe: Ich hätte mich damals mehr einmischen sollen. Vor allem hätte ich verhindern müssen, dass Marlene Alfred heiratet. Aber hätte ich das wirklich verhindern können? – Marlene wollte doch weg, raus aus dem Jungbusch, und vor allem wollte sie weg von unserer Mutter. Und Alfred hat ihr das ermöglicht. Welcher Mann hätte sie denn sonst noch genommen? Eine alleinstehende, mittellose Frau mit Kind. – Und trotzdem! Vater hätte sich damals auf gar keinen Fall noch einmal in der „Schifferbörse“ mit Alfred treffen dürfen. Er hat ihm Marlene ja regelrecht aufgeschwätzt. Aber so war Vater immer gewesen. Nie hatte er die Folgen seiner Handlungen bedacht. Alle seine Brüder hatten es zu etwas gebracht. Nur Vater war Sackträger im Hafen geworden, das Letzte vom Letzten! Er war schuld, dass sie im Jungbusch gelandet waren. Carlo war verbittert.
Und trotzdem – er konnte es drehen, wie er wollte. Marlene hatte Alfred geliebt und ihm immer wieder verziehen, bis zu ihrem Tode. – Wie kann man ein solches Scheusal nur lieben?“ Carlo konnte das nicht begreifen. Andererseits musste Alfred irgendetwas an sich haben, denn seine Schwester war ja nicht die einzige Frau gewesen, die sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Er dachte an Ida, Auguste und Judith. Ja, selbst die kluge Judith war diesem Kerl auf den Leim gegangen.
Amelie kroch aus den Kissen und blinzelte ihren Mann an. „Kannst du nicht schlafen? Was grübelst du denn, Carlo?“
„Ach, ich muss an so vieles denken, an Marlene, an Judith ...“
„Mir fehlt Marlene auch sehr. Sie war ein so liebenswerter Mensch. Dieses schreckliche Ende hat sie weiß Gott nicht verdient. – Und Judith, ob wir sie jemals wieder sehen? Ich habe schon oft gedacht, dass es ein Segen war, dass das mit Alfred alles so gekommen ist. Wer weiß, was die Nazis mit ihr gemacht hätten, wenn sie damals nicht nach Amerika ausgewandert wäre?“
„Wahrscheinlich wäre sie jetzt auch in irgendeinem Lager.“ Carlo atmete tief durch.
„Ich finde das so furchtbar, was der Hitler den Juden antut. Erst nimmt er ihnen alles weg und jetzt schickt er sie auch noch in die Zwangsarbeit. Er macht ja nicht einmal vor Kindern und alten Leuten Halt! Ich darf gar nicht darüber nachdenken. Und dann dieser unsägliche Krieg! Ich hoffe bloß, dass er bald vorbei ist!“ Neben der Traurigkeit schwang in Amelies Stimme auch unverkennbar Wut mit.
Carlo seufzte. „Das hoffe ich auch. Wenn man BBC Glauben schenken kann, dann kriegen wir ja im Augenblick überall eine auf den Latz. Und ehrlich gesagt, ich wünsche mir immer mehr, dass wir diesen Krieg verlieren.“
Amelie erschrak: „Aber Carlo, sag das bloß zu niemandem, sonst wirst du noch wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt! Du darfst nicht so unvorsichtig sein!“
„Mach dir keine Sorgen! Das sag ich doch bloß zu dir! – Aber gesetzt den Fall, wir gewinnen diesen Krieg, dann werden wir doch den Hitler überhaupt nicht mehr los. Schau dir mal unser Land an! Fast alle sind in der Partei. Und die Jungen schicken sie in die Hitlerjugend. Dort werden sie frühzeitig geimpft und gleich auf Linie gebracht. Da muss man daheim noch aufpassen, was man in Gegenwart seiner Kinder sagt. Du erinnerst dich doch noch an die Benders von gegenüber. Ihr Sohn, der Reinhard, der hat seinen eigenen Vater angezeigt. Ich werde das Gesicht von Gregor niemals vergessen, als ihn die Gestapo abholte.“
„Man muss heutzutage höllisch aufpassen. Aber Gott sei Dank brauchen wir da bei unserer Helena keine Angst haben, denn sie geht ja bis heute nicht in den Bund deutscher Mädchen. Wenn ich noch daran denke, wie die BDM-Führerin, diese Schwenzke, damals bei uns aufgetaucht ist; der hast du vielleicht Beine gemacht. Danach hat sich nie wieder jemand von dieser Brut bei uns sehen lassen.“ Der Stolz in Amelies Stimme auf das damalige couragierte Auftreten ihres Mannes war nicht zu überhören.
„Wenigstens das konnte ich verhindern.“ Carlos Lächeln wirkte gequält. „Und trotzdem fühle ich mich so machtlos. Schau dir doch unsere Nachbarschaft an! Die sind fast alle braun und stehen stramm. Und sie wählen den Hitler auch – und zwar freiwillig! Diese Hammelherde! – Und die paar, die sich gegen ‚unseren Führer‘ stellen, die werden beseitigt. Die alten Genossen sitzen doch alle in Schutzhaft oder sind in Lagern eingesperrt und wer weiß, ob sie die überhaupt noch mal lebend verlassen?“
„Aber, Carlo, was willst du denn damit sagen?“ Amelie wirkte verunsichert. Mittlerweile hatte sie sich im Bett aufgerichtet und betrachtete ihren Mann besorgt.
„Ich kann dir nichts Genaues sagen.“ Carlo zögerte. „Aber ich habe jetzt schon ein paar Mal von Kameraden, die aus dem Osten zurückkehrten, gehört, dass dort in den Lagern ganz entsetzliche Dinge passieren sollen. Du kennst doch den Fritz aus der Werftstraße? Der war eine ganze Zeit in Polen. Seine Kaserne war in der Nähe von Krakau und er hat mir vom Lager Auschwitz erzählt. Er hatte dort Kontakt mit ein paar Zwangsarbeitern. Er hat gesagt, sie hätten einen erbarmungswürdigen Eindruck gemacht, sie seien mehr tot als lebendig gewesen.“ Carlo stockte einen Moment. „Und einer von ihnen hat ihm einmal einen Zettel zugesteckt.“
„Was für einen Zettel? Was stand denn darauf?“ Amelie blickte ihn entgeistert an.
„Du musst mir dein Ehrenwort geben, dass du mit keinem Menschen darüber sprichst, hörst du!“
Amelie schüttelte den Kopf. „Nein! – Ich meine, ja, ich verspreche dir, ich werde mit niemandem darüber reden. Aber sag schon, was stand denn auf diesem Zettel?“
Stockend erwiderte Carlo: „Der Mann hatte darauf geschrieben: ‚Helft uns, wir sterben! Die bringen uns hier alle um!‘ “
Für einen Augenblick herrschte Stille im Raum. Amelie war so erschrocken, dass sie die Hände vor den Mund presste, als wolle sie einen Schrei unterdrücken. „Aber Carlo, das ist ja grauenhaft!“ Sie zögerte einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: „Carlo, soll ich dir was sagen, in meinem tiefsten Innern habe ich so was schon lange geahnt. Ich wollte mir das nur nie eingestehen. Ich glaube diesem Mann. Der Hitler und seine Schergen, die sind zu allem fähig. Was für ein Wahnsinn!“ Bei den letzten Worten bedeckte Amelie ihr Gesicht mit den Händen und begann zu weinen.
Carlo zog seine Frau unter die Bettdecke. „Du bist ja ganz kalt“, sagte er und nahm sie in die Arme. Eine ganze Zeit lang lagen sie stumm zusammen und wärmten sich aneinander.
„Ich wünsche mir nur eins“, sagte Carlo nach einer Weile, „dass wir alle irgendwie durchkommen. Weißt du, manchmal stelle ich mir vor, wie du, Helena und ich so wie früher an einem schönen Sonntagnachmittag die Planken entlangschlendern und im Kaffeehaus Kossenhaschen eine heiße Schokolade trinken. Und am Wasserturm setzen wir uns dann auf eine Bank in den Laubengängen und betrachten die Wasserspiele ...“
„Und ich erkläre dir die Skulpturen“, ergänzte Amelie und wischte sich die Tränen weg.
„Ja, und du erklärst mir Mannheim, so wie damals!“ Carlo lächelte und gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. Doch erneut holten ihn die trüben Gedanken ein.
„Was ist nur aus unserer Familie geworden, Amelie? Der Erich ist nun schon so lange in Russland vermisst. Ich glaube nicht, dass mein kleiner Bruder noch lebt. Und der Gustav ist in Stalingrad eingekesselt. Ob er da noch lebend rauskommt, das wissen die Götter! ... Und was wird aus mir? – Ich muss mich übermorgen in Wien melden. Wer weiß, wo sie mich von dort aus hinschicken?“
Amelie hätte Carlo gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber es fiel ihr partout nichts ein. Auch wenn die letzten zwanzig Jahre alles andere als leicht gewesen waren, so hatten sich doch seit Ende 1940 die Ereignisse überschlagen. Am schlimmsten war für die Mannheimer gewesen, dass die Bomben ihre Stadt erreicht hatten. Auch der Eintritt der Amerikaner in den Krieg 1941 verhieß nichts Gutes. Amelie gab es sehr zu denken, dass man überall in der Stadt begonnen hatte, Denkmäler und Glocken zu demontieren. Sie dienten als „Metallspende“. Dieser waren seit dem letzten Sommer das Kaiser-Wilhelm-Denkmal im Schlosshof, das Kriegerdenkmal im Löwengärtchen, das Moltke-Denkmal vor dem Zeughaus-Platz und die „Rheinlandglocke“ aus dem Kaufhausturm am Paradeplatz zum Opfer gefallen. Man hatte sie eingeschmolzen, um das Material zur Herstellung von Bomben zu verwenden.
„Manchmal kommt mir alles so sinnlos vor, Carlo. Man reißt uns auseinander, du musst in der Fremde kämpfen und töten und wir sitzen zitternd im Luftschutzkeller und demnächst in einem dieser Bunker, die sie gerade zuhauf bauen, und bangen um unser Leben. Wozu das alles?“
„So vieles ist so sinnlos, Amelie. Auch dass ich heute meine kleine Schwester Marlene auf ihrem letzten Weg begleiten muss.“ Carlo seufzte. „Ich bin manchmal so müde! Als ich damals nach 1918 heimkam, hatte ich gehofft, nie mehr in einen Krieg ziehen zu müssen, nie mehr auf Menschen schießen zu müssen, die ich nicht kenne und die mir nichts getan haben. Und jetzt geht dieser unselige Krieg schon ins fünfte Jahr und ein Ende ist nicht abzusehen. Und was da gerade in Russland passiert – da kann es einem angst und bange werden. Ich kann nur beten, dass sie mich nicht nach Stalingrad schicken.“
3
Am nächsten Morgen fuhren Amelie, Carlo und Helena mit der Straßenbahn zum Mannheimer Hauptfriedhof. Sie betraten ihn durch das imposante Hauptportal. Entlang des Weges, der zur Leichenhalle führte, reihte sich eine Familiengruft an die andere, nur unterbrochen von großen Grabmälern mit kunstvoll gestalteten Skulpturen und marmornen Engeln. Hier hatten so bedeutende Persönlichkeiten wie Wolfgang Heribert von Dalberg, der erste Intendant des Mannheimer Nationaltheaters, der Unternehmer Heinrich Lanz und der ehemalige Oberbürgermeister Otto Beck ihre letzte Ruhe gefunden.
„Das ist aber ein furchtbarer Grabstein.“ Helena blieb stehen und deutete auf das Grab von August von Kotzebue. Die beiden Büsten, die am oberen Ende des Gedenksteines eingemeißelt waren, hatten wilde Gesichtszüge. Hinter ihren Köpfen lastete ein riesiger Quader. Man hatte das Gefühl, er würde jeden Augenblick die Gesichter zerquetschen.
„Das sind Theatermasken, Helena. Du musst wissen, Kotzebue war ein bedeutender Theaterdichter.“
Und gleich darauf begann Amelie die alte Inschrift auf dem Grabstein zu lesen:
Die Welt verfolgt’ ihn ohn’ Erbarmen,
Verläumdung war sein trübes Loos;
Glück fand er nur in seines Weibes Armen,
und Ruhe in der Erde Schoos.
Der Neid war immer wach,
ihm Dornen hinzustreuen.
Die Liebe lies ihm Rosen blühen;
ihm wolle Gott und Welt verzeihen:
Er hat der Welt verzieh’n.“
„Das klingt aber traurig!“, bemerkte Helena melancholisch, „Ich glaube, dieser Kotzebue war ein sehr einsamer Mensch.“
„Na ja, er hat sich durch seine, sagen wir mal, rückschrittlichen Einstellungen nicht gerade Freunde gemacht. Und schließlich hat ihn dann ein Student, ein gewisser Sand, zu Beginn des letzten Jahrhunderts erstochen.“ Amelie war wie meist, wenn es ums Theater ging, bestens informiert.