Lasst uns um Europa kämpfen

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HÖLLENFEUER

Die Sonne brennt mir in den Augen. Ich starre aus dem Autofenster hinauf in einen wolkenlosen Himmel. Das endlose Blau, das sich über all das spannt, was gerade hier unten passiert, ist grotesk. Der Gegensatz könnte nicht schärfer sein. Dunkle Stunden in gleißendem Sommerlicht. Dieser Himmel über uns ist nicht mehr freundlich, er ist voller Gefahr.

»Seht ihr Flugzeuge?«, fragt mein Vater, »seht ihr welche?«

Ich sitze auf dem Rücksitz eines großen, kaputten Geländewagens, in dem es trotz Motorenlärm unheimlich still ist. Selbst das Radio gibt keinen Ton mehr von sich. Wenn ich nicht in den Himmel starre, sehe ich das angespannte Gesicht meines Vaters im Rückspiegel. Er blinzelt im Fahrtwind, der durch die zerbrochene Frontscheibe pfeift. Ich umklammere den Türriemen, dass es fast wehtut. Mein kleiner Bruder umklammert meinen Arm, dass es richtig wehtut. Auch er gibt keinen Mucks von sich, in seinen Augen liegt derselbe angstvolle Blick wie in denen meines Vaters. Meine Mutter schaut zum anderen Autofenster hinauf in das unheilvolle Blau.

»Sagt sofort Bescheid, wenn ihr Flugzeuge seht«, sagt mein Vater, »seht ihr sie schon?«

Niemand antwortet.

Wir fahren schnell. Auf der Autobahn nach Gori sind kaum Menschen unterwegs. Normalerweise herrscht hier ordentlich Verkehr, aber heute ist nicht normalerweise. Die Ost-West-Fernstraße ist in diesen Tagen im August 2008 nicht bloß die Verbindung zwischen Südossetien und Gori, sie ist Ziel russischer Luftangriffe. Der einzige Weg von Ost nach West führt durch das Kriegsgebiet.

»Wir müssen diesen Weg nehmen«, habe ich meine Eltern in der Früh flüstern gehört. »Er ist der einzige Richtung Westen. Wenn wir dort nicht durchkommen, schaffen wir es nicht. Die S1 ist unsere einzige Chance«, sagte mein Vater leise, aber eindringlich. »Wenn wir zurückbleiben«, er machte eine Pause, »werden sie uns töten.«

Es war sehr früh am Morgen, aber für mich machte es keinen Unterschied. Ich konnte ohnehin nicht schlafen, seit der Krieg begonnen hatte. Unter meinem Kopfkissen lag ein Foto von meinen Freunden aus Deutschland. Ich schaute mir jedes der Gesichter an, als würde ich es nie Wiedersehen, und weinte leise. Dann betete ich still, für meine Familie, für meine Freunde und für alle Menschen in diesen frühen August-Tagen in Georgien, wo um Südossetien und Abchasien gekämpft wurde.

Für alle anderen Menschen, die darüber in den Nachrichten hören, ist es der sogenannte Kaukasus-Krieg. Für uns, die wir ausgerechnet in diesem August aus Deutschland wieder einmal heimgekommen sind, um unsere Verwandten zu besuchen, ist es die Angst, von einer Bombe getroffen zu werden, bevor wir das Land wieder verlassen können. Ich lag im Bett und dachte an meine Oma. Ich weinte und hielt mich an meinem Foto fest.

Nun sitze ich in dem kaputten Geländewagen und fühle das Foto in meiner Hosentasche. Das Blau des Himmels, in dem ich angestrengt nach Flugzeugen Ausschau halte, blendet mich. Ich schaue auf meine Füße hinunter. Meine Stiefel sind seit heute morgen fester zugebunden als sonst. Für alle Fälle.

Die leere Straße nach Gori ist unheimlich. Es ist, als ob das Land ausgestorben wäre. Gori, denke ich, dort ist Stalin geboren. Was für ein sinnloser Gedanke. Die Stille ist fast noch unheimlicher als die Leere. Nur der Wind zischt ab und zu mal laut durch die zerbrochene Windschutzscheibe. Wir holpern über zerbombten Asphalt.

»Sobald ihr Flugzeuge am Himmel seht, halten wir an«, sagt mein Onkel, der darauf bestanden hat, uns zu fahren. »Wir bleiben stehen, hört ihr, sofort, ihr steigt aus und legt euch mit ausgestreckten Armen in die Wiese. Das ist wichtig. Ist das klar?«

Ich suche wieder den Himmel ab. Das Blau kommt mir immer absurder vor, Urlaube über dem Krieg. Ich greife zu dem Foto in meiner Hosentasche, taste, ob es noch da ist. Ein Geräusch reißt uns aus der Stille. Ich habe das Gefühl, es reißt mir die Ohren weg. Eine Bombe ist explodiert. Direkt vor uns. Auf der Straße. Ein paar Meter weiter vorne und wir wären tot. Dunkler Rauch steigt auf und formt einen riesigen Pilz am Himmel. Wir steuern genau auf ihn zu.

»Wir müssen da durch«, sagt mein Onkel, seine Stimme ist fest. Er drückt aufs Gaspedal. »Wir dürfen jetzt nicht umkehren.«

Wir preschen hinein in die rauchende Dunkelheit. Gleich darauf brennt es um uns herum. Alles steht in Höllenflammen, schwarzer Rauch nimmt uns die Sicht. Die kaputte Windschutzscheibe schützt uns nicht vor der lodernden Luft, sie brennt in der Lunge. Wir sehen nicht einmal mehr die Kühlerhaube, gleich darauf ist das Wageninnere schwarz verqualmt. Ich spüre jeden einzelnen Herzschlag, vergesse zu atmen. Es ist brennend heiß, das Metall der Karosserie glüht. Die Hitze ist unerträglich. Mein Bruder klammert sich noch fester an mich, er schluchzt. Ich ziehe ihn an mich und halte ihn. Ich schließe die Augen. Will weg aus diesem Albtraum.

Ich nehme meine kleine Digitalkamera aus der Tasche und drücke auf rec wie auf Autopilot. Ich sehe das Feuer, die zerbombten Häuser und Autos am Straßenrand durch das Objektiv. Ich filme die Bombeneinschläge vor uns, die Zerstörung und unsere zerschossenen Scheiben. Ich nehme alles auf und mit.

»Lieber Gott«, flüstere ich und mache die Augen wieder zu. Wenn ich das hier überlebe, dann werde ich alles tun, um hier etwas zum Positiven zu verändern. Ich werde es selbst in die Hände nehmen und alles in meiner Macht Stehende für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit tun. Es ist wie ein Schwur, den ich mir selbst gebe in diesem Höllenfeuer. In gespenstischer Gleichzeitigkeit wird es heller vor uns. Der Wagen durchstößt den Rauch, hüpft heraus wie aus einem Feuerball.

Ich drehe mich um, schaue ein letztes Mal nach hinten, als eine Schranke herunterfällt. Er stoppt die Autos hinter uns, und alles verschwindet in dem dunklen Qualm.


STERNENWANDERN

Ich darf mich jetzt einmal ordentlich vorstellen: Mein Name ist Nini Tsiklauri. Ich bin das Mädchen, das im Höllenfeuer vor Gori geschworen hat, alles in seiner Macht Stehende für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zu tun, sofern ich lebend dort rauskomme. Damals war ich sechzehn, ich bin lebend herausgekommen und habe Wort gehalten. Ich tue das in meiner Macht Stehende. Seit zwölf Jahren. Nicht zuletzt mit diesem Buch.

Ich bin die Nini Tsiklauri, die ihre Wurzeln in Georgien hat und in Ungarn und Deutschland aufgewachsen ist. Obwohl Georgien nicht zur EU gehört, ist meine Geschichte eine durch und durch europäische Geschichte.

Deshalb bin ich auch Nini Tsiklauri, die Europäerin. Die junge Frau mit dem blau-gelben Herzen, das für die Europäische Union schlägt. Ich war Schülerin, ich wurde Schauspielerin, jetzt bin ich Aktivistin für eine Gemeinschaft der Europäer, die unerschütterlich zusammenhält.

Komisches Gefühl, wenn ich das für euch so kurz zusammenfasse. 28 Jahre im Schnelldurchlauf. Aber das ist sie, die Essenz meiner seltsamen Lebensgeschichte, die so untrennbar mit meinem Engagement für die EU verwoben ist. Sie beginnt 1992 in Tiflis, wo ich auf die Welt kam, als sich mein Heimatland Georgien mitten in einem der schmerzhaftesten Kapitel seiner jüngeren Geschichte befand.

Gerade war der Kommunismus zusammengebrochen, seine Bollwerke gefallen. Die Berliner Mauer eingerissen, der Eiserne Vorhang demontiert, die Wende in Deutschland, der Untergang der Sowjetunion. Was Jahrzehnte lang als eine der beiden Weltmächte galt, begann in der Form, wie man sie so lange gekannt hatte, von der Landkarte zu verschwinden. Die Westmächte und der Ostblock. Diese Zweiteilung der Welt war Geschichte. Sie bekam ein anderes Gesicht.

Für Georgien hieß das die langersehnte Freiheit, das Land erlangte seine Unabhängigkeit. Gleichzeitig aber steckte es in einer tiefen Wirtschaftskrise. Russland hatte 1990 eine Wirtschaftsblockade verhängt, unter der Georgien fast in die Knie ging. Dazu der Bürgerkrieg in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien. Im Westen wurden die Kämpfe als von Georgien ausgehende Rückeroberung zweier Provinzen ausgelegt. In Wahrheit nutzte Russland die Separatisten in Abchasien und Südossetien für Massenmord und Vertreibung der dort lebenden Georgierinnen und Georgier. Eine Viertelmillion Menschen wurde dort aus ihrer Heimat vertrieben. Aus der langerkämpften Hoffnung meiner georgischen Landsleute auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit war schnell ein Albtraum geworden.

Gescheitert und um Macht ringend, hielt Moskau an etwas fest, das der Hoffnung die Kehle zudrückte. Die knapp vier Millionen Georgier in diesem kaum siebzigtausend Quadratmeter kleinen Land fühlten sich ihrer Zukunft beraubt. Und ich spreche da nicht von lebensfremder Politik. Ich spreche von Realität und Alltag. Von persönlichem Erleben. Wie alle anderen war auch meiner Familie und mir die Aussicht auf ein Leben in einem offenen Land genommen. Verwehrt, bis zum heutigen Tag. Zerstört war die Perspektive Georgiens, jemals ein Teil der westlichen Welt, der EU oder der NATO zu werden.

Da bin ich also, 1993, ein Baby, noch kein Jahr alt. Ich liege in den Armen meiner jungen Eltern an einer großen, alten postsowjetischen Bus-Station, umgeben von Bürgerkrieg, Wirtschaftskollaps, Arbeitslosigkeit, Elend und Armut. Meine Großmutter, so erzählte man es mir, wischt sich hastig die Tränen von den Wangen. Tränen nützen nichts in Momenten wie diesen. Wir müssen stark bleiben, das war schon immer der Satz, der die Familie aufrecht und zusammenhielt.

 

Die Monate davor hatten wir bei Oma auf dem Land verbracht. Tiflis war ein gefährliches Pflaster geworden, insbesondere mit einem Baby wie mir. Die Hauptstadt stand mitten im Schusswechsel. Doch die Umstände waren auch am Land immer schlechter geworden. Die lückenhafte Lebensmittelversorgung, die kaum vorhandene Infrastruktur, die organisierte Kriminalität, ein kleines Land lag in einem riesigen Scherbenhaufen.

Das größte Ziel meiner Eltern war eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder. Wir sollten es später nicht nur besser, wir sollten alle Chancen haben. Wie die Dinge lagen, war das in Georgien nicht möglich. So etwas geht nur auf der Basis einer guten Ausbildung. Und die fänden wir nur in Europa. Europäische Bildung, das war also die Parole.

Eine gute Ausbildung in Europa war das einzige Fundament, auf dem sich alle Möglichkeiten aufbauen ließen. Sie war die Voraussetzung für alles. Nur mit dem Rüstzeug einer solchen Bildung konnte etwas aus uns werden, und nur diese Bildung konnte uns in die Lage bringen, später auch hier, vor Ort in unserer Heimat, etwas zu bewegen. Unsere einzige Zukunft lag also darin, die Heimat zu verlassen.

Davon waren meine Eltern überzeugt, und sie überzeugten meine Großeltern. Obwohl überzeugen vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist, eher war es ein Überreden. Jedenfalls stimmten sie der großen Reise zu. Meine Oma gab mir einen letzten Kuss, bevor mich mein Vater zum Bus trug. Meine Eltern verstauten unser Gepäck, setzten sich und hielten mich so, dass Bebo mich durchs Fenster gut sehen konnte. Die Tränen flossen jetzt ungehindert, mit dem Abwischen kam sie nicht mehr hinterher. Sie winkte mit ihrem Taschentuch wie mit einer weißen Fahne, während der Bus anfuhr. Es war Abend, die Sonne ging langsam unter. Wir brachen auf in die Nacht, voller Hoffnung auf ein besseres Leben. Wir brachen auf nach Westen.

UNGARN

Unser Ziel war Ungarn. Kiskunhalas, eine kleine Stadt 130 Kilometer südlich von Budapest. Als wir ankamen, fühlte es sich friedlich an, wie auf einem anderen Stern. Das erzählten mir zumindest meine Eltern, mein Gedächtnis war noch zu jung für Erinnerungen. Meine ersten Eindrücke sind vage, eine auffallende Stille, gefüllt mit dem Geruch von Paprika. Später begeisterten mich die Konditoreien mit ihren Süßigkeiten, das fließende und saubere Wasser aus den Hähnen und der Strom aus der Steckdose.

Die Sprache lernte ich ohne Probleme, einerseits war ich klein genug, um sie fast wie eine Muttersprache anzunehmen, andererseits hatten wir schnell Anschluss und daher mehr Möglichkeit zur Kommunikation. Wir hatten das Glück, ein paar Menschen zu begegnen, die uns, vor allem meinen Eltern, das Gefühl von Daheimsein gaben. Insbesondere unsere Nachbarn, deren Kinder Lilly und Tom zu meinen besten Freunden wurden. Ich konnte rasch aktzentfrei Ungarisch und übersetzte für meine Eltern. Obwohl Ungarisch eine komplizierte Sprache ist, dauerte es nicht lange, bis sie sich selbst zurechtfanden. Das Talent dafür dürfte in der Familie liegen, mit Deutsch, auch keiner ganz einfachen Sprache, sollte es später ähnlich flink gehen. Als mein Bruder George auf die Welt kam, war ich längst an meine neue Umgebung gewöhnt.

Nini Tsiklauri, ein Mädchen in Ungarn.

Mit vier Jahren schickte mich meine Kindergärtnerin mit meiner Mutter zu einem IQ-Test in die nächstgrößere Stadt. Danach beschloss man, mich umgehend in die Schule zu schicken. Die Pädagoginnen waren der Meinung, mich fördern zu müssen und setzten mich dann gleich mal in die zweite Klasse. Im Hinblick auf die Bildung, die meine Eltern für uns im Sinn hatten, war das eine tolle Neuigkeit. Für mich in der Praxis war es weniger toll.

Im Gegensatz zu den anderen war ich winzig, hatte lange dunkle Haare und eine dunklere Haut, kurz gesagt: Ich sah anders aus als meine Mitschüler. Ich war also nicht nur zwei Jahre jünger, sondern auch sonst nicht das, was mich als Spielkamerad ausgewiesen hätte. So schnell wir uns im Land eingewöhnt hatten, so unmöglich gelang das in der Schule. Meine Mitschüler gaben mir meistens das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Einige erklärten mir, warum. Sie als »helle« Menschen mit blaueren Augen und blonderen Haaren wären die besseren Ungarn als die »dunkleren« wie ich. Das war die lange Erklärung. Die kurze hörte ich in den Pausen, wenn sie mich »Zigeunerin« riefen.

Ich konnte mit dem Begriff damals nichts anfangen, also fragte ich meine Eltern, was damit gemeint war. Sie wussten gar nicht, wie sie es mir beibringen sollten. Ihnen brach das Herz, dass ich immer öfter mit ähnlichen Fragen nach Hause kam. Und dann merkten wir es auch in der Umgebung. Es waren nicht bloß die Kinder, auch die Erwachsenen machten einen Unterschied zwischen den hier Geborenen und uns Zugezogenen, noch dazu aus einem Land jenseits des Schwarzen Meeres. Im Allgemeinen begegnete man uns nicht so freundlich wie unsere Nachbarn.

Meine Eltern nahmen mich aus der Schule und suchten eine neue für mich. Die Schüler waren andere, die Einstellung blieb dieselbe. Ich wechselte die Schulen dreimal hintereinander, es machte keinen Unterschied. Die Situation verbesserte sich nicht, nicht einmal an einer modernen englischen Schule in Budapest.

Wir lebten in einem Kontrastreich. Hier die großartigen Freundschaften, die unsere Familie in Ungarn schloss, für die wir sehr dankbar sind, und die bis heute bestehen. Dort der Hass gegenüber uns als Fremde, den man uns deutlich zu spüren gab, und der zum Alltag gehörte. Egal, wie sehr man sich zu integrieren bemühte, wir blieben die Ausländer. Egal, wie akzentfrei und fließend man die Sprache sprach, es war nie dieselbe. Wir waren Fremdkörper in der ungarischen Gesellschaft.

Nach sieben Jahren beschlossen meine Eltern, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Wir packten unser Leben zusammen und kehrten in die alte Heimat zurück. Das heißt, Heimat war es nur für unsere Eltern. Ich war als Baby hier angekommen, mein Bruder überhaupt erst hier geboren. Unsere Erinnerung an das Land, das wir 1993 mit dem Bus verlassen hatten, waren nicht spärlich, es gab sie schlichtweg nicht. Für meine Eltern war es eine Reise in die Vergangenheit. Für mich und meinen Bruder war es eine Reise ins Unbekannte. Ich war sieben Jahre alt.

GEORGIEN

Unser blauer Van ist voll bepackt. Seit Stunden stehen wir im Stau vor den Grenzkontrollen nach Georgien. Meine Eltern sind müde, die Fahrt bis hierher war lang. Ich möchte mir die Beine vertreten, die ich schon fast nicht mehr spüre. Mein kleiner Bruder ist als Einziger hellwach und fragt ständig, wann wir endlich da sind. Er fragt es auf Ungarisch.

Seit er reden kann, haben George und ich untereinander nur Ungarisch gesprochen. Ab nun sollte es nur noch eine Geheimsprache zwischen uns sein, aber das wussten wir noch nicht. Wir waren nicht einmal noch in dem Land angekommen, aus dem wir eigentlich stammen. Dank meiner Mutter haben wir Georgisch nicht ganz vergessen, auch wenn wir die Aussprache und später auch die Schrift ganz neu lernen müssen.

Nur noch ein paar Autos vor uns. Der Van fährt über die Rampe. Wir sind auf georgischem Boden. Mein Vater lässt die Fenster herunter, ein Grenzbeamter schaut ins Auto und redet mit seinem Kollegen. Sie reden Georgisch.

Mein Bruder ist ganz aus dem Häuschen und brüllt laut auf Ungarisch: »Mama, Mama, hör doch, hier reden ja alle auf Georgisch!«

Großes Gelächter im Wagen. Der Beamte ist irritiert. Mein Vater übersetzt es für ihn, er schenkt uns ein breites Schmunzeln und schüttelt den Kopf über diese georgische Familie, die aus Ungarn heimgefunden hat.

Der Weg zu meinen Großeltern ist ein Klacks gegen die weite Strecke, die wir gerade hinter uns haben. Wir steigen aus. Nach sieben Jahren haben meine Eltern wieder georgischen Boden unter den Füßen, mein Bruder und ich zum ersten Mal. Fühlt sich auch nicht anders an als der in Ungarn, denke ich. Vielleicht mein erster europäischer Gedanke. Bewusst ist mir das natürlich noch nicht.

Unter dem achtzig Jahre alten Lindenbaum im Garten meiner Oma in Patara Etseri sitzen wir wie in einer anderen Welt. Die Hälfte unserer Familie wohnt hier, auch sie kenne ich bloß aus Erzählungen. Die waren allerdings so lebendig, dass ich mich sofort mit meiner Verwandtschaft vertraut fühle, darauf hat Mama geachtet. Sie empfangen uns, als kämen wir vom Mars zurück. Alles begossen von reichlich Tränen, nur diesmal sind es Tränen der Freude.

Wir waren in ein Land zurückgekehrt, das wir im Bürgerkrieg verlassen hatten. Abchasien war nun eine autonome Republik, Südossetien de facto unabhängig von Georgien, beide werden unterstützt vom großen Nachbarn Russland. Geändert hatte sich ansonsten wenig. Der Scherbenhaufen war immer noch da, nur moderte er mittlerweile vor sich hin wie ein riesiger postsowjetischer Sumpf, durchzogen von zerstörten Straßen und Träumen. Die Wasserversorgung lag im Argen, mit Strom sah es nicht besser aus, gar nicht zu reden von einem Rechtsstaat. Das war zumindest das, was meine Eltern sahen. Wir Kinder waren damit beschäftigt, uns in einem Land einzugewöhnen, das sich noch wenig heimatlich anfühlte. Wir machten alle das Beste aus unserer Situation.

Es war nicht nur geografisch ein weiter Sprung, irgendwie sprangen wir auch in der Zeit zurück. Es war schon ein Unterschied zwischen dem Leben in einer modernen Metropole wie Budapest und dem Landleben in einem kleinen georgischen Dorf in der Provinz Imeretien. Wir gingen nicht mehr in den nächsten Supermarkt und überlegten, ob wir zum Frühstück Appetit auf Cornflakes oder Müsli hatten. Wir bauten Obst und Gemüse selbst an und gingen vor die Tür, wenn wir Lust auf einen Salat hatten. Statt Wasserhähnen hatten wir einen Brunnen, statt auf einen Lichtschalter zu drücken, zündeten wir den Docht in einer Petroleumlampe an. Wir lebten auf einer Farm voller Nutztiere, beschützt von einem Wachhund, einem weißen Schäfer namens Kusa. Wir fielen in der Zeit zurück, aber wir hatten alles, was man Ende der Neunzigerjahre in der Region Imeretien zum Überleben brauchte.

Meine Eltern beschlossen, sich in der Hauptstadt wieder ihrem Studium zu widmen. Mein Bruder und ich blieben bei den Großeltern und erkundeten unseren neuen Stern.

Es ist ein stinknormaler Schultag in Georgien 1998. Ich bin spät dran, der Bus muss gleich da sein. Tatsächlich, er steht schon da. Ich laufe vom Haus zu einem alten, klapprigen orangenen UDSSR-Omnibus, der vorm Nachbarhaus parkt. Kusa läuft mir bis zum Ende des Zauns hinterher. Es ist jeden Morgen dasselbe. Aus alter ungarischer Gewohnheit glaube ich an eine pünktliche Abfahrt und fange an zu rennen. Ich hätte auf allen Vieren herankriechen können und es hätte auch noch gereicht. Der Busfahrer steigt gemütlich aus und versinkt mit skeptischem Blick in den Anblick seiner Reifen.

»Niniko, steig ruhig ein, es geht gleich los!«, sagt er zu mir und klettert wieder rein.

Ich grüße ihn und steige vorne ein. Der Bus ist noch leer, obwohl er weit und breit der einzige ist, der hier fährt. Ich setze mich gleich neben dem Busfahrer auf das große Armaturenbrett. Ich mag diesen Platz, von dort hat man die beste Aussicht. Dabei schaue ich mir nicht die Landschaft an, ich beobachte lieber die Menschen. Mit einem Ruck wirft der Fahrer den höllisch lauten Motor an, auf dem ich quasi sitze. Der ganze Bus wackelt, brummt, ächzt und fährt dann mit geöffneten Türen an. Am ersten Tag hat mich das noch gewundert, jetzt bin ich daran gewöhnt.

Der Busfahrer heißt Bitschiko, aber alle nennen ihn liebevoll Bitschiko Babua, was so viel heißt wie Bitschiko Opa. Er trägt ein kurzärmliges hellblaues Hemd, eine hellgraue Hose und geschlossene braune Ledersandalen. Vom ersten Moment an habe ich ihn ins Herz geschlossen, und immer noch muss ich lächeln, wenn er in seiner ganzen Konzentriertheit und Ernsthaftigkeit zu mir herüberschaut, schmunzelt und lustige Geschichten über die Gewohnheiten der Fahrgäste erzählt.

Die Schule liegt in der nächstgrößeren Stadt. Der Weg nach Samtredia ist lang, wild und löchrig wie Omas Weichkäse. Was früher mal eine Ampel war, ist heute ein Vogelnest. Als Fahrer verlässt man sich hier auf seinen Instinkt. Wegen des einen oder anderen Schlaglochs haben wir alle im Bus schon die Bekanntschaft mit der Decke gemacht. Nach und nach steigen mehr Leute ein, der Bus füllt sich. Bei den letzten Haltestellen in der Stadt gibt es nicht einmal mehr genug Platz zum Stehen.

Endstation: Straßenbazar. Bitschiko Babua hält neben anderen ähnlich orangenen Bussen, die aus anderen Gegenden ankommen, manche etwas heller, andere etwas dunkler. Ich winke Bitschiko zu und steige aus. Jetzt noch der Weg vom überlaufenen Straßenbazar bis zu meiner kleinen Schule nahe dem Stadtzentrum, es ist ein abenteuerlicher Fußmarsch.

 

Ich kämpfe mich durch Marktstände. Verkäuferinnen preisen ihre Peraschki und Ponschiki an, süße und pikante russische Teigtaschen. Vorbei an Gemüse-, Obst- und Käseständen schlängle ich mich durch und in die Stadt hinein. Entlang der Straßen verlaufen die Abwassergräben, die größtenteils mit Algen zugewachsen und Heimat unzähliger Frösche sind. Ihr Quaken gehört genauso zu den Stadtgeräuschen wie das Rattern der Motorradrikschas, das Klappern der Marschrutkas, jene Kleinbus-Taxis, die ihre Kunden einsammeln, und das Brummen der Riesenbusse.

Ich passiere ein massives, hohes, heruntergekommenes Wohngebäude. Die Fassaden waren mal königsblau und weiß gewesen, hat mir meine Oma erzählt, aber die Farbe sieht man bloß noch hinter den großen rostigen Flecken hervorlugen. Zu besseren Zeiten war es ein Hotel, hat sie mir erklärt, heute leben Flüchtlinge drin.

»Flüchtlinge? Woher denn?«, fragte ich meine Oma.

»Aus unserem eigenen Land«, antwortete sie nachdenklich.

»Aber, Bebo«, sagte ich, »Flüchtling im eigenen Land, das gibt’s doch gar nicht.« Ich weiß zwar, dass meine andere Oma, die in Tiflis wohnt, ursprünglich aus Südossetien stammt, aber ich brachte das damals noch nicht mit dem Kaukasuskonflikt in Zusammenhang. »Und überhaupt«, sagte ich, »warum leben sie alle auf einem Haufen in einem alten Hotel und gehen nicht woanders hin?«

»Weil ihre Heimat in ihrer Region Abchasien ist, wie unsere hier in Imeretien. Sie wurden dort vertrieben und dürfen nicht mehr in ihre Häuser zurück, sie mussten alles zurücklassen und sind jetzt sehr arm. Deswegen leben sie nun gemeinsam hier und halten zusammen. Ihnen kann niemand helfen.«

Wir schwiegen und starrten die Fassade an.

»Können wir Ihnen nicht helfen, Bebo? Glaubst du, sie können jemals wieder nach Hause?«, fragte ich und zog an ihrem Arm.

»Ehhh«, seufzte sie laut und schaute mich eindringlich mit ihren großen blauen Augen an.

Dieses Ehhhh fällt mir seither jeden Tag ein, wenn ich an dem Flüchtlingshotel vorbeikomme. Dann stehe ich vor meiner Schule, die eher einer kleinen Militärbasis gleicht als einer Bildungseinrichtung. Man nennt sie die Russische Schule, und der Name ist Programm. Eilig schiebe ich mich mit den anderen Kindern in die Klasse. Wir sehen alle gleich aus in der obligatorischen Sowjet-Schulkleidung. Oberste Regel ist: Mädchen tragen Röcke, Jungs Hosen, das wird hier sehr ernst genommen. Zweite Regel: Im Unterricht wird ausschließlich Russisch gesprochen, das ist hier die Zweitsprache, die jeder können soll. Tatsächlich beherrscht sie auch jeder. Außer mir, ich kann nur Ungarisch.

In der Klasse sitzen alle steif aufrecht, die Hände auf dem Tisch, der Blick an die Tafel. Niemand bewegt sich. Die große Russischlehrerin mit dem massiven Körperbau, den blondierten zurückgesteckten Haaren und den grimmigen Gesichtsausdruck gibt jede Menge Hausübungen auf. Der alte Holzboden knirscht, wenn sie näherkommt und mein Kyrillisch kontrolliert. Das ist jetzt schon die dritte Schrift nach Georgisch, die ich lernen muss.

Die Klingel beißt die Anspannung durch und erlöst mich in die Pause. Zur Jause gibt es nur etwas bei der nächstbesten Peraschki-Verkäuferin außerhalb der Schule. Kantine kennt man hier keine, ebenso wenig wie Toiletten, was noch weit schlimmer ist. Für den äußersten Notfall bleibt ein winziges Häuschen neben der Schule, mit kaputtem Steinboden und ohne Türe. Da muss man es schon wirklich eilig haben. So gesehen ist der Schultag immer auch eine Art Wettrennen, kann man es aushalten oder nicht? Anfangs fand ich die Zustände unzumutbar. Aber so wie mit jeder Minute der Schultag kürzer wird, wird mit jedem Tag die Erinnerung an die andere Welt in Ungarn blasser.

Nach dem Unterricht gehe ich erst mal zu meiner absoluten Lieblings-Imbissbude in der Nähe der Schule und hole mir einen langen, knusprigen Chili-Kartoffel-Peraschki, den ich mit beiden Händen halten und direkt aus dem Papier mampfen muss. Dann geht’s zum traditionellen Tanzunterricht ins große Kulturhaus und danach zum Klavierunterricht ins Künstlerhaus, das so desolat ist, dass man die Klassen im Stockwerk darunter durch große Löcher im Boden sehen kann. Zuletzt mache ich mich auf den Weg zum Arbeitsplatz meiner Oma, wo sie immer schon auf mich wartet. Es ist der beste Teil des Tages.

Meine Oma ist jeden Morgen um vier Uhr auf den Beinen. Daheim kümmert sie sich um den Haushalt und das Vieh, dann arbeitet sie bis abends mit ihrem Frauen-Kollektiv in einer Einrichtung für Gesundheitsschutz und Schädlingsbekämpfung. Wenn ich den Raum betrete, platze ich immer in eine fröhliche Runde. Die Frauen arbeiten und tratschen, das gehört zusammen. Es sind sieben völlig unterschiedliche Frauen, die sich da um Bebo scharen. Lia, die Charismatische und meine Lieblingstante; Eteri, ihre ältere Schwiegermutter; Nino, die Cleverste; Meriko, die Süßeste; Mediko, die weise Apothekerin; Nana, meine fleißige Oma, die Person, die ich auf der Welt am meisten liebe; und jetzt auch ich, die Jüngste von allen. Sie sind seit ein paar Jahren unzertrennlich, die sechs Frauen, sie unterstützen sich gegenseitig, sind Nanas engste Freundinnen und nun auch meine.

Irgendwann wird mir natürlich trotzdem langweilig. Die Frauen sind ein ganzes Stück älter als ich, da decken sich die Interessen und Gesprächsthemen nicht völlig. Aber das macht nichts, ich schleiche mich mit meinen Hausübungen in das kleine Büro des Chefs, der selten da ist. Badri ist ein großer und schon sehr alter Mann mit grauweißen Haaren, einem mächtigen Schnurrbart, stets in olivfarbenem Anzug mit Hosenträgern und Fliege. Ich setze mich auf seinen riesigen Stuhl an seinem Holzschreibtisch. Jedes Mal, wenn ich hier sitze, starrt mich ein anderer Schnurrbartträger von einem eingerahmten Schwarz-Weiß-Foto aus an, ein gewisser Stalin. Inzwischen habe ich das Bild schon in einigen Häusern gesehen. Beliebter Typ, denke ich, beiße in mein Rosinenbulki und erledige nebenbei meine russischen Hausaufgaben, die mir zusehends besser von der Hand gehen.

Auf dem Weg zum Bus begleitet uns Meriko. Sie ist Omas beste Freundin, eine herzige, introvertierte und hilfsbereite Person, die gerne lacht und immer und überall einen korall-pinken Lippenstift trägt. Meriko wohnt in der Stadt, hilft Nana aber bei den Einkäufen. Hemdsärmelig schleppt sie die massiven Tierfuttersäcke in den Bus und verabschiedet sich. Ich sitze auf meinem Stammplatz über der Motorhaube neben Bitschiko Babua, er reserviert den Platz nun schon für mich. Er schenkt mir wieder sein breites Grinsen und ein paar Anekdoten, während er den orangen Bus in den Sonnenuntergang fährt.

Die vier Jahre in Georgien von 1998 bis 2002 waren eine Mischung aus harter Arbeit, jeder Menge Disziplin und der bedingungslosen Liebe meiner Familie für uns in einer Welt ohne jegliche Zukunft. Trotzdem lernte ich dafür. Neben Georgisch und Russisch konnte ich bald auch etwas Deutsch. Die Georgier lieben die Sprache, vor allern wegen der deutschen Lyrik, die vermutlich nirgends so viele Fans hat wie hier. Ich gab mir Mühe im Unterricht, und sie wurde belohnt. Ich schloss als Stufenbeste mit Auszeichnung an einer höheren georgischen Schule ab. Und dann schrieb ich einen Brief an den damaligen Präsidenten Eduard Schewardnadse. Ich bat um ein Stipendium, bekam aber nie eine Antwort.

Ich hatte mich an mein neues Zuhause gewöhnt. Es hatte einige Zeit gedauert, aber nun hatte ich das Gefühl, hier leben zu können. Ausgerechnet da stand eines Tages im Sommer 2002 plötzlich das Auto meiner Eltern vor der Haustür. Sie brachten interessante Neuigkeiten mit. Über ihr Studium in Tiflis hatte sich die Möglichkeit ergeben, an einer Uni in Deutschland weiterzustudieren. Wir hatten kaum Zeit, die Nachricht zu verdauen, es würde ziemlich bald losgehen, erzählte mein Vater bei einer kühlen Estragon-Limonade.

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