Buch lesen: «Madame Nina weiß alles»
Madame Nina:
Madame Nina weiß alles
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 edition a, Wien
Cover: JaeHee Lee
Gestaltung: Lucas Reisigl
Lektorat: Silvia Meister
ISBN 978-3-99001-241-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Ein Superstar am Bauernmarkt
In der Bar wurde es plötzlich still. Die angenehme Geräuschkulisse, das sanfte Plätschern der Gespräche, unterbrochen vom kurzem, hellen Lachen eines meiner Mädchen, war binnen Sekunden verebbt und einer fühlbar gespannten Ruhe gewichen. Gerade hatte ich zur Champagnerflasche gegriffen, um mir ein weiteres Glas Dom Pérignon einzuschenken, als mir das unpassende Schweigen bewusst wurde. In die Stille hinein stellte ich die Flasche zurück auf die Theke und sah auf.
»Was gibt es denn?«, fragte ich. Keines der Mädchen antwortete. »Los, los«, forderte ich sie auf, »macht weiter.«
Die Uhr ging auf Mitternacht an diesem Donnerstagabend Anfang der goldenen Neunzigerjahre in Wien. Eine gute Ära war das, der wirtschaftliche Aufschwung beinahe ungebrochen, noch regierte der Zeitgeist des »Alles ist möglich«. Dieser generell positiven Grundstimmung konnte auch der seit Tagen anhaltend fallende Regen keinen Abbruch tun. Und wenn Gäste Sorgen oder Stress hatten, gaben sie die Probleme samt ihrem Mantel bei der Eingangstüre meines Etablissements »Ninas Bar« ab. Das Unangenehme wurde nach draußen in die unfreundliche Nacht verbannt.
Hier bei mir durften sich die Herren für einige Stunden Urlaub von den Kümmernissen des Alltags nehmen, private oder berufliche Schwierigkeiten rückten in den Hintergrund.
Ab und zu erzählte ein Gast, den etwas bedrückte, einem Mädchen von seinen Problemen. Allerdings waren die Widrigkeiten durch das stimmige Ambiente der Bar weichgezeichnet, und die Herren sprachen über das, was sie beschäftigte, in anekdotenhaft verbrämter Weise. Schon allein dadurch wogen die Sorgen nicht mehr so schwer, jeder Kummer oder Ärger schien leichter und daher auch einfacher zu bewältigen. Wenn diese Gäste mein Etablissement verließen, hatten sie dank der Mädchen, die alle auch gute Zuhörerinnen waren, jede Menge seelischen Ballast abgeworfen.
Diese Art der Entspannung hat im Laufe der Jahre, da bin ich ganz sicher, vielen Gästen über private und berufliche Krisen hinweggeholfen.
Hier in der Bar war es stets gemütlich. Bei mir tauchten die Herren in eine Welt der Intimität und Lockerheit ein. Das gedämpfte Licht und der warme Schein der Kerzen aus den schweren Silberleuchtern, das exquisite plüschige, rote Mobiliar, die üppigen Stoffdrapierungen und meine stets wie Diven zurechtgemachten Mädchen schufen den Rahmen dieser Oase des Wohlfühlens. Bei mir sollten die Gäste amüsante Stunden in luxuriöser Atmosphäre und diskreter Behaglichkeit erleben.
In diesem ebenso noblen wie familiären Ambiente, auf das ich großen Wert legte, saß ich mit einigen Gästen an der Theke. Einige andere Herren hatten sich bereits mit Mädchen in eines der sechs Séparées zurückgezogen.
Es war ein typischer Donnerstagabend in meiner Bar. Um die dreißig Mädchen waren da und etwa vierzig bis fünfzig Gäste, bunt gemischt, vom Beamten bis zum Bauunternehmer. Der Donnerstag war in den Achtziger- und Neunzigerjahren traditionell gut fürs Geschäft, denn es war üblich, dass die Männer, die verheirateten und liierten, an diesem Tag »Ausgang« hatten, ihren sogenannten »Herrenabend« genossen. Auch in meinem Etablissement hatte der Donnerstag diese Bezeichnung.
Das Perlen der Gespräche hatte wieder eingesetzt, ich nahm also doch noch einen Schluck Champagner. Als ich das Glas abstellte, wanderte mein Blick durch die Bar und blieb bei den mit einem roten Teppich ausgelegten Stufen vor dem Eingang hängen.
Schlagartig wurde mir klar, was meine Mädchen gerade eben so fasziniert und die Gespräche zum Verstummen gebracht hatte. Es war ein Herr, der dort beim Entree stand, ein Mann mit einer Aura, die weit in den Raum reichte. Gewellte, dunkle, schulterlange Haare. Prägnante Gesichtszüge. Eine hohe Stirn mit starken Augenbrauen, darunter eine ausgeprägte Nase und schmale Lippen. Wer war das nur? Er kam mir bekannt vor. Hunderte Gesichter rasten durch meinen Kopf, doch keines deckte sich mit dem Aussehen dieses Gastes. Dabei hatte ich ein wirklich hervorragendes Gedächtnis, was die Besucher der Bar betraf. Noch nach vielen Jahren konnte ich mich an jeden von ihnen erinnern, an kleinste Details, die mir die Herren in Gesprächen anvertraut hatten. Vermutlich war diese Tatsache eines der Erfolgsgeheimnisse meines Etablissements. Auch wenn ein Gast zehn Jahre lang nicht da war, erkannte ich ihn sofort wieder und wusste alles, was er mir einst erzählt hatte. So konnte ich ihn wie einen alten Freund empfangen, der erst gestern zu Besuch war. Und den Herren vermittelte dies ein Gefühl der absoluten Vertrautheit und des Willkommenseins.
Aber der Mann, der noch immer bei der Eingangstür stand? Nein, an ihn erinnerte ich mich nicht. Ich konnte also ausschließen, dass er schon einmal hier gewesen war. Ich musste ihn woanders gesehen haben. Vielleicht in der Zeitung oder im Fernsehen? Aber ich konnte nicht einordnen, warum mir sein Aussehen so geläufig war.
Ich stand noch immer an der Theke und unterhielt mich mit einem Gast, einem Rechtsanwalt in mittleren Jahren. Gerade erzählte er mir von seinem Hund, davon, dass das arme Tier seit seiner Scheidung an Schnupfen litt. Und dass er das Leiden seines treuen, vierbeinigen Freundes nun mit Homöopathie zu bekämpfen gedachte. Doch jetzt musste der Rechtsanwalt warten.
»Herr Doktor, bitte entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen, ich will nur rasch unseren neuen Gast begrüßen.«
Ich füllte eine zweite Champagnerflöte, nahm die beiden Gläser und winkte ein Mädchen heran. Gemeinsam gingen wir auf den Herrn an der Treppe zu, ich voran, Julia hinter mir. Ich trug nicht nur den Champagner, sondern auch mein strahlendstes Lächeln. Dieses Strahlen war meine Rüstung, meine Uniform. Ich streifte es über wie den teuersten Pelz. Es hüllte mich ein und gab mir Sicherheit. Und kaum legte ich es an, versetzte es mich in eine Glücksstimmung. Wie eine Welle breitete sich meine gute Laune, mein Lachen, meine Herzlichkeit in der Bar aus und erreichte jeden meiner Gäste. Egal, ob die Herren ständige Besucher waren, wie der renommierte Rechtsanwalt, oder ob sie zum ersten Mal in mein Etablissement kamen, ich umfing sie mit meiner Fröhlichkeit. Ich konnte dieses Strahlen, diesen Glückszustand jederzeit abrufen, dennoch war daran nichts künstlich oder aufgesetzt. Denn es kam aus meinem Innersten, es war mein tiefes Bedürfnis, die Gäste damit zu umfangen, sie mit einer angenehmen Wärme zu umgeben. Egal, ob es mir gut oder schlecht ging, ob die Geschäfte großartig liefen oder dahindümpelten, mein Strahlen konnte ich jederzeit anknipsen.
Lache, Bajazzo, auch wenn dir zum Weinen ist, das war mein Motto. Eine Zeile, angelehnt an den Text aus der Oper »Pagliacci«, die ich schon immer verinnerlicht hatte. Dort singt der Bajazzo, der Clown: »Die Leute zahlen und wollen lachen hier … Verwandle in Witze die Schmerzen und die Tränen … Lache Bajazzo … Lache über den Schmerz, der das Herz dir vergiftet.« Hier in der Bar war ich der Bajazzo, der alle Sorgen weglachte.
»Herzlich willkommen, der Herr«, begrüßte ich also strahlend den fremden Mann an der Treppe. »Wie geht es Ihnen an diesem wunderschönen Abend?«
Julia bat ich: »Nimm dem Herrn doch bitte den Mantel ab.«
Gerne ließ er sich von ihr aus der langen Jacke helfen und nahm das Champagnerglas, das ich ihm anbot.
»Wenn ich mich nicht irre, sind Sie zum ersten Mal bei uns?«, fragte ich den mysteriösen Unbekannten.
»Es tut mir leid, ich spreche kein Deutsch«, antwortete er mir höflich auf Englisch.
Er war also Amerikaner. Ich hatte in meiner Jugend lange genug in den USA gelebt, um seinen Akzent sofort zu erkennen.
»Oh wie schön«, sagte ich. »Sie sind aus New York, nicht wahr?«
Er nickte. Zugleich spürte ich seine leichte Verwunderung über meine Frage. Vielleicht war es seine kurz in die Höhe gezogene Augenbraue, die mir dieses Gefühl vermittelte. War er so prominent, dass er davon ausging, jeder müsse ihn kennen? Fieberhaft dachte ich nach, wer er sein könnte. Zu gern hätte ich Julia zugeflüstert, dass sie mir mit dem Namen aushelfen soll, denn offensichtlich wusste sie ganz genau, um wen es sich da handelte. Doch Julia hatte nur Augen für den amerikanischen Herrn, sie war intensiv damit beschäftigt, ihn ehrfürchtig anzuschauen.
Eines wurde mir dadurch aber immerhin klar, der Mann musste aus dem Showgeschäft sein. Denn obwohl Julia, ein zwanzigjähriges Mädchen aus Oberösterreich, erst seit einigen Monaten bei mir in der Bar arbeitete, wusste ich bereits, dass sie ein eher begrenztes Wissen über Unternehmer und Politiker hatte.
Nun gut, dachte ich. Wenn der Herr aus der Showbranche kommt, dann ist er sicher kein Produzent oder Regisseur. Denn würde er hinter den Kulissen arbeiten, hätte Julia vermutlich keine Ahnung, dass der Mann berühmt ist. Da sie ihn aber ebenso intensiv wie offensichtlich anhimmelte, musste der Amerikaner als Musiker auf der Bühne stehen oder in Filmen zu sehen sein. Ein Popstar also? Oder ein Schauspieler? Ein Name fiel mir aber noch immer nicht ein.
»Machen Sie es sich bitte gemütlich«, sagte ich stattdessen zu dem Fremden und wies auf einen der freien Plätze an der Theke.
Es war für mich immer erfrischend, Englisch zu sprechen. Ich verband damit stets Erinnerungen an meine Zeit in Amerika. Obwohl diese Phase in den USA für mich ziemlich schwierig gewesen ist. Von meiner Heimat Kroatien kommend war ich damals zunächst in New York gelandet. Und wenn ein Wort als Überbegriff für meine Amerika-Zeit steht, dann ist es »Chaos«. Mit Chaos hatte alles begonnen und im Chaos hatte der USA-Aufenthalt geendet. Doch trotz aller Widrigkeiten habe ich aus dieser Zeit, von der ich Ihnen später noch ausführlich erzählen werde, etwas Wunderbares mitgenommen. Meine große Liebe für die offene, wenngleich auch ein wenig unverbindliche und oberflächliche Art der Amerikaner.
Abermals versuchte ich Blickkontakt mit Julia aufzunehmen. Ich wollte endlich das Rätsel um diesen Herrn lösen. Doch Julia war dermaßen hingerissen von unserem Gast, dass sie mich überhaupt nicht wahrnahm. Ihre grünen Augen blitzten ihn aufgeregt an, sie setzte ihre üppigen Rundungen in Szene, umschwirrte den Amerikaner wie ein aufgeregt flatternder draller Engel. Man konnte ahnen, dass sie so rasch wie möglich auf seinem Schoß landen wollte.
Die Vorstellung, die Julia da lieferte, war zwar sehenswert und schmeichelte dem Herrn sicher. Aber ich war nach wie vor in der Bredouille. Wie sollte ich mit jemandem gelöst plaudern, der davon ausging, dass ich genau wusste, wer er war und was ihn nach Wien geführt hatte? Der es vielleicht als Beleidigung empfand, wenn er erkannte, dass ich keine Ahnung hatte? Ich zog mich vorübergehend mit einer harmlosen Frage aus der Affäre.
»Wie gefällt Ihnen die Stadt?«, wollte ich von ihm wissen.
»Schön ist es hier«, antwortete er freundlich. »Aber ich habe bisher nicht viel von Wien gesehen. Wir drehen den ganzen Tag. Da bleibt nicht viel Zeit.«
Ein Schauspieler also. Immerhin ein Hinweis, der meinem Gedächtnis vielleicht doch noch auf die Sprünge helfen konnte. Mit dieser neuen Information im Hinterkopf betrachtete ich den amerikanischen Gast genauer. Ja, ich kannte dieses markant geschnittene Gesicht tatsächlich. Vielleicht trug er die Haare gewöhnlich anders? Die lange Mähne gehörte eventuell zu seiner Rolle. Ich versuchte, ihn mir mit einer anderen Frisur vorzustellen. Doch mein Erinnerungsvermögen versagte hartnäckig. Ich hatte noch immer keine Ahnung, wer da neben mir saß.
Das Gedränge um unseren prominenten Gast verschärfte sich zusehends. Jetzt buhlten neben Julia auch Emilija und Bianca um seine Aufmerksamkeit. Die zielstrebige Emilija, eine Rumänin, die ihr Image gern aufpolierte, indem sie sich als Mazedonierin ausgab, und die österreichische Jus- Studentin Bianca, die eine konservative Pagenfrisur trug, versuchten mit dem Schauspieler auf Tuchfühlung zu gehen.
Auch alle anderen Mädchen in der Bar schienen nur noch Augen für diesen einen Gast zu haben, jede schaute fasziniert in seine Richtung. In der Luft lag eine fast magische Spannung. Die ein wenig verrückte und überdrehte Bianca, die aber auch das klügste Mädchen war, erfasste die Situation instinktiv und brachte sie doppeldeutig auf den Punkt. »Einer für alle, alle für einen!«, rief sie den Schlachtruf der drei Musketiere und prostete unserem prominenten Gast mit ihrer Sektflöte zu.
Sie erntete lautes Gelächter. Die Atmosphäre entspannte sich in der allgemeinen Heiterkeit. Und auch ich konnte endlich aufatmen. Denn die scharfsinnige Bianca hatte mir das richtige Stichwort geliefert. Das letzte Puzzleteil fiel auf seinen Platz, ich hatte die Identität des Herrn gelüftet. Jetzt wusste ich, dass die langen Haare tatsächlich zu seiner Rolle gehörten. Der Mann, der neben mir an der Theke saß und meinen Mädchen den Kopf verdrehte, war Charlie Sheen, ein achtundzwanzigjähriger Hollywoodstar. Er war mir so bekannt vorgekommen, weil ich in der Zeitung gelesen hatte, dass er in und um Wien für das dreißig Millionen Dollar teure Remake des Alexandre-Dumas-Klassikers »Die drei Musketiere« vor der Kamera stand. Der Mantel-und-Degen-Film wartete mit Starbesetzung auf. Kiefer Sutherland spielte Athos, Chris O’Donnell D’Artagnan – und Charlie Sheen gab mit Aramis den Dritten im Bunde.
Langsam wurde mir das Aufsehen, das die Mädchen um unseren berühmten Gast aus Hollywood machten, zu viel. Ich hob die Hand und forderte sie mit einem Wink auf, zur Normalität zurückzukehren. Sie verstanden sofort, und rasch hatte sich die Betriebsamkeit wieder auf normalem Niveau eingependelt. So gehörte sich das. Schließlich besuchte uns nicht zum ersten Mal ein prominenter Gast. Meine Bar, »Ninas Bar«, war immerhin der nobelste Nachtclub der Stadt. Im Zentrum von Wien gelegen, in der Innenstadt nahe dem Stephansplatz, am Bauernmarkt. Und wenn anspruchsvollen Herren der Sinn nach einem ebenso diskreten wie niveauvollen Zeitvertreib stand, stießen sie rasch auf uns. Meine Bar, zu der auch ein kleines Restaurant gehörte, war ein beliebter Treffpunkt für Opernsänger, Schauspieler, Geschäftsmänner und Adelige. Und wenn internationale Stars nach Wien kamen, schauten einige von ihnen ebenfalls gerne bei uns vorbei.
Ich hatte die Mädchen ausreichend instruiert, wie solch hochkarätige Gäste zu behandeln sind – genauso wie jeder andere Herr, der zu uns in die Bar kam. Das war ein ungeschriebenes Gesetz, das in meinem Etablissement galt. Der Grund für meine strikte diesbezügliche Anweisung war simpel: Stars wie Charlie Sheen sollten hier in eine Atmosphäre der Privatheit eintauchen und nicht das Gefühl haben, wie auf dem roten Teppich bei einer Oscar-Verleihung im Rampenlicht zu stehen und die Rolle des glamourösen Stars spielen zu müssen. Ich hatte stets vermutet, dass dieser Teil des Prominentenlebens einigermaßen anstrengend für sie ist. In der Öffentlichkeit durften sie sich nie einen Fehler erlauben, weil die Lupe des Interesses ständig auf sie gerichtet war. Immer standen sie unter Beobachtung, verfolgt von den Medien und den begeisterten Fans. Deshalb war es mir wichtig, dass sie sich in meiner Bar wie zu Hause fühlten, weit weg von der Schattenseite ihrer Berühmtheit, abseits von den Strapazen ihrer Auftritte vor einem großen Publikum. Bei mir in der Bar sollten sie einfach nur Männer sein können, Herren, die erfolgreich waren und sich ein bisschen Genuss und Entspannung verdient hatten.
»Was hat Sie denn hierher zu uns geführt?«, fragte ich Charlie Sheen. Da war ich ganz Geschäftsfrau, ich interessierte mich trotz des hohen Ansehens, das meine Bar in Wien genoss, immer dafür, warum Gäste zu uns kamen. Ich wollte wissen, wer ihnen den Anstoß gegeben hatte, »Ninas Bar« zu besuchen.
»Ich wohne im Hotel Sacher«, erklärte mir Charlie Sheen. »Dort habe ich an der Rezeption gefragt, wohin ich in Wien gehen kann.«
Ich nickte. Schön zu hören, dachte ich. Wieder einmal hatte sich mein Konzept der Perfektion bezahlt gemacht. Ich achtete mit Argusaugen darauf, dass sich bei mir alle Gäste wohlfühlten und darauf, dass meine Mädchen ein erstklassiges Service boten. Denn ein zufriedener Gast war die beste Werbung. Schließlich lebten wir von Mundpropaganda. Und die machte vor den Pforten der Luxushotels nicht Halt. Die Portiers der Nobelherbergen kannten »Ninas Bar« aus der Zeitung und aus dem Fernsehen, und sie empfahlen mein Etablissement an ihre Gäste, sobald sie nach einer derartigen Lokalität gefragt wurden. Wenn die Herren dann bei mir in der Bar schöne Stunden erlebt hatten, bedankten sie sich im Hotel für den guten Tipp mit einem hohen Trinkgeld. Und die Portiers empfahlen »Ninas Bar« gern wieder. Wenn also ein Gast wie Charlie Sheen nach einem Nachtclub fragte, fiel dem Personal an der Rezeption als erste Adresse »Ninas Bar« ein. Voilà! So lief das. Auch im Sacher, obwohl ich die Portiers selbst gar nicht kannte.
Apropos Hotel Sacher, in dem Charlie Sheen während seiner Zeit in Wien residierte. Ich war ja stets begeistert vom Sacher, von dieser großartigen Hotel-Institution und seiner noblen Atmosphäre. Vor allem die vorzügliche Küche hat es mir immer angetan. Man konnte dort hervorragend speisen, nur das Beste und das Feinste. Und das Service war einmalig. Außerdem bekam man im Sacher in den Achtziger- und Neunzigerjahren noch jede Menge Hollywoodstars zu Gesicht, in der Roten Bar, in der Blauen Bar und im Restaurant.
In meiner Bar zeigte sich Charlie Sheen im Laufe der Nacht als ausnehmend angenehmer Gast. Er bestellte mehrere Flaschen Champagner und wählte schließlich, sehr zur Enttäuschung Julias, Biancas und Emilijas, Manuela für ein intimes Tête-à-Tête.
Manuela, die Glückliche, war ein Mädchen aus Mistelbach, einer niederösterreichischen Kleinstadt nördlich von Wien. Wie Bianca war sie Studentin, hatte allerdings die Fächer Theaterwissenschaften und Publizistik gewählt. Ihr Elternhaus konnte man durchaus als gut bürgerlich bezeichnen, und eigentlich wäre sie sicher auch ohne ihre Arbeit in der Bar finanziell durchs Studium gekommen. Allerdings hatte Manuela einen recht großen Hang zu luxuriösen Dingen.
Diesem Faible konnte sie nachgeben, weil sie bei mir gut im Geschäft war. Die Herren mochten sie, ihre langen blonden Haare, ihre kurvige Sanduhr-Figur und ihre blauen Augen, die gleichzeitig Unschuld versprachen und Erfahrung ahnen ließen.
Charlie Sheen nahm sie mit ins Séparée »Schwalbennest«. Ein edel ausgestattetes Zimmer mit großen, beleuchteten Spiegeln, teilweise schwarzen Marmorwänden und mit einem Jacuzzi mit goldenen Wasserhähnen, der von Goldstatuen umrahmt war. Seinen klingenden Namen trug der Raum, seit ein Gast ein kleines künstliches Nest mit Vögelchen aus Plastik mitgebracht hatte, das wir im Kronleuchter des Séparées platziert hatten. »Das ist jetzt mein Schwalbennest«, hatte der Herr damals gemeint.
Jetzt zeigte Charlie Sheen eine Vorliebe für dieses Zimmer.
Manuela erlebte dort mit ihm offenbar ihre Nacht der Nächte. Denn nachdem Charlie Sheen die Bar verlassen hatte, setzte sie sich zu uns und schäumte über vor begeisterter Redseligkeit. Er sei so toll gewesen, schwärmte sie. So aufmerksam. So einfühlsam. Die anderen Mädchen hingen an ihren Lippen, fasziniert von ihren Erzählungen. Man merkte ihnen an, dass sich in die Bewunderung auch ein Körnchen Eifersucht mischte. Denn jedes von ihnen wäre Charlie gern ins Séparée gefolgt und würde jetzt gern vom Erlebten berichten.
Es schien fast so, als meinten sie, durch die körperliche Liebe mit einem Star könnte sich dessen Ruhm auf sie übertragen.
»Meinst du, er kommt wieder?«, fragte mich Manuela mit sehnsuchtsvollem Blick schließlich.
Jetzt war es Zeit, mein Mädchen mit sanftem Nachdruck an eine unserer Grundregeln zu erinnern. »Unsere Gäste sind keine Dates, sondern Kunden«, wies ich sie zurecht. »Bitte denk gerade bei einem Herrn wie Charlie Sheen daran.«
»Schon klar«, antwortete sie, während sie sich gedankenverloren durch die blonden Haare strich und ihr verklärter Blick das Gegenteil sagte. »Aber meinst du, er kommt wieder? Meinst du, es hat ihm gefallen?«
Dass der Hollywoodstar durchaus zufrieden gewesen war, zeigte sich schon am nächsten Tag. Charlie Sheen besuchte uns abermals, diesmal hatte er einige Kollegen aus dem Film-Team dabei, die aber allesamt weniger bekannt waren als er. Er wurde während seines Wien-Aufenthaltes zum Stammgast der Bar. Kein Abend verstrich ohne seine Anwesenheit, ganze vier Wochen lang.
Damals ahnte wohl niemand, dass Charlie Sheens Leben in den folgenden Jahrzehnten eine veritable Achterbahnfahrt aufnehmen würde. Drogenmissbrauch und Totalabstürze katapultierten den Hollywoodstar weltweit in die Schlagzeilen, er bereicherte den amerikanischen Wortschatz gar um den Begriff »sheening«, der als Synonym für die Einnahme von Suchtpräparaten und den nachfolgenden Zusammenbruch steht. Für die Boulevardpresse war sein exzessives Leben ein stetig sprudelnder Quell von Sensationsstorys. Sie berichteten über ihn in Verbindung mit Callgirls und Escort-Agenturen sowie über seine Dreiecksbeziehung mit einer Pornodarstellerin und einem Model. Und er schadete mit seinen aggressiven Ausbrüchen in der Öffentlichkeit seiner Karriere. Im Jahr 2015 bekannte er schließlich über die Medien, dass er sich mit dem HIV-Virus infiziert hatte.
Mich machten die Negativ-Schlagzeilen über ihn stets ein bisschen traurig. Denn ich hatte ihn immer so vor Augen, wie ich ihn Anfang der goldenen Neunzigerjahre in der Bar erlebt hatte. Zwar war sein Ruf schon damals ein wenig ramponiert, aber für mich war er ein junger, netter Herr, lebensfroh, höflich und neugierig, für den das Leben nur das Beste bereitzuhalten schien.
Bescheidenheit zählte allerdings schon damals nicht zu seinen Tugenden. Dafür hatte ich aber Verständnis. Schon in jungen Jahren war er weltberühmt, und er war nicht der Erste, der eher schlecht als recht mit seinem rasanten Aufstieg, der damit einhergehenden Popularität und dem erlangten Reichtum umgehen konnte.
Bei jedem seiner Besuche in der Bar floss der Champagner in Strömen, er bestellte eine Flasche nach der anderen. Meist sieben oder acht an einem Abend, manchmal aber auch fünfzehn. Von sechstausendfünfhundert Schilling aufwärts war die Flasche zu haben, nach oben gab es eigentlich kein Limit. Und Charlie Sheen wählte nie den günstigsten Champagner. Er ließ sich seine Aufenthalte bei mir also einiges kosten. Die Rechnung bezahlte er immer mit Kreditkarte.
Wenn Charlie da war, saß er um die zwei Stunden mit den Mädchen zusammen, genoss die Gespräche und den Champagner, ehe er sich ins Séparée zurückzog.
»Ich liebe Frauen, weißt du«, verriet er mir. »Es geht mir nicht um ihre Haarfarbe oder um die Größe ihres Busens. Diese Dinge sind mir egal. Es geht mir immer nur um die Chemie, um dieses gewisse Etwas.«
Und offenbar hatte auch Charlie Sheen selbst dieses gewisse Etwas, dem sich die Mädchen nicht entziehen konnten. Schon ein paar Tage nach seinem ersten Besuch in der Bar entwickelte sich unter ihnen wieder ein richtiger Wettkampf um Charlies Gunst. Obwohl sie wussten, dass dieses Buhlen um seine Aufmerksamkeit ganz und gar unprofessionell war, schafften sie es nicht, angebrachte Distanz zu ihm zu halten. Er war wie ein Magnet. Und in gewisser Weise konnte ich ja auch nachvollziehen, was Charlie Sheen bei den Mädchen auslöste. Denn auch ich spürte die Faszination, die von diesem Herrn ausging.
Er sah nicht nur fantastisch aus, er war auch höflich, offen und umgänglich. Obwohl ein junger Amerikaner, benahm er sich wie ein Gentleman der alten Schule. Und er war unglaublich großzügig. Er lachte und scherzte viel, tanzte und sang mit uns. Er war ein Star, aber völlig allürenfrei. Welche Frau hätte sich dem Charme und Charisma eines solchen Mannes schon entziehen können?
Besonders freute ich mich, dass Charlie Sheen kein Geheimnis daraus machte, dass er regelmäßiger Gast in meiner Bar war. Während seiner Zeit in Wien sprach er sogar ganz offen in einem Interview über seine favorisierte abendliche Adresse: »In Wien kenne ich außer dem Würstelstand am Heumarkt und Madame Ninas Bar gar nichts.«
Das gefiel mir nicht nur wegen der Werbung, die er da für die Bar gemacht hatte. Nein, es war mir mindestens ebenso wichtig, dass Charlie Sheen damit zwischen den Zeilen wissen ließ, wie wohl er sich bei uns fühlte. Und das bestätigte mir, dass ich meine Arbeit gut und richtig machte. Ich war ja mit Leidenschaft eine Wiener Puffmutter, für die ihre Bar und das Umsorgen der Gäste den Mittelpunkt des Lebens darstellten.
Darin zeigt sich vielleicht auch, dass die Branche damals noch ganz anders tickte als heute. Jetzt geht es in erster Linie um schnellen Sex zu Dumpingpreisen. Jetzt zählen Extreme und Eskalation. Doch in den Neunzigerjahren ging es um Glanz, um Luxus, um Genuss, immer gepaart mit Menschlichkeit und Wärme. Diese ganz spezielle Mischung schuf im Nachtleben eine noble Stimmung, in der sich die Gäste kultivierter und disziplinierter als heute benahmen. Ach, was für eine schöne Zeit!
Die Mädchen waren jedenfalls ganz wild auf Charlie Sheen. Ihre Begeisterung flaute auch nicht ab, als er quasi schon Stammgast bei uns war. Immer wenn er zur Tür hereinkam, gab ihnen das einen richtigen Energieschub, da rauschte ein Cocktail aus Hormonen und Adrenalin durch ihre Adern, der sie zu aufgeregten Groupies machte, und der sie vor allem jede Regel der Professionalität vergessen ließ. »Ihr habt hier keine Rendezvous, die Männer zahlen für ihr Vergnügen«, ermahnte ich die Mädchen immer wieder. »Und das gilt auch für Charlie Sheen.«
Doch meine Predigt stieß auf taube Ohren. Mir war durchaus klar, was da ablief. Ich hätte jederzeit darauf gewettet, dass mindestens die Hälfte der Mädchen davon träumte, von Charlie Sheen als ständige Begleiterin auserkoren zu werden, die an seiner Seite ein herrliches Leben in Amerika führte.
Die Anbetung des prominenten Herrn trieb dann sogar sonderbare Blüten. Eines der Mädchen, eine rassige Italienerin mit einem Lockenkopf, überreichte ihm eines Abends einen hellblauen Plüsch-Elefanten.
Das Geschenk zeigte aber nicht die gewünschte Wirkung. Charlie zog sich nie mit ihr zurück. Wenn Manuela da war, fiel seine Wahl immer auf sie. Er schätzte es auch, wenn das »Schwalbennest« zur Verfügung stand. Denn auch darauf legte er Wert, nach Möglichkeit nicht nur dasselbe Mädchen, sondern auch dasselbe Zimmer. Ganz unflexibel war Charlie Sheen aber keineswegs. War das »Schwalbennest« besetzt, wich er in den »Roten Salon« aus, ein sehr großer, in Rot gehaltener Raum, unser VIP-Zimmer, ebenfalls mit Spiegeln, Marmor, Goldstatuen und einem Jacuzzi ausgestattet.
Charlie Sheen hatte auch kein Problem damit, ein anderes Mädchen zu wählen, wenn Manuela nicht in der Bar war. Dennoch brachte er selbst die erfahrene Manuela zum Träumen. Sie hing der Fantasie nach, Frau Sheen zu werden. Das klingt vermutlich äußerst naiv, allerdings hatte das Leben in der Bar gezeigt, dass sich Gäste immer wieder in ein Mädchen verliebten, und die Beziehung dann in einer Heirat mündete. Manche dieser Ehen gingen auch gut. Es waren ja, nicht zu vergessen, die Neunzigerjahre, und der Respekt zwischen Gästen und Mädchen war intakt, zumindest viel größer, als er heute zwischen den Damen des Gewerbes und ihren Kunden ist. Meine Mädchen waren keine Objekte, sie wurden von den Herren als Menschen mit all ihren Facetten wahrgenommen. Manchmal scherzte ich sogar, dass ich das Schild »Ninas Bar« eigentlich gegen eines mit der Aufschrift »Ninas Heiratsinstitut« austauschen sollte.
Aber Charlie Sheen würde für meine Mädchen unerreichbar bleiben, das wusste ich. Ich war ja immerhin fast fünfzig Jahre alt und alles andere als naiv. Ja, auch Manuela würde wohl nie Mrs. Sheen werden, auch wenn der junge Herr noch so nett war. Doch sie verfolgte mit ungebrochener Begeisterung alles, was in den Zeitungen über die Dreharbeiten zu lesen war und fragte ihn auch persönlich immer wieder nach allen Details. Als sich Charlies Wien-Aufenthalt schließlich dem Ende zuneigte, die Dreharbeiten vor dem Abschluss standen, war Manuela an fast jedem Abend in der Bar, sofern sie nicht gänzlich indisponiert war. Sie wollte die Hoffnung einfach nicht aufgeben.
Doch dann kam Charlie Sheen plötzlich nicht mehr. Eigentlich hatte er sich für einen letzten Abend angekündigt, doch an diesem erschien er nicht. So kam es, dass er sich nicht einmal verabschiedete. Er schickte auch keine Nachricht und keine Blumen, wie das manche Gäste taten. Er war einfach verschwunden.
Für die Mädchen war es ein schwerer Schlag, als wir aus den Medien erfuhren, dass der Film-Tross mit Charlie Sheen, Kiefer Sutherland, Chris O’Donnell und all den anderen netten Herren abgereist war. Vor allem Manuela traf diese Nachricht, geknickt saß sie an diesem Abend mit hängendem Kopf und traurigen Augen an der Theke.
Es war noch nicht spät, es war die ruhige Stunde, bevor die ersten Gäste eintrafen. Im Hintergrund lief leise Musik, wir ließen es immer langsam und entspannt angehen. Um diese Zeit kamen die Mädchen nach der Reihe in die Bar. Und es war immer eine große Freude, sie zu sehen. So schön hergerichtet, so gepflegt, so duftend, so gut geschminkt und die Frisur picobello. Alle trugen ihre Uniform. Einen engen schwarzen, transparenten Body, ein weißes Schürzchen, eine kleine weiße Schleife um den Hals und zierliche weiße Manschetten. Ein bisschen sahen sie aus wie Playboy-Bunnys, aber auch wie Kellnerinnen. Das passte, denn sie servierten ja auch die Drinks an die Tische und schenkten den Gästen hinter der Bar Champagner aus.