Ein Blockhaus in der Einsamkeit

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Wettkampf gegen den Winter


Herbstspaziergang

Wettkampf gegen den Winter

Tagish Lake, Anfang September 2005.

Jetzt sah unsere Cabin nicht mehr wie ein Holzkasten mit Moosbewuchs aus, sondern fast wie ein richtiges Blockhaus: Das untere Stockwerk war fertig. Fünf Rahmen warteten darauf, dass wir die gebraucht gekauften Fenster einsetzten, und die Öffnung für die Tür gähnte in der Wand. Aber erst hieß es, das Loft und Dach fertigzustellen.

„Okay, lass uns die Dinger hochschieben!“ Chris hievte das Ende eines der über vier Meter langen Stämme in die Höhe, die als Bodenbalken für den Loftfußboden dienen sollten. Wir hatten sie bereits vor Wochen geschält, damit sie gut austrocknen konnten und sich mittels Muskelkraft und Seilwinde mühelos in die Höhe befördern lassen würden.


Aus den Stämmen wird ein Haus

Ich kletterte mit Frank auf die Hauswand, um den Stamm in Empfang zu nehmen. „Kannst du den denn allein hochschieben?“, rief ich zu Chris hinunter.

„Ausprobieren. Seid ihr bereit?“ Er umklammerte den dünnen Stamm, ging in die Hocke und begann zu stemmen. „Uuuuaaaah!“

„Okay, weiter!“ Frank und ich griffen nach dem Holz und zogen.

„Wohin damit?“, keuchte ich.

„Quer über die Ecke legen!“

„Okay!“

Wir zogen und rückten, Chris stemmte, und mit einem Schwung hatten wir das Biest oben. Vorsichtig bewegten wir den Stamm, bis er quer über der Hauswandecke lag.

„Super!“ Chris' verschwitztes Gesicht tauchte unter mir auf der Leiter auf. „Ich geh schnell auf die andere Seite, und dann schieben wir ihn in Position.“

„Und das klappt, hier oben die Nut zum Verfugen anzuzeichnen und zu sägen?“ fragte ich. Kettensäge und Leiter waren mir als Kombination nicht so geheuer. Mangels Extrabretter und Zeit arbeiteten wir ohne Baugerüst.

„Klar, ist alles kein Problem.“ Chris war schon auf der gegenüberliegenden Wand und zerrte am Stamm.


Chris schraubt die Dachpaneele an

Langsam bewegten wir ihn über die Wand in die Position, in der wir ihn in die Balken verfugen wollten, die nach oben hin die Wand abschlossen. Er schien haargenau zu passen, nur ein kleines Stück noch – plötzlich schrien wir alle durcheinander. „Scheiße, pass auf!“

„Achtung, das wird knapp!“

„Der ist ja viel zu kurz!“

„Ich kann ihn nicht mehr halten!“

Der Stamm rutschte von den Wänden und knallte auf den Fußboden des unteren Stockwerks. Mit einem lauten Rumms schlug er gegen die Wand, auf der ich saß. Der ganze Bau erzitterte. Panisch klammerte ich mich fest. Der Stamm fiel ganz auf den Boden, die Wand vibrierte noch einen Moment, und dann war alles still.

„Verdammte Scheiße!“

„Seid ihr okay?“

„Wenigstens haben wir stabil gebaut.“ Nervöses Gelächter. Wenn der Stamm vorher abgerutscht wäre, als Chris noch darunter stand … Mit weichen Knien kletterte ich die Leiter hinunter und in die Cabin hinein. In der OSB-Fußbodenplatte, die der Stamm zuerst getroffen hatte, klaffte ein 20 Zentimeter langes Loch.

Chris legte mir den Arm um die Schultern. Ich schmiegte mich an ihn, konnte den Blick nicht von dem Loch in der OSB-Platte reißen. „Hat doch alles gehalten.“

„Das Ding ist zu kurz“, stellte Frank fest und griff nach dem Bandmaß. „Wie breit ist die Hütte?“

„14 Fuß“, sagten Chris und ich wie aus einem Mund. Da in Kanada alles Baumaterial in Fuß und Inches statt metrisch bemessen ist, fährt man besser damit, auch in diesen Dimensionen zu bauen.

Frank hakte das Maßband ans Stammende und zog es lang. „Exakt 14 Fuß.“ Er grinste schief. „Kein Wunder, dass das Ding runtergeknallt ist. Da ist nichts mehr mit Nut raussägen und verfugen! Dafür müsste der mindestens dreißig Zentimeter länger sein.“

Mir drehte sich der Magen um. Hatten wir sie etwa alle zu kurz gesägt? Wir sahen uns an und rannten zu dem Stapel präparierter Stämme, die als Fußbodenbohlen fürs Loft gedacht waren. Wortlos ging Frank mit dem Messband von Stamm zu Stamm und sagte schließlich: „Tja, die sind alle auf genau 14 Fuß zugesägt.“

„So eine verdammte Scheiße“, brüllte Chris los. „Die können wir alle wegschmeißen! Die ganze Arbeit umsonst!“

„Und wenn wir nochmals Bäume fällen?“, fragte ich.

„Wo denn? Das muss Nadelholz sein, weil es tragende Balken sind, und darf weder zu schlank sein wegen der großen Spanne, noch zu dick, weil wir sie sonst nicht hochkriegen“, protestierte Chris. „Selbst wenn wir passende Bäume auf dem Grundstück hätten – ohne erst auszutrocknen sind die viel zu schwer für uns! Und so lange können wir nicht warten!“

„Und wenn du stattdessen Bretter sägst?“, schlug Frank vor.

„Woraus denn? Die paar langen, dicken Stämme, die wir noch haben, brauchen wir alle, um die Bretter für den Dachstuhl herzustellen.“ Beklemmendes Schweigen.

„Und wenn wir auf das Loft verzichten, einfach jetzt das Dach draufsetzen?“, fragte ich.

„Dann zieht im Winter beim Heizen die ganze warme Luft nach oben und unterm Dach sind's 30 Grad, während wir unten im Kalten sitzen“, sagte Chris. „Da muss so oder so ein Boden eingezogen werden.“


Unser Loft muss isoliert werden

„Außerdem wollt ihr das oben doch als Schlafraum für die Jugendherberge nutzen, oder?“ Frank setzte sich auf den Stapel Baumstämme. Koyah, der ein feines Gespür für Missstimmung hatte, kam angetrottet und stupste mich tröstend an.

Chris starrte auf unser Bauwerk. „Also, was machen wir? Hier rumsitzen bringt nichts! Los, Leute, wir müssen fertigwerden!“

Gelbes und oranges Herbstlaub leuchtete um uns herum wie Warnlichter. Auf den Bergen lag bereits der erste Neuschnee. Ich seufzte. „Schlimmstenfalls bleiben wir den Winter über im Walltent. Einen Ofen haben wir ja drin.“

„Ich verbringe doch keinen ganzen Winter im Zelt!“ Chris kniete sich vor die Stämme und befingerte die Enden.

„Und ich geh nicht wieder nach Atlin zurück“, schnappte ich. „Ich will nicht den Winter über in deiner Cabin im Ort sitzen! Das hier ist jetzt mein Zuhause. Meins in Atlin hab ich verkauft.“

Plötzlich sprang Chris auf und lief zu unserem Werkzeugdepot neben der Baustelle. Mit einer Faust voller 40 Zentimeter langer Nägel kam er wieder. „Hier“, rief er triumphierend. „Wir nageln die Stämme in die Wand.“

„Nageln? Aber dann hängen die nur an den Nägeln! Die müssen ja nicht nur die OSB-Platten, sondern unsere ganzen Versorgungsmittel und das Bett inklusive uns tragen!“ Ich starrte die Nägel an. „Das wird doch nie im Leben halten!“

„Könnt ihr nicht Stützbalken daruntersetzen?“, fragte Frank.

„Irgendwie so was können wir noch machen“, sagte Chris. „Ist doch egal, Hauptsache, die Dinger halten erst mal und wir können mit dem oberen Stockwerk weitermachen. Wenn das Haus gedeckt ist und der Ofen drin ist, haben wir Zeit, uns was zu überlegen. Aber jetzt nicht!“

„Also gut. Nageln wir sie fest.“

Die Nägel hielten tatsächlich. Angetrieben vom bunt leuchtenden Herbstlaub und dem Neuschnee auf den Bergen, der sich stetig in die Baumgrenze hinunterarbeitete, bauten wir das Loft in Rekordzeit. Natürlich waren die Wände nur halbhoch, aber inzwischen ging uns die Arbeit auch leichter und schneller von der Hand. In den letzten Wochen waren wir nicht nur zu Muskelpaketen geworden, sondern hatten auch die Tücken jedes einzelnen Vorgangs in- und auswendig gelernt. Sobald es kompliziert wurde, riefen Chris und ich nach Frank, der mit einer Engelsgeduld und viel Konzentration auch der schwierigsten Aufgaben Herr wurde.


Unser Blockhaus ist noch vor dem Winter fertig geworden

Ende September, kurz bevor Frank nach Deutschland zurückfliegen musste, war das Dach fertig gedeckt und der Ofen installiert. Nicht nur das Haus war fertig, sondern wir auch: Je näher der Winter rückte, desto mehr hatte Chris uns bei der Arbeit vorangetrieben. Ich war das Wildnisleben zu dritt herzlich leid, bei dem es durch unseren selbstgemachten Stress und die Isolation des Waldes immer wieder zu Spannungen kam.

Es war eine Ausnahmesituation für uns alle gewesen. Chris hatte sich nicht nur dafür verantwortlich gefühlt, dass wir die Cabin innerhalb von drei Monaten fertigstellten. Ihm war auch wichtig, dass Frank trotz der vielen Arbeit eine Art Urlaub bei uns hatte – und Frank war in der unbekannten Wildnis mit ihren Bären und weglosen Wäldern nur ungern allein.


Innen ist noch alles ein Provisorium

Auf dem Bau arbeitete ich wesentlich lieber mit ihm als dem ständig aufbrausenden Chris zusammen, aber gerade darum fehlten mir in den drei stressvollen Monaten umso mehr entspannte Momente der Zweisamkeit mit meinem Freund. Wir waren alle erleichtert, als nicht nur das Bauen an der Cabin endlich ein Ende hatte, sondern auch unser Leben als Dreiergespann in der Wildnis. Das Kennenlernen der Einsamkeit konnte jetzt beginnen.

 

Herbst in der Wildnis

„Verdammt noch mal!“ Fluchend drückte ich gegen die nadeligen Äste des verfilzten Tannendickichts. Chris hatte ich schon vor Minuten aus den Augen verloren. Der Fetzen Himmel, den die Bäume freiließen, war bleigrau, und weder Berggipfel noch die Sonne zeigten sich als Richtungsweiser. Mein Herz pochte in meiner Kehle. Ich hatte keine Ahnung, wo zum Teufel ich eigentlich war und in welche Richtung es zu unserem Blockhaus ging. Unsere Erkundungsgänge im Herbstwald endeten fast immer so: in einer Sackgasse aus dichtestem Gesträuch oder mitten im Sumpf, und mit der brennenden Frage, wo genau wir uns überhaupt befanden. So viel zum Thema leicht zu durchwandernder Mischwald.

„Sweetie?!“ Angespannt lauschte ich. Die Hunde blieben stehen und horchten ebenfalls.

„Hier!“, kam es dumpf von links, irgendwo zwischen den Bäumen. „Ist es dahinten besser zu laufen?“, rief ich und spürte die momentane Angst von mir abfallen, dass ich mich nicht nur verlaufen, sondern auch noch Chris im Wald verloren hatte. „Hier ist alles komplett dicht!“

„Warte, ich komme!“

Hektisch nestelte ich in meinem Rucksack nach dem Kompass. Schritte knacksten, und dann stand Chris vor mir, die Mütze und Schultern mit Blättern und kleinen Zweigen bestreut. Er hatte sein GPS in der Hand. „Wir sind hier schon richtig“, sagte er und tippte auf den kleinen Bildschirm des Geräts. „Aber wir müssten doch schon längst den See sehen“, protestierte ich. „Nein, wir kommen bloß zu langsam voran. Jetzt haben wir für 500 Meter geschlagene zwanzig Minuten gebraucht!“

Blizzard sah mich an und ging ein paar Schritte, blieb stehen und blickte mich wieder an. „Ja, ich weiß, Blizzy, wir wollen nach Hause!“ Er ging gemessenen Schrittes weiter in seine eingeschlagene Richtung und sah sich erneut um.

„Du, ich glaub, er will uns nach Hause führen“, sagte ich zu Chris und zeigte auf meinen Hund.

„Die Richtung stimmt schon ungefähr, aber woher soll er den Weg wissen? Wir sind hier ja noch nie gewesen.“

Blizzard und ich tauschten einen langen Blick aus. Er war der Leithund meines kleinen Rudels, und ich hatte ihn erst als erwachsenen Hund adoptiert. Im Reservat der Tlingit geboren, war er bei einem weißen Alkoholiker aufgewachsen, der in einer grob zusammengezimmerten Hütte im Wald hauste und sich eines Tages bei einer illegalen Grabung in einem Minenschaft in die Luft gesprengt hatte. Blizzard kam mir vor, als hätte er in seinem Leben schon alles gesehen.

„Vielleicht weiß er es aber“, sagte ich. „In Atlin habe ich doch immer zu den Hunden 'let's go back' gesagt, wenn ich auf Spaziergängen wieder umgedreht bin.“

„Den gleichen Weg zurückgehen will ich aber nicht unbedingt“, meinte Chris und pflückte sich ein paar Tannennadeln von der Jacke.


Blizzard kennt den Weg nach Hause

„Blizzard, let's go back.“ Ich nickte meinem Hund zu, der mich prüfend ansah. Er machte ein paar Schritte und schaute sich nach mir um. „Komm, wir folgen Blizzy. So ist es fein, let's go back!“

Er setzte sich wieder in Bewegung, und Silas, Koyah, Chris und ich folgten ihm aus dem Dickicht heraus in den offeneren Pappelwald.

Chris starrte auf sein GPS. „Du, der geht genau richtig! Das ist der direkte Weg!“

„Siehst du, er weiß es einfach.“

„Aber wie? Vielleicht kann er Rauch vom Ofen riechen?“

„Aber der Wind geht doch in die andere Richtung.“

Hin und wieder vergewisserte sich Blizzard, dass ihm sein Gefolge noch auf den Fersen war. Unbeirrt, ohne zu wittern oder anzuhalten, schritt er langsam voran, sodass auch wir Zweibeiner mithalten konnten.

„Ist ja der Hammer“, brummelte Chris. „Haargenau auf Kurs – durch eine völlig fremde Gegend!“

Aufgeregt steckte ich meinen Kompass weg. Das war es, genau das war es, das ich lernen wollte: Den Wald nicht als ein Hindernis zum Durchqueren wahrnehmen, sondern sich darauf einlassen können; mit meinen Tieren zu einem Team verwachsen und der Natur näher kommen, als ich es bisher gekonnt hatte. Wie würde es wohl in ein paar Jahren sein, wenn ich nicht nur den Wald, sondern hoffentlich auch das Leben der Wildtiere besser kannte?

Baumstümpfe leuchteten hell aus dem Unterholz – hier hatten wir gefällt. Es ging nun stetig bergab durch lichtes Weiden- und Beerengestrüpp, bis wir kurz darauf auf der Wiese hinter unserem Blockhaus standen. Durch die herbstgelben Bäume leuchteten der See und die schneebedeckten Berge.

„Tja, das GPS brauch ich anscheinend nicht mehr“, sagte Chris und steckte es weg. „Oder ob das Zufall war?“

„Glaube ich nicht, der weiß das irgendwie. Fein, Blizzy, braver Junge“, lobte ich und wuschelte ihm durch sein dichtes Fell. Er quittierte die Aufmerksamkeit mit einem kurzen Schwanzwedeln – wäre er ein Mensch, hätte er wohl mit den Achseln gezuckt. So viel Aufregung um so etwas Selbstverständliches! Aber ich fand es aufregend. Nicht nur unser mühsames Umherlaufen im Wald und das Entdecken von bisher unbekannten Fähigkeiten meines Hundes, sondern auch jedes Mal das Heimkommen zu unserem spartanischen Blockhaus.

In der Cabin sah es noch immer wild aus. Chris und ich hatten es in einem Anfall von Euphorie geschafft, den Umzug vom Zeltlager ins Haus an einem einzigen Tag zu bewerkstelligen. Mit Schubkarren hatten wir unsere Berge an Essensvorräten, Kleidung, Hundefutter, Geschirr, Öllampen und Büchern knapp 300 Meter durch den Pappelwald, dann quer über die Wildwiese und am Rande des Fichtenwäldchens entlang zum Haus befördert.

„Mit ein paar Regalen hätten wir mehr Platz“, stellte ich fest und setzte mich auf den Boden zu den Hunden. Bisher beschränkte sich unser Mobiliar auf einen Sessel und zwei Campingklappstühle, eine Plastikkiste als Tisch und Isomatten als Bett.

„Ich säge kein einziges Brett mehr“, stöhnte Chris. „Den Campingkocher stellen wir einfach auf das kleine Fertigregal, damit hat sich die Küchenanrichte, und wenn ich die letzte Bootsfahrt vor dem Winter nach Atlin mache, gucke ich mal, ob nicht irgendwer im Dorf ein altes Sofa loswerden will.“

„Klingt gut.“ Ich lehnte meinen Kopf an die Wand, von der ich nicht nur jeden Baumstamm, sondern auch jede verpfuschte Nut kannte, und schloss die Augen. „Du, das mache ich jetzt öfter, mich mit den Hunden im Wald verlaufen und dann von Blizzy zurückführen lassen! Das ist so ein tolles Gefühl, sich einfach völlig seinem Hund anzuvertrauen.“

„Na, ob er das jedes Mal schafft?“

„Oh, bestimmt – ich hatte ihnen das doch in Atlin mehr oder weniger beigebracht, weil ich beim Umdrehen immer ‚let’s go back‘ gesagt habe. Auf demselben Weg zurückführen könnte er mich auf Befehl hin sicher, aber dass er einfach die direkte Route nimmt – wow. Und den Kompass und die ganze Notausrüstung habe ich ja zur Sicherheit immer dabei. Ich glaube, wir müssen uns viel mehr von der Vegetation und Unterholzbeschaffenheit leiten lassen, statt stur auf unserm Kurs bleiben zu wollen.“


Herbstfarben

Chris setzte sich neben mich und lehnte sich an mich. „Aber dann kommen wir nicht da an, wo wir eigentlich hin wollen!“

„Vielleicht muss man dann eben immer mal wieder den Kurs korrigieren oder so. Blizzy hat uns doch eine Strecke gefunden, die ganz gut zu gehen war und trotzdem in die richtige Richtung ging.“

„Nun haben wir ja Zeit für so was.“

„Mhm. Schön, dass du diesen Winter hierbleibst!“ Chris war sonst meist für einige Wintermonate unterwegs auf Reisen, um über den Atliner Tellerrand hinausblicken zu können und neue Länder und Menschen kennenzulernen. Mich störte das nicht weiter, ich war gern allein – aber für zumindest diesen ersten Wildniswinter hatte ich mein Veto gegen sein Reisefieber eingelegt. Wobei ich es mir für die Zukunft spannend vorstellte, dann monatelang ohne jegliche menschliche Gesellschaft und von der Welt abgeschnitten im Wald zu sein.

„Ja, finde ich auch“, sagte Chris.

Aber … setzte ich in Gedanken fort und grinste.

„Aber auf die Dauer – ich muss einfach immer mal wieder raus. Etwas Abwechslung haben und neue Leute treffen.“ Chris sah besorgt aus.

„Ja, das weiß ich.“ Ich streichelte Blizzards samtiges Ohr. „Ist doch okay, von mir aus kannst du in Zukunft ja wieder auf Reisen gehen. Wir sind jetzt schließlich den ganzen Rest des Jahres ständig zusammen, vermutlich würden wir uns mit der Zeit auf den Geist gehen – und ich stelle mir das toll vor, hier ganz allein in der Wildnis zu sein. Nur das Land, die Hunde und ich … “

Teil 2: Leben in der Einsamkeit

Allein


Der Winter steht vor der Tür

Allein

Sechs Jahre später. Tagish Lake, 25. Oktober: 1 Grad, Schneefall.

Unruhig kauerte ich im Loft neben dem Funkgerät. Draußen fiel unablässig Schnee in den Gletschersee und wurde hungrig vom graublauen Wasser verschlungen, das ihn mitnahm auf seine lange Reise in die Beringsee. Bleierne Wolken hatten die Berge vollkommen ausgelöscht. Einsam kam es mir vor, wie jeden Spätherbst, wenn Chris für dreieinhalb Monate auf Reisen ging. Obwohl ich mich jedes Mal auf das Alleinsein freute, war die Umstellung von intensiver Zweisamkeit auf intensive Einsamkeit nie ganz einfach – trotz der inzwischen vier Hunde, die mir gute Gesellschaft waren.


Ein letztes Funkgespräch mit Chris

Ich drehte am Lautsprecherknopf. Schon nach drei Uhr; bis zu seinem Abflug nach Südamerika war Chris in Atlin und wollte sich noch einmal melden. Aber bisher herrschte Funkstille. Endlich tönte seine Stimme durch das Loft: „Raven Hill, Raven Hill. Como Lake.“

„Hey, wie geht’s?“, fragte ich. Jegliche Gefühle von Einsamkeit waren plötzlich verflogen.

„Prima.“ Ich hörte das Lächeln in Chris' Stimme. „Und bei dir, alles in Ordnung?“

„Ja. Es hat gerade angefangen, zu schneien. Warst du –“ Meine Worte gingen plötzlich in erbostem Gebell unter. „Du, warte, da ist was, ich muss schnell die Hunde rufen!“

Ich warf das Mikrofon hin und kletterte schnell die steile Treppe in unsere Wohnküche hinunter. Gellend pfeifend lief ich an Koyah und Blizzard, die auf ihren Decken lagen, vorbei zur Tür. Alt und schwerhörig waren die beiden inzwischen geworden, aber draußen kläfften Silas und unser junger Jagdhund Moldy ohne Unterlass.

„Silas! Moldy, komm!“, rief ich und steckte den Kopf gerade rechtzeitig hinaus, um eine Elchkuh mit zwei Kälbern unter lautem Ästeknacken aus dem Wald hervorbrechen zu sehen. Schnee- und Erdklumpen, von Elchhufen aufgeschleudert, prasselten auf die wild hinterherjagenden Hunde herab. Verdammt noch mal, seid ihr taub?

Wütend pfiff ich mit der Hundepfeife. Endlich machte Moldy kehrt und kam eilig zurückgelaufen, beflügelt von seinen im Takt wippenden Schlappohren. Wie ein einziges Tier drehten die Elche ab, den Hügel hoch, ein verwischter Fleck von braun-schwarzem Fell und einer verwirrenden Vielzahl hellsockiger, langer Beine. Hochbeinig rennend, mit steil gereckten Hälsen, erreichten sie die Anhöhe. Die kurzen Mähnenhaare des Muttertieres waren drohend gesträubt. „Si-las! Komm!“, brüllte ich, und nach einem letzten aufgebrachten Blick zu den Eindringlingen bequemte er sich, umzukehren. Die kleine Truppe Elche machte am Wiesenrand halt. Langohrig sah die Kuh zu uns hinab.


Elchkuh mit Zwillingen

 

Während ich die beiden Elchjäger in die Cabin scheuchte, zog ich mir aufgeregt meine Jacke an. „Los, flott, flott. So ist brav, rein jetzt.“ Blizzard und Koyah, die den Grund für den Lärm verpasst hatten, drängelten sich interessiert an meine Beine. „Nein, ihr bleibt alle drinnen.“

Sollte ich Chris am Funk schnell Bescheid sagen? Ach was. Nur kurz nachsehen, bevor die Tiere verschwanden. Zwillingskälber! Dort oben stand er noch, mein Elchbesuch.

Vorsichtig stapfte ich den Pfad hoch. Die Elchkuh behielt mich genau im Visier, eines der Kälber an ihrer Seite, während sich das andere hinter ihr versteckt hielt. Die Kälber waren jetzt, im Alter von fünf, sechs Monaten, bereits so groß wie ein mittleres Pony. Im Gegensatz zu den bei Begegnungen mit Menschen und Hunden meist recht stoischen Elchkühen waren die Kälber nervös; verständlich, liefen sie doch ein weitaus größeres Risiko, von Bären und Wölfen gerissen zu werden.

Gute hundert Meter vor den Tieren blieb ich stehen. Große Schneeflocken schwebten träumerisch herab. Die Elchkuh wandte ihren ungeschlachten Kopf nach links, zupfte an einer Weide und brach mit einem kurzen Kopfnicken den Endtrieb eines dünnen, kahlen Zweiges ab. Kauend schaute sie mich an.

„Tut mir leid wegen der Hunde. Die hatten sich wohl auch erschreckt. Zwei Babys hast du! Bist aber eine tolle Mama. Und so eine Schöne!“ Die langen Ohren, deren cremefarbenes Innenfell nach außen hin mit einer feinen Linie schwarzer Haare abgegrenzt war, spitzten sich. Erleichtert nahm ich die damit ausgedrückte Wachsamkeit und Interesse wahr – bei angelegten Ohren und einem vorgestreckten, gesenkten Kopf machte man sich besser davon. Ihr Mähnenfell legte sich langsam wieder flach, getüpfelt mit darin verfangenen Schneeflocken. Anscheinend hatte ihr die Hundebegegnung nicht nachhaltig die Laune verdorben. Eines der Kälber versuchte sich hinter ihr unsichtbar zu machen, indem es sich näher an sie drängte, während das andere mich skeptisch beäugte.


Elchkuh und Kalb

„Na, ihr? Ganz schön groß seid ihr schon. Ist alles okay.“ Fröstelnd verschränkte ich meine Arme vor der Brust und trat auf der Stelle. Schade, ich hätte gerne gewusst, welchen Geschlechts die beiden Kälber waren, aber konnte es von hier aus nicht erkennen. Doch ich wollte sie nicht weiter bedrängen – mit etwas Glück würden sie noch eine Weile in der Gegend bleiben. Chris fragte sich inzwischen sicher schon, was geschehen war, fiel mir ein.

„Dann fresst erst mal was auf den Schreck hin. Ich geh jetzt auch wieder.“ Ich wandte mich um und hastete an unserem mannshohen Stapel Feuerholz vorbei zur Cabin zurück.

Die Kanalanzeige des Funkgeräts glühte mir zwischen den Essensvorräten entgegen. „Chris? Bist du noch dran?“

„Ja, was war denn los? Du warst so lange weg.“

„Drei Elche! Eine Kuh mit Zwillingen, direkt bei der Cabin“, sagte ich atemlos und warf meine Jacke aufs Bett. „Ich nehme mal an, dass die Hunde gehört haben, wie sie vom See hochgekommen sind. Mensch, hier ist was los!“ Ich blies mir eine Haarsträhne von der Stirn und lehnte mich gegen einen Sack Reis. Schneewasser lief von meinen Stiefelsohlen langsam auf die Spargeldosen zu. Ich zog die Gummistiefel aus und schob sie zum Treppenaufgang hin. „Da siehst du mal, was du alles verpasst!“

„Ja, ja, das brauchst du mir gar nicht extra zu sagen!“ Chris seufzte. „Irgendwie habe ich gerade sowieso kaum Lust wegzufahren. Ist es wirklich okay, dass du wieder so lange allein bist?“

Bekam er nun plötzlich Gewissensbisse? Unwahrscheinlich – denn weswegen? Mir gefiel es doch gut, das Alleinsein. Ich rückte näher ans Funkgerät. „Ah ja, klar. Du weißt doch, es ist so ein Abtauchen in eine ganz andere Welt. Hast du die nächsten Tage in Atlin noch ein volles Programm?“

Chris stöhnte. „Ja, ganz schön. Ich muss gleich sehen, dass ich ein paar Sperrholzplatten organisiere, um das Jetboot schneesicher einzupacken. Wenigstens hat's gut geklappt, es aus dem Wasser zu ziehen – da fing es gerade erst an, zu schneien. Heute Abend bin ich bei Wayne und Cindy zum Essen eingeladen, morgen bei Ann – und Montag geht ja schon der Flug. Und wie sieht deine Planung aus?“

Darauf, dass er unsere Freunde sah, war ich doch etwas neidisch. Seit Chris gestern über die Seen nach Atlin gefahren war, hatte er nicht nur mit einer ganzen Handvoll Menschen gesprochen, sondern sogar welche gesehen! Ich dagegen war das letzte Mal vor zwei Monaten im Dorf gewesen und plante auch nicht, vor dem Sommer wieder hinzufahren. Meine Ausflüge in die Zivilisation waren auf zwei kurze Exkursionen pro Jahr geschrumpft; ich war dem Wildnisleben inzwischen mit Haut und Haaren verfallen. Klein kam mir meine Welt vor.

„Och … Ich denke, ich gehe noch mal raus, vielleicht sind die Elche ja noch da.“


Die Berge sind bereits verschneit

„Gut, ich mach mich jetzt besser auf, das Sperrholz zu besorgen, bevor es dunkel wird – sollen wir morgen nochmals funken?“

„Okay. Gleiche Zeit?“

„Ja, das sollte gehen. Dann pass auf dich auf und grüß mir die Elche, ja? Ich liebe dich, Sweetie!“

Sagt der das doch tatsächlich über den öffentlichen Funk! Na, wieso eigentlich auch nicht?

„Bis morgen dann. Ich lieb dich auch. Raven Hill clear.“

„Como Lake out.“

Ich stellte das Funkgerät ab und stieg glücklich und beschwingt durch das Gespräch die Stiege hinunter. Da zog er hin, mein Freund, sich unter die Menschen zu mischen und seine sozialen Kontakte zu pflegen. Sollte er doch! Nein, hinaus in die Menschenwelt zog mich inzwischen kaum noch etwas. Fremd, irgendwie unverständlich waren mir die Menschen geworden, deren Leben ungleich facettenreicher als das meine war; die täglich Dutzende, sogar Hunderte anderer Menschen sahen, sich mit ihnen arrangieren mussten; die Arbeitskollegen, Kinder und Chefs hatten, Freunde, die sie mal eben so sehen konnten. Über was konnte ich mit ihnen noch groß reden? Im Laufe der sechs Jahre, die seit dem Bau der Cabin vergangen waren, hatten sich Elche, Schnee, Bären, Bäume und Eis zu meinen Themen entwickelt.

„Wollt ihr mit rauskommen?“

Eine rhetorische Frage. Die vier Hunde waren sofort auf den Beinen und schwänzelten aufgeregt um mich herum. Ich legte Silas und Moldy ihre Teletakthalsbänder an, die uns unter den Elchen, Stachelschweinen, Wölfen und Bären viele Sorgen und potenzielle Tierarztkosten ersparten: Falls der Jagdinstinkt ihr Hirn einmal ausschaltete, kamen unsere auf den fein regulierbaren Elektroimpuls trainierten Hunde sofort.


Moldy

Mir dagegen schnallte ich das Bärenspray um, dazu kamen noch der übliche Tagesrucksack mit dem Notpeilsender und den Erste-Hilfe-Sachen, sodass ich für alles von problematischen Tierbegegnungen bis zu Unfällen abseits der Blockhütte gut gerüstet war. Fliegender Händler, die Wildnisversion – so kam ich mir mit den ganzen Sachen vor. Ich sah auf die von den Schneeflocken verschleierten Zitterpappeln und den wintergrauen See hinaus. Schneller und dichter fiel der Schnee, verwischte das Tageslicht zu einer verfrühten Dämmerung, zog meine Welt noch enger zusammen, als sie sowieso schon war. Bevor ich die Hunde hinausließ, ging ich allein den Pfad hoch und schaute nach den Elchen – aber sie waren nirgendwo mehr zu sehen. Ihre Spuren führten von unserem Grundstück fort.

„Silas, bei Fuß! Moldy!“ Enttäuscht lotste ich die nach der Elchfamilie schnuppernden Hunde in den Pappelwald hinein. Für das nächste Vierteljahr würde ich nicht mehr viele Lebewesen zu Gesicht bekommen, die größer als ein Hund waren. Tierbegegnungen waren mir unsagbar wertvoll geworden.

Ich bohrte meine Hände tiefer in die Jackentaschen. Nach dem Funkgespräch mit Chris, dem Hundegebell und der Aufregung mit den Elchen kam mir der Wald so still vor, als hielte er den Atem an. Eine leichte Brise trug den intensiven Nadelbaumgeruch einer Tannengruppe zu mir herüber. Nichts schien sich in dieser Einsamkeit zu bewegen, außer mir und den Hunden. Plötzlich schweiften alle vier vom Pfad ins Gebüsch ab, ließen kleine Wolken Neuschnee von den Weidensträuchern stieben.

Erregt bebten die Hundenasen über eine frische Spur im Schnee. Am Rande unseres Pfades fand ich einen unversehrten Abdruck, der allerdings von keinem Elch herrührte. Eine ovale Mulde in Handgröße war in den Schnee gepresst: Ein Bär! Ähnlich wie ein breit ausgetretener, menschlicher Fuß sah die Fährte aus, mit einem kleinen Gestirn von fünf Krallen gekrönt. Sogar die Falten der Fußsohle waren zart im Schnee abgezeichnet. Ich legte meine Hand in den Abdruck der nicht viel größeren Pranke. In weiten Schlenkern verlor sich die Spur im Wald. Nur das Hecheln der Hunde zerschnitt die Stille.


Bärenspur im Schnee

„Ein Schwarzbär“, sagte ich leise und fühlte mich beschenkt – es war doch nicht so einsam. Erst die Elche, und nun war ein Bär in der Nachbarschaft. „Na, dann lasst uns mal sehen, wo er hingelaufen ist. Bei Fuß. Fuß!“

Ich wischte meine schneefeuchte Hand an der Fleecehose ab und begann mit den Hunden der Bärenfährte zu folgen. Die knorrigen Äste der Fichten ließen immer wieder einen Teil ihrer kalten Ladung in meinen Jackenkragen fallen, als ich mich unter ihnen hindurchwand. Über umgestürzte Bäume war auch der Bär geklettert: Die Schleifspur seines Hinterteils zog sich zwischen den Tatzenabdrücken über ein paar besonders dicke, quer liegende Stämme. In dem zunehmend moorigen Gelände lehnten die verkümmerten Fichten trunken aneinander, die schwärzlichen Pfützen darunter waren mit hauchdünnem Eis versiegelt. Fahlgelbes Sumpfgras ragte elegant aus dem Schnee und strich gegen meine Beine.