Die Ecke von gestern

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Nicole Krieg

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Inhaltsverzeichnis

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1977. San Roque Stausee, Provinz Córdoba, Argentinien

Pacos Traurigkeit verflog nur langsam. Papa schaffte es immer wieder ihn zu enttäuschen, obwohl Paco langsam wissen müsste, dass er seine Versprechen nicht hielt.

Er warf seine Angel aus und starrte auf den roten Schwimmer. Die Dezembersonne brannte auf seinen Kopf und seine Schultern, das Wasser glitzerte, die großen weißen Wasservögel, Garzas, segelten über den See, schwarze Kolibris schwirrten hektisch um die gelben Irisblüten und saugten sie leer und bis auf das Gezirpe der Grillen war es still, wunderbar still.

Pacos älterer Bruder Helmut saß abseits in seinem Klappstuhl und schlürfte Mate. Ein schlechter Ersatz für Papa, dachte Paco, aber besser als gar nicht angeln.

“Wieso muss ich jetzt mit dem kleinen Hosenscheißer nach Carlos Paz fahren? Ich wollte was mit meinen Kumpels unternehmen, Scheiße!“, hatte Helmut gerufen. Dafür fing er eine Ohrfeige und Paco fühlte sich miserabel, erstens, weil er mit elf kein Hosenscheißer war und zweitens, weil er trotzdem nicht wollte, dass Helmut mit 17 noch vom Vater geschlagen wurde. Doch allmählich fiel all das von ihm ab, das Gezeter zu Hause, die Enttäuschung über den Vater und es gab nur noch See, Sonne, Ferien, Stille. Es ruckte an der Angel, Paco zog die Schnur ein, aber der Fisch war schlau gewesen, er hatte nur den Wurm vom Haken gefressen.

„Che, Helmut, wieso angelst du nicht?“

„Lass mal, Kleiner. Ich trink meinen Mate. Und falls du nichts fängst: Mama hat uns Steaks eingepackt.“ Er klopfte auf die Kühlbox zu seinen Füßen. „Nachher mach ich Feuer.“

Als die Sonne tiefer sank und die Moskitos zu stechen begannen hatte Paco erst zwei kleine Fische gefangen. Das Lagerfeuer knisterte und knackte bereits. Pacos Magen knurrte laut. „Gott sei Dank hat uns Mama asado eingepackt.“ Er klatschte auf eine Mücke auf seinem Arm und zog sich das T-Shirt über. „Können wir nicht endlich grillen?“

„Warte auf die Glut. Da sind noch zu viel Flammen.“

Paco begann, den in Mayonnaise badenden Kartoffelsalat aus der Plastikschüssel zu löffeln. Endlich legte Helmut die silbernen Fischchen und die dunkelroten Rindersteaks auf das Gitter, das auf vier Steinen über der Glut schwebte. Es zischte und duftete in den Abendhimmel. Der See lag ganz ruhig, kein Luftzug bewegte die Oberfläche. Die Vögel schliefen, nur Frösche quakten und Grillen zirpten in der Dämmerung. Eine dünne Mondsichel erschien am Firmament.

Paco und Helmut verschlangen das Fleisch und die Fische als ob es kein Morgen gäbe. Danach lagen sie auf einer Decke im Gras und rülpsten vor sich hin.

„Was für ne Fresserei“, murmelte Helmut.

„Ich bin kugelrund“, ergänzte Paco, woraufhin Helmut auflachte und ihn zärtlich in die Wange kniff.

Paco vergaß immer, dass er fadendünn war, denn momentan fühlte er sich, als hätte er einen Fußball verschluckt.

Helmut setzte sich auf und nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche.

„Komm, trink auch mal, Brüderchen. Erzähl nur Mama nichts davon.“

Paco trank und bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen. Warum fanden die Erwachsenen das lecker? Es war einfach nur bitter, schlimmer als Medizin.

Irgendwann war es ganz dunkel bis auf den schwindsüchtigen Mond und die Sterne. Ob der sich minderwertig fühlt, dieser Mond, dachte Paco, so unfertig und unvollkommen zwischen all den perfekten Sternen? Dann fielen ihm die Augen zu. Helmut stupste ihn an und streichelte seinen Kopf.

„Na du – lass uns schlafen gehen.“

Helmut half dem schlaftrunken torkelnden Paco auf die Ladefläche des Nissan-Pickups und leuchtete mit einer tranigen Taschenlampe, damit er seine Decke aus der Tasche kramen konnte. „ROSARIO HOGAR“ stand auf den Seitenflächen des Wagens. So hieß das Heimelektrogeschäft des Vaters und auf der Ladefläche lagen Spanngurte und Planen, die sie jetzt als Unterlage verwendeten. Es raschelte, als sie sich in ihre Decken wickelten. Paco rückte an Helmut heran. Beide schliefen augenblicklich ein, den gnädigen Schlaf der Jugend, die noch nicht das sorgenvolle Umherwälzen der Erwachsenenwelt kennt.

Paco schreckte auf. Er hatte geträumt, dass er einen Ballon verschluckt hatte und ihn ein schwarzer Vogel mit einem langen spitzen Schnabel verfolgte, der ihm in den Bauch piksen wollte, um ihn platzen zu lassen. Der Vogel war hässlich, struppig und glupschäugig und konnte nicht fliegen, sondern rannte auf seinen dürren Stelzbeinen hinter Paco her, der in dem Moment erwachte, als er einen Abhang hinunterstürzte. Paco schüttelte sich, setzte sich auf und rülpste kräftig. Sein Bauch war immer noch überfüllt. Was für ein Scheißvogel! Er legte sich wieder hin. Neben ihm schnarchte Helmut friedlich röchelnd vor sich hin.

Plötzlich hörte Paco ein Geräusch. Ein lautes Rattern wie von einem Hubschrauber und es kam näher. Das war ein Hubschrauber! Aber warum war er nicht zu sehen?

Helmut grunzte, rollte sich auf den Rücken und setzte sich ruckartig auf.

„Was ist das verdammt?“

Das Rattern wurde so laut, dass Paco sich die Ohren zuhielt. Ihre Augen hatten sich an das schwache Licht der Sterne und des dünnen Mondes gewöhnt und sie sahen nun den Hubschrauber als dunkle Form über dem See. Er war unbeleuchtet und er senkte sich, die Rotoren mahlten als böse Schatten vor dem Nachthimmel. Das Wasser wellte sich unter dem Helikopter, der nun in der Luft stand. Paco und Helmut starrten auf den See und sahen, wie menschengroße Pakete eins nach dem anderen aus dem Bauch des Hubschraubers ins Wasser stürzten. Sie zählten zwölf. Der Rotorenlärm übertönte das Aufplatschen, aber dennoch war es ihnen, als hörten sie Schreie, die so grauenvoll zu ihnen drangen, dass sich Paco voller Angst an Helmut klammerte. Der Helikopter drehte ab.

Paco klammerte sich an seinen Bruder, das fürchterliche Rattern wollte nicht aufhören, obwohl die Maschine nicht mehr zu sehen war. Als es endlich still war sprang er auf.

„Helmut! Wir müssen ihnen helfen!“

Schon war er von der Ladefläche ins Gras gesprungen und rannte Richtung Wasser, Helmut war träger und verknackste sich den Knöchel beim Aufkommen. „Ay la puta!“ entfuhr es ihm. Am Ufer holte er Paco ein und zog ihn am Arm zu sich heran. Paco zitterte und schluchzte. Helmut streichelte ihm über den Kopf, dabei konnte er sich selbst kaum auf den Beinen halten.

„Sie sind schon tot, Paco. Wir können nichts tun.“

Paco löste sich aus Helmuts Armen und begann zu würgen. Schwallweise erbrach er sein Abendessen, die Säure brannte in der Kehle, er würgte und schluchzte und als er fertig war musste Helmut ihn stützen um zum Auto zurückzugehen.

„Wir müssen hier weg. Wer weiß, ob die nicht zurückkommen...“ In Helmuts Stimme war Panik.

Er setzte Paco auf den Beifahrersitz, sprang hinter das Steuer und startete den Motor. Rumpelnd rollten sie über das Gras, Helmut ließ die Scheinwerfer aus, Paco klammerte sich an das Armaturenbrett und bei jeder Bodenwelle schleuderte es seinen mageren Körper nach oben. Endlich erreichten sie die Straße und Helmut schaltete das Licht an. An der nächsten Haltebucht hielt er an und schaltete Licht und Motor wieder aus. Er umklammerte das Lenkrad und ließ sein Gesicht darauf sinken. Am Zucken seiner Schultern sah Paco, dass sein Bruder weinte.

„Helmut“, sagte er leise, „wer waren die?“

Helmuts Schultern zuckten immer noch, irgendwann zog er die Nase hoch und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht.

„Wen meinst du? Die Lebenden? Das waren die Militärs. Die Toten waren Oppositionelle.“ Er zog erneut die Nase hoch und murmelte dann „dahin verschwinden die also.“

Kapitel

Paco war aufgewacht vom Geschrei seiner Eltern und dem Klirren von umhergeworfenen Tellern. Dieses Mal war es ein gnädiges Erwachen, denn er hatte einen furchtbaren Alptraum gehabt, in dem er im See geschwommen war und er plötzlich an den Beinen nach unten auf den Grund gezerrt wurde. Dort erwarteten ihn Skelette, an denen noch Kleider- und Hautfetzen hingen, sie griffen nach ihm mit ihren Knochenhänden und gurgelten „Rette uns!“

Nun lag er wach, nassgeschwitzt von der Hitze und vom Grauen des nachhallenden Traumes. Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Jalousie.

„Wir dürfen niemandem, wirklich gar niemandem davon erzählen“, hatte ihm Helmut dort am Straßenrand eingeschärft und ihn dabei an den Schultern gepackt. „Wenn die Militärs herausfinden, dass sie Zeugen für ihre Schweinereien hatten...“

 

Paco erinnerte sich nun auch an eine Szene, als seine Tante aus Buenos Aires vor einigen Monaten zu Besuch war.

„Das ist alles so falsch“, sagte sie am Tisch beim Mate, „ich habe Dinge gesehen...“

Sie war Ärztin und erzählte, wie man ihr angeschossene Oppositionelle gebracht hatte, auch von den schrecklichen Wunden eines Gefolterten, der es geschafft hatte, aus einem der Verhörgefängnisse zu fliehen. Pacos Mutter hatte sie dann angefahren: „Halt deinen Mund! Wir wollen das nicht hören und nicht wissen! Und hier sitzen Kinder am Tisch!“

Tante Rosa war seither nicht mehr dagewesen. Und in Pacos Innerem lagerte und gärte nun dieses Wissen. Er würde nie wieder im Lago San Roque baden oder fischen können. Beim Gedanken an Fisch drehte sich ihm beinahe der Magen um: er hatte diese Fische gegessen, die womöglich an den Leichen der Abgeworfenen genagt hatten, denn eines war sicher: diese zwölf Menschen waren weder die ersten noch die letzten Opfer der Militärdiktatur.

Das Geschrei aus dem Erdgeschoss ließ nicht nach. Da nun Sommerferien waren bekam Paco es in voller Länge mit. Es war immer da. Papa brüllte, Mama kreischte schrill und es schepperte von berstendem Geschirr. Welches Service musste dieses Mal daran glauben? Paco hatte Hunger, aber er wollte nicht nach unten in die Küche in das Kriegsgebiet. Er öffnete seine Tür einen Spalt und sofort kam Artus, sein Schäferhund hereingesprungen und leckte ihm übers Gesicht.

„Ach Artus!“ Paco knuddelte ihn und er sprang auf sein Bett. Das durfte Mama nicht sehen, aber die zeterte ja immer noch da unten in der Küche.

Die Tür knallte, der Motor des Ford heulte auf.

„Hurensohn alter!“ hörte man noch schrill durchs Haus hallen. „Ja hau du nur ab und lass mich allein!“

Dann war es still.

„Jetzt kann ich wohl frühstücken“, sagte Paco zu Artus, „falls ich noch einen heilen Teller und eine Tasse finde.“

Er trödelte im Bad herum, bevor er sich auf den Weg nach unten machte. Als er die Treppe hinunterstieg strahlte ihm der Hintern der Haushälterin Doña Amelia in einem kreischend orangefarbenen Rock entgegen. Sie fegte die Reste des gestern gekauften Geschirrs auf eine Kehrschaufel.

„Morgen Doña Amelia“, sagte Paco, „gibt’s Frühstück?“

„Wart noch kurz, Kleiner, ich muss erst saubermachen.“ Sie erhob sich und strich sich eine hellblonde Strähne aus dem Gesicht. Am Ansatz wuchsen die Haare schwarz nach und sie trug zu dem orangen Rock eine grasgrüne Bluse. Doña Amelia war ganz bestimmt farbenblind. Irgendwann würde Paco das mal testen und sie fragen, welche Farbe sein Hemd hatte oder so etwas. Aber jetzt war er einfach nur hungrig. Doña Amelia drückte Paco an ihren Riesenbusen.

„Ich mach dir gleich was, du kleine Bohnenstange. Aber jetzt lass mich hier noch erst fertigputzen.“

Sie bückte sich wieder mit ihrem Besen und der Kehrschaufel und murmelte dabei, „feinstes Meißner Porzellan einfach mal komplett zerdeppert, die sind echt nicht ganz dicht.“

„Ich ess bei Miguel“, rief Paco auf dem Weg zur Tür über die Schulter. Ihm war das alles zu dämlich.

„Komm, Artus, wir gehen!“ Der Hund erhob sich und sprang freudig zu ihm.

Kurz vor der Tür durchfuhr ein stechender Schmerz Pacos Ferse.

„Ay ay ay“, stieß er hervor, zog eine Scherbe mit Rosenmuster heraus und steckte sie in die Tasche. So weit waren die Bombensplitter gespritzt! Er ging ins Bad und tupfte das Blut mit Klopapier ab.

„Ich sag immer du sollst nicht ohne Schuhe rumlaufen, Paco!“ rief es aus der Küche.

Ja, dachte Paco, ist hier wie im Krieg: Überall Tretminen und Granatsplitter. Er humpelte zur Tür, dort standen seine Badeschlappen. Artus folgte der Blutspur und sie traten in die Hitze. Pacos Magen knurrte, aber das war ihm jetzt gleich. Wenn er da drin bliebe, gäbe es zwar Frühstück, dafür würde aber irgendwann auch Mama auftauchen und weiterzetern mit ihm als einzigen Zuhörer. Seine Geschwister Helmut und Helga waren wo auch immer. Dann lieber fasten.

Sie überquerten die Straße Richtung Fluss und gingen zu der baufälligen Holzbohlenbrücke, die eigentlich gesperrt war. Mich hält sie aus, dachte sich Paco, wenn sogar der fette Limoni drüberwabbeln kann und nichts passiert.

Schon von der Brücke aus sah er Miguel am anderen Ufer in der Sonne liegen.

„Che boludooo!“ rief er von oben und Artus rannte bereits bellend zu Miguel und leckte ihn von oben bis unten ab.

„Boah eh, du und dein Hund!“ Miguel knuffte Paco in die Seite. Der zog sich das T-Shirt über den Kopf und sprang in den Fluss. Er ließ sich ein Stück abtreiben bis zur ersten Stromschnelle, dort packte er einen Felsen und zog sich daran hoch, umkletterte das Gebrodel und schwamm dann weiter. Paco liebte den Fluss, das Wasser ließ ihn für kurze Zeit das Kriegsgeschrei in seinem Kopf vergessen. Seine Ferse brannte, aber das war ihm egal. Er lag jetzt an einer ruhigen Stelle und ließ das Wasser an sich vorbeiströmen. Miguel kam mit Artus dazu.

„Du bist ganz schön früh auf.“

„Ja, du weißt doch – es ist Krieg.“

„Wart mal, ich kann hellsehen: neues Geschirr – schon kaputt?“

„Woher du das wieder weißt…“ Paco lachte kurz auf, aber es klang bitter.

„Ihr solltet auf Campinggeschirr umsteigen, da gibt’s was aus Blech oder Alu oder so. Damit können sich deine Alten schön bewerfen und es kriegt nur Beulen und Kratzer…“

Paco antwortete nicht. Er hielt seinen Kopf unter Wasser und ließ sein Gehirn durchspülen. Als er wieder auftauchte schnappte er sich Miguel und tunkte ihn unter. Er hatte ihn überrascht, doch sofort ergriff Miguel unter Wasser Pacos Beine und zog sie weg. Sie rangelten und prusteten, Artus bellte und platschte um sie herum, bis sie irgendwann erschöpft auf zwei großen Steinen am Ufer in der Sonne lagen. Miguel war kleiner und stämmiger als Paco und seine Gesichtszüge ließen indianische Vorfahren erahnen. Sein schwarzes Haar stand borstig vom Kopf ab und sein Gesicht hatte immer etwas Freches, als ob er sich über die ganze Welt lustig machte.

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