Philosophische und theologische Schriften

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ZWÖLFTES KAPITEL
Von der Kirche

Obwohl das Verständnis über die Kirche Christi schon aus dem Bisherigen gewonnen werden kann, so will ich doch, damit dem Werke nichts fehle, noch ein kurzes Wort beifügen.

Da der Glaube in den verschiedenen Menschen graduell verschieden ist, so gelangt kein Mensch zum Glauben in der höchsten Potenz so wenig als zur größten Liebe. Wäre in einem Erdenpilger der höchste Glaube, der keine Steigerung zuläßt, so müßte er zugleich der lebendige Inbegriff des Glaubens (comprehensor fidei) sein. So kann auch die schlechthin größte Liebe in keinem Liebenden sein, er sei denn zugleich der Geliebte. Daher finden sich der schlechthin größte Glaube und die größte Liebe in keinem als in Jesus Christus, welcher Erdenpilger (viator) und Inbegriff des Glaubens, liebender Mensch und geliebter Gott zugleich war. Nun ist aber in dem Größten alles eingeschlossen, weil es alles umfaßt. Der Glaube Jesu Christi schließt daher allen wahren Glauben, die Liebe Christi alle wahre Liebe in sich, wobei jedoch immer verschiedene Gradunterschiede bleiben. Da diese alle unter dem Größten und über dem Kleinsten sind, so kann niemand, wenn er auch in Wirklichkeit, soviel an ihm liegt, den größten Glauben hat, zum schlechthin größten Glauben Christi gelangen, durch den er Christus als Gott und Menschen vollständig erfaßte, so wie auch niemand Christus so sehr lieben kann, daß diese Liebe keine Steigerung zuließe, weil Christus die Liebe (amor et caritas) und deshalb ins Unendliche liebenswürdig ist. Niemand kann in diesem oder dem zukünftigen Leben Christus so lieben, daß er selbst Christus der Gottmensch58 würde; denn alle, die entweder in diesem Leben durch Glauben und Liebe, oder im andern durch unmittelbares Erfassen und Genießen mit Christus vereinigt sind, sind es nicht in der Art59, daß sie nicht noch inniger vereinigt sein könnten, unbeschadet der graduellen Verschiedenheit, so daß ohne diese Vereinigung niemand aus und durch sich besteht, so wie durch dieselbe niemand seine graduelle Verschiedenheit verliert.

Diese Vereinigung nun ist die Kirche oder die Gemeinschaft vieler in Einem, gleichwie viele Glieder an einem Körper sind, jedes mit einem besonderen Range (gradus), wo ein Glied nicht ein anderes und jedes Glied durch den Körper mit dem andern vereinigt ist, und keines ohne den Körper Leben und Bestand hat, wiewohl am Körper ein Glied nicht alle Glieder in sich faßt, außer mittelst des Körpers. Die Wahrheit unseres Glaubens kann daher während unserer irdischen Pilgerschaft nur im Geiste Christi bestehen, unbeschadet der Stufenordnung der Gläubigen, so daß sich eine Verschiedenheit bei voller Übereinstimmung in dem einen Jesus gestaltet (ut sit diversitas in concordantia in uno Jesu). Und scheiden wir durch die Auferstehung aus der streitenden Kirche, so können wir wieder nur60 durch Christus auferstehen, so daß auch die triumphierende Kirche (in ihm) eine Einheit ist, in der jeder seinen eigentümlichen Rang behauptet. Dann wird die Wahrheit unseres Fleisches nicht mehr in sich, sondern in der Wahrheit des Fleisches Christi, die Wahrheit unseres Leibes nur in der Wahrheit des Leibes Christi, die Wahrheit unseres Geistes in der Wahrheit des Geistes Jesu Christi bestehen, wie die Rebzweige in dem Weinstocke. Es wird die eine Menschheit Christi in allen Menschen, der eine Geist Christi in allen Geistern sein, so daß jegliches in ihm und gleichsam ein Christus aus allen ist61. Wer daher einen aus allen, die Christus angehören, in diesem Leben aufnimmt, nimmt Christus auf, und was einem der Geringsten getan wird, wird Christus getan, gleichwie, wer die Hand Platos verletzt, Plato selbst verletzt, und wer dort im wahren Vaterlande über den Geringsten sich freut, freut sich über Christus, In allem sieht er Jesus und durch diesen Gott. So wird unser Gott durch seinen Sohn alles in allem, jeder im Sohne und durch diesen mit Gott und allen sein; es herrscht volle Freude ohne Mißgunst und Mangel.

Da Glaube und Liebe, solange wir hienieden pilgern, einer beständigen Steigerung fähig sind, so müssen wir uns Mühe geben, daß die Möglichkeit durch die Gnade unseres Herrn Jesu Christi zur Wirklichkeit gelange, auf daß wir von Tugend zu Tugend, von einer Stufe zur andern weiter schreiten durch den, der der Glaube und die Liebe selbst ist, ohne den wir aus uns als solchen nichts vermögen, da wir alles nur in ihm vermögen. Er allein kann uns geben, was uns fehlt, daß wir am Tage der Auferstehung als gesunde und wertvolle Glieder an ihm erfunden werden. Diese Gnade des Wachstums in Glaube und Liebe können wir sonder Zweifel durch anhaltendes Gebet erlangen, indem wir vertrauensvoll dem Throne dessen uns nähern, der voll Güte ist und kein heiliges Verlangen unbefriedigt läßt.

Wenn du dies tief im Geiste erwägst, durchströmt dich eine wunderbare geistige Wonne; innerlich verkostest du wie süßen Wohlgeruch die unaussprechliche Güte Gottes, die er dir, hienieden an dir vorübergehend, erweist, die dich einst sättigen wird, wenn seine volle Herrlichkeit erscheint, ich sage: sättigen, ohne satt zu werden (absque fastidio), weil jene unsterbliche Speise das Leben selbst ist. Und wie die Sehnsucht nach dem Leben immer wächst, so wird auch die Speise des Lebens immer genossen, ohne daß sie in die Natur des Genießenden übergeht, denn sonst wäre sie eine uns anwidernde Speise, die uns belästigte und uns das unsterbliche Leben nicht zu geben vermöchte, da sie in sich mangelhaft wäre, weil sie sich in die Natur des Genießenden verwandelte. Unser vernünftiger Geist aber will geistig leben und beständig weiter dringen zu Leben und Freude. Da diese unendlich sind, so werden die Seligen unaufhörlich zur Sehnsucht nach ihnen hingezogen. So finden sie Sättigung, indem sie dürstend aus der Quelle des Lebens trinken, und da dieses Trinken nicht in Vergangenheit übergeht, indem es ewig ist, so trinken die Seligen immer aus dieser Quelle und sind immer gesättigt, und nie geht beides in die Vergangenheit über. Gepriesen sei Gott, der uns eine Vernunft gegeben hat, die in dieser Zeit nicht gesättigt wird, deren unbegrenztes Sehnen sich selbst als erhaben über die vergängliche Zeit, als unvergänglich erfaßt und erkennt, daß sie ihre volle geistige Befriedigung nur in dem Genusse des höchsten, vollkommensten, nie abnehmenden Gutes finde, wo der Genuß nie in Vergangenheit übergeht, weil das Begehren durch den Genuß nicht abnimmt. Wenn ein Hungriger an der Tafel eines mächtigen Königs sich niederließe und ihm die gewünschte Speise vorgesetzt würde, so daß er nach einer andern nicht begehrte, und wenn es die Natur dieser Speise wäre, daß sie durch Sättigen den Appetit steigerte, so ist klar, daß, wenn diese Speise nie ausginge, der Gast beständig gesättigt wäre und zugleich beständig nach derselben Speise ein Verlangen hätte, und immer fähig wäre, die Speise zu sich zu nehmen, deren Natur es mit sich bringt, den damit Gespeisten zu beständigem Verlangen nach dieser Speise hinzutreiben. Die vernünftige Natur nun hat die Fähigkeit, indem sie das Leben in sich aufnimmt, in dasselbe verwandelt zu werden, wie die Luft durch Aufnahme des Sonnenstrahls in Licht verwandelt wird. Daher erfaßt die Vernunft, da ihre Natur eine Umwandlung zu dem vernünftig Erkennbaren zuläßt, nur das Universelle, Unzerstörbare und Bleibende. Die unzerstörbare Wahrheit ist ihr Objekt; in der Ewigkeit erfaßt sie dieselbe in seligem Frieden in Jesus Christus.

Das ist die triumphierende Kirche, in der unser Gott ist, der gepriesen sei in Ewigkeit, und wo in höchster Einigung Jesus Christus als wahrer Mensch mit Gott dem Sohne so innig vereinigt ist, daß die Menschheit nur in der Gottheit ihren Bestand hat. Sodann ist jede vernünftige Natur mit Christus dem Herrn, unbeschadet der Persönlichkeit des Einzelnen, wenn sie in diesem Leben durch Glaube, Hoffnung und Liebe ihm zugewandt war, so fest vereinigt, daß sowohl Engel als Menschen nur in ihm bestehen, durch ihn in Gott, so daß jeder der Seligen mit Bewahrung seiner Besonderheit in Christo Jesu Christus, und durch diesen in Gott Gott ist, Gott aber, ohne aufzuhören, das absolut Größte zu sein, in Christo Jesu Jesus selbst ist und in ihm alles in allem.

Dies ist der einzige Weg zur höchstmöglichen Einheit der Kirche, oder der Einheit vieler (unbeschadet der wahren Selbständigkeit des Einzelnen) ohne Vermengung der Naturen und Grade. Je mehr Einheit aber in der Kirche, desto größer ist sie. Die größte Kirche ist daher die Gemeinschaft der ewig Triumphierenden, denn eine größere Einheit der Kirche ist nicht möglich. Welch eine große Einigung (unio) – die absolut größte göttliche Einigung, dann die Einigung der Gottheit und Menschheit in Jesus, endlich die Einigung der in der Gottheit Jesu triumphierenden Seligen! Die absolute Einigung ist nicht größer oder kleiner als die Einigung der Naturen in Jesus oder die Einigung der Seligen in dem himmlischen Vaterlande; denn jene ist die größte Einigung, die Einigung aller Einigungen, das Wesen jeder Einigung, ohne ein Mehr oder Weniger, aus der Einheit und Gleichheit, wie im ersten Buche gezeigt ist, hervorgehend. Ebenso ist die Einigung der Naturen in Christus nicht größer oder kleiner als die Einheit der triumphierenden Kirche; denn da sie die größte Einigung der Naturen ist, so läßt sie kein Mehr oder Weniger zu. Somit erhalten alle Gegensätze, die zur Einheit verbunden sind, von dieser größten Einigung der Naturen in Christus ihre Einheit, durch welche die Einheit der Kirche das ist, was sie ist. Die Einheit der Kirche ist die größte kirchliche Einheit. Als diese größte koinzidiert sie nach oben mit der hypostatischen Einigung der Naturen in Christus, und da diese die größte ist, mit der absoluten Einigung – Gott. So ist die kirchliche Einheit durch Jesus in die göttliche Einigung, von der sie den Anfang hat, aufgenommen (resolvitur). Dies erhellt noch deutlicher, wenn wir uns an das oben öfters Wiederholte erinnern, daß nämlich die absolute Einigung der heilige Geist ist. Die größte hypostatische Einigung koinzidiert mit der absoluten Einigung; daher ist notwendig die Einigung der Naturen in Christus durch die absolute, welche der heilige Geist ist, und in ihr. Die kirchliche Einheit koinzidiert, wie oben gezeigt, mit der hypostatischen, weshalb im Geiste Jesu die Einigung der triumphierenden Kirche, die durch den hl. Geist besteht, enthalten ist. Daher sagt die Wahrheit selbst bei Johannes: »Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie Eines sind, wie wir Eines sind, ich in ihnen, du in mir, auf daß sie vollkommen Eines seien,« auf daß die Kirche in ewiger Ruhe sei, so vollkommen, daß sie nicht vollkommener sein könnte, in so unaussprechlicher Umgestaltung zum Lichte der Glorie, daß in allem nur Gott hervortritt. Nach dieser Glorie trachten wir in größtem Eifer mit Siegesgewißheit (ad quam tanto affectu cum triumpho aspiramus) und bitten Gott den Vater inständig, er möge durch seinen Sohn, unsern Herrn, Jesus Christus, und in ihm durch den hl. Geist in seiner unendlichen Güte uns in diese Glorie aufnehmen, um dieselbe ewig zu genießen. Er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.

 

Empfange hier, verehrter Vater! was ich längst in verschiedenen Systemen (variis doctrinarum viis) zu erreichen suchte, allein nicht eher zustande brachte, als bis ich auf der Rückkehr von Griechenland (ich glaube durch die Gnade von oben, vom Vater des Lichtes, von dem jede gute Gabe kommt) darauf kam, das Unbegreifliche als unbegreiflich aufzufassen (ut incomprehensibilia incomprehensibiliter amplecterer), in der Wissenschaft des Nichtwissens, durch Hinausgehen über die menschlichen Begriffe von der unzerstörlichen Wahrheit (per transcensum veritatum incorruptibilium humaniter scibilium). Diese Aufgabe habe ich nun in Dem, der die Wahrheit ist, in den vorliegenden Büchern gelöst, die, auf gleichem Prinzipe ruhend, eine Verengung und Erweiterung zulassen. Das ganze Streben unsers Geistes muß allen Ernstes dahin gerichtet sein, sich zu jener Einfachheit, in der die Gegensätze koinzidieren, zu erheben. (Debet autem in his profundis omnis nostri ingenii conatus esse, ut ad illam se elevet simplicitatem, ubi contradictoria coincidunt.) Dies ist das Ziel des ersten Buches. Das zweite leitet daraus einige Sätze über das Universum ab, die sich über den gewöhnlichen Standpunkt der Philosophen erheben und vielen als etwas Seltenes erscheinen werden (rara multis). Und nun habe ich schließlich auch das dritte Buch über Jesus, der gepriesen sei, vollendet, immer auf gleichem Fundamente weiter bauend, und im Wachstum des Glaubens ist auch Jesus mir für Geist und Herz immer größer geworden (et factus est mihi Jesus Dominus continue maior in intellectu et affectu per fidei crementum). Denn niemand, der den Glauben an Christus hat, wird in Abrede stellen, daß nicht durch dieses System seine Sehnsucht immer höher gesteigert wird, so daß er nach vielem immer höher sich erhebenden Nachdenken zuletzt den süßen Jesus als den allein Liebenswürdigen erkennt und freudig alles verläßt, um ihn als das wahre Leben und die ewige Freude zu umfassen. Wer so in die Erkenntnis Jesu eindringt, dem gelingt alles (omnia cedunt); keine Schrift, ja die ganze Welt kann ihm Schwierigkeit bereiten, weil er in Jesus umgewandelt wird durch den Geist Christi, der in ihm wohnt und das Ziel des vernünftigen Verlangens ist. Bitte, frommer Vater! um diesen Geist inständig und beständig für mich armen Sünder, auf daß wir vereint ihn ewig zu besitzen gewürdigt werden!

VON DEN MUTMASSUNGEN

Dem von Gott geliebten ehrwürdigen Vater, Herrn Julian, des hl. apostolischen Stuhls hochwürdigsten Kardinale, seinem verehrten Lehrer, Nicolaus von Cusa

Erstes Buch
ERSTES KAPITEL

Da mir einige Mußezeit gegönnt ist, so will ich nun mein System über die Mutmaßungen darstellen. Obwohl ich weiß, daß dasselbe nicht nur an der allgemeinen Mangelhaftigkeit menschlicher Geistesprodukte, sondern auch an den besondern Gebrechen meines schwachen Talentes leidet und in Schatten tritt, so habe ich doch für dich, bester Vater! der in allen Wissenschaft bewandert ist, das Ganze in dem Vertrauen entwickelt, dein bewährter Geist voll göttlicher Erleuchtung werde meiner Arbeit die wünschenswerte Verbesserung angedeihen lassen. Ich bin überzeugt, diese Formel zur Erforschung des Wissens (hanc indagandarum artium formulam) werde in ihrem gegenwärtigen unvollkommenen Zustande nicht der Mißachtung ausgesetzt sein, wenn ein so hochberühmter Mann die Gnade hat, sie huldvoll aufzunehmen und der verbessernden Feile zu würdigen. Flöße also durch deinen glänzenden Namen denjenigen Mut ein, welche diesen kurzen und ebenen Weg betreten, um die höchsten Wahrheiten zu enthüllen.

ZWEITES KAPITEL
Begriff der Mutmaßung62

Da präzise Erkenntnis der Wahrheit unerreichbar ist, so ist jede menschliche positive Behauptung über das Wahre Mutmaßung. Denn auch das fortwährende Wachsen im Erfassen der Wahrheit erschöpft dieselbe nicht. Weil nämlich zu dem größten menschlicherweise möglichen, an sich unerreichbaren Wissen unser wirkliches Wissen in keinem Verhältnisse steht, so macht unser unvollkommenes unsicheres Greifen nach Wahrheit, fern von der Reinheit derselben, unsere positiven Behauptungen zu bloßen Mutmaßungen des Wahren. Die Einheit der unerreichbaren Wahrheit wird daher von uns in mutmaßlicher Andersheit erkannt (cognoscitur igitur inattingibilis veritatis unitas alteritate conjecturali); erst jenseits werden wir heller als durch dieses Anderssein die Wahrheit in der einfachsten Einheit mit ihr schauen. Weil aber der kreatürliche Geist von endlicher Wirksamkeit in jedem andern anders ist, so daß eine Verschiedenheit unter den Mutmaßenden bleibt, so ist es zuverlässig gewiß, daß die Mutmaßungen mehrerer über dasselbe unerfaßbare Wahre graduell verschieden, zueinander selbst aber unproportional sein werden, so daß der eine vielleicht mehr als der andere, keiner jedoch unfehlbar sicher den Sinn des Einzelnen erfaßt. Daher gebe ich das hier Mitgeteilte, das ich aus der Möglichkeit meines unbedeutenden Geistes nach nicht geringem Nachdenken entwickelt habe, als meine Mutmaßungen, für große Geister vielleicht ganz unbefriedigend, die jedoch von der Art sind, daß sie, wenn auch viele, die an dem unverständigen Herkömmlichen festhalten, sie geringschätzen mögen, doch von tiefer dringenden Geistern als eine nicht ganz unschmackhafte Speise in ein helleres Verständnis umgewandelt werden können; denn wer durch fleißigen Genuß und wiederholtes Nachdenken sich hier eine geistige Nahrung gewinnen will, wird eine tröstliche Geisteserquickung erlangen, wenn ihm auch die Sache anfangs unverarbeitet (cruda) und durch ihre Neuheit sogar anstößig erscheint.

Ich werde zuerst, gleichsam als Handleitung für die Jüngern, an einigen Figuren als Paradigmen den Weg zur generellen Kunst der Mutmaßung zeigen, und dann aus der fruchtbaren Anwendung auf einzelnes einige Blüten der Betrachtung pflücken zur Erquickung für solche, die nach Wahrheit hungern und dürsten.

DRITTES KAPITEL
Ursprung der Mutmaßungen

Die Mutmaßungen müssen aus unserm Geiste wie die wirkliche Welt aus der göttlichen unendlichen Vernunft hervorgehen. Denn da der menschliche Geist, das erhabene Ebenbild Gottes, an der Fruchtbarkeit der schöpferischen Natur möglichst Anteil nimmt, so entwickelt er aus sich, als dem Bilde der allmächtigen Form, in Ähnlichkeit der wirklichen Dinge, Verstandesdinge. Wie nämlich die absolute göttliche Wesenheit alles das, was sie ist, in jedem Wesen ist, welches ist, so ist auch die Einheit des menschlichen Geistes die Wesenheit seiner Mutmaßungen. Und wie Gott alles um seiner selbst willen wirkt, um geistiger Anfang und Ziel von allem zu sein; so ist auch die Entfaltung der begrifflichen Welt, die aus unserm sie in sich fassenden Geiste hervorgeht, um des schöpferischen Geistes selbst willen da. Denn je tiefer er sich in der aus ihm entwickelten Welt erschaut, um so reicher wird er innerhalb seiner selbst befruchtet, da sein Ziel die unendliche Vernunft ist, welche allein das Maß von allem und der lebendige Mittelpunkt unsers Geistes ist. Daher das natürliche Verlangen nach der Wissenschaft, die uns vervollkommnet.

Wie nun der Urgrund aller Dinge und unseres Geistes ein dreieiniger ist, so macht sich unser Geist zum dreieinigen Grund seiner Begriffswelt. Denn da der Verstand allein das Maß der Vielheit, Größe und Zusammensetzung ist, die er als die Einheit, Gleichheit und Verbindung aus sich entfaltet, so ist unser Geist unterscheidendes, verhältnisbestimmendes (proportionativum) und verbindendes (compositivum) Prinzip.

VIERTES KAPITEL
Das Symbol für das Urbild der Dinge ist die Zahl

Das natürliche fruchtbare Prinzip der Verstandestätigkeit ist die Zahl: Unvernünftige Wesen, wie die Tiere, zählen nicht. Die Zahl aber ist nichts anderes als die Entfaltung des Verstandes. Ohne sie wäre für den Verstand nichts von allem da, was er erreichen kann. Denn daß der Verstand zuerst die Zahl aus sich entfaltet und derselben bei Bildung seiner Mutmaßungen sich bedient, heißt nichts anderes, als daß er sich seiner selbst bediene und in der natürlichen höchsten Ähnlichkeit mit sich alles sich denke, wie der unendliche Geist, Gott, in seinem gleich ewigen Worte den Dingen das Sein mitteilt. Es kann auch nichts vor der Zahl sein. Denn alles, was aus der einfachsten Einheit heraustritt, ist in seiner Weise ein Zusammengesetztes, dieses aber ohne Zahl nicht denkbar, da Vielheit, Verschiedenheit und Verhältnis der Teile aus der Zahl stammen. Die Zahl selbst aber, die allem vorangeht, ist nur aus sich selbst zusammengesetzt. So ist der Ternar aus sich selbst zusammengesetzt. Man darf sich nicht Dach, Wand und Fundament abgesondert vorstellen, wenn man die Form des Hauses sich denken will. Der Ternar ist daher eine Kombination von Dreien … Ist also nicht die Zahl die höchste Ähnlichkeit des Geistes und das Wesen der Zahl das erste Vorbild des Geistes? Denn die Zahl ist das erste konkrete Abbild der Trinität in unserm Verstande. Durch Mutmaßung von der Verstandeszahl unseres Geistes auf die realen Zahlen des göttlichen Geistes übergehend, sagen wir, in dem Geiste des Schöpfers sei das erste Vorbild der Dinge die Zahl gewesen, wie das erste Vorbild der in Ähnlichkeit mit den Dingen von uns geschaffenen Begriffswelt die Zahl unseres Verstandes ist.