Buch lesen: «Er ging voraus nach Lhasa»
Nicholas Mailänder, unter Mitarbeit von Otto Kompatscher
ER GING VORAUS NACH
LHASA
PETER AUFSCHNAITER. DIE BIOGRAPHIE
INHALT
Vorwort
Kapitel 1
EIN KIND SEINER ZEIT UND UMGEBUNG
Kapitel 2
FREUNDE FÜRS LEBEN
Kapitel 3
ZWEIMAL AM KANGCHENJUNGA
Kapitel 4
IN DER ALPINEN MACHTZENTRALE
Kapitel 5
WENDEPUNKT NANGA PARBAT
Kapitel 6
FAST FÜNF JAHRE HINTER STACHELDRAHT
Kapitel 7
FLUCHT ÜBER DAS DACH DER WELT
Kapitel 8
WO EIN WILLE IST, IST AUCH EIN WEG NACH LHASA
Kapitel 9
ZWEI FREMDE FASSEN FUSS IN DER HEILIGEN STADT
Kapitel 10
AUFBAU IM NIEDERGANG
Kapitel 11
WIEDER IM LAND DER BÄREN UND RÄUBER
Kapitel 12
DER LANGE ABSCHIED VOM DACH DER WELT
Kapitel 13
MACHTKÄMPFE IN KATHMANDU
Kapitel 14
IN INDISCHEN DIENSTEN
Kapitel 15
HELFEN, FORSCHEN, HELFEN
Kapitel 16
DIE BILANZ EINES LEBENS
Nachwort von Dr. Martina Wernsdörfer, Völkerkundemuseum der Universität Zürich
Anhang
Zeittafel zu Peter Aufschnaiters Leben
Der Staat Tibet (1913–1950)
Der Tibetische Buddhismus im Überblick
Literatur und Quellen
Personenverzeichnis
Bild- und Kartennachweis
Dank
VORWORT
Vor rund zehn Jahren beauftragte mich der Tyrolia-Verlag mit der Neuherausgabe von Peter Aufschnaiters Schriften über sein Leben in Tibet, die 1983 von Martin Brauen veröffentlicht worden waren. Teil meiner Aufgabe war eine rund achtzigseitige Lebensbeschreibung des Verfassers.
Je intensiver ich mich mit den vielfältigen Texten beschäftigte, die Brauen im Namen von Peter Aufschnaiter publiziert hatte, desto mehr faszinierte mich die Persönlichkeit des der Öffentlichkeit kaum bekannten Tiroler Bergsteigers, Forschungsreisenden, Kartografen, Archäologen und Entwicklungshelfers. Immer deutlicher meldete sich der Wunsch, die Biographie dieses fast vergessenen Menschen zu ergründen. Der Verlag stimmte meinem Vorschlag zu, den Fokus zu erweitern und die Beschreibung des gesamten Lebenswegs von Peter Aufschnaiter zum Gegenstand des Buches zu machen. Damit wurde die ursprüngliche Aufgabe aber nicht fallengelassen – denn Aufschnaiters Tibettexte sollten zu einem zentralen Bestandteil seiner Biographie werden.
Dass ich im Zuge der Recherchen auf meinen Koautor Otto Kompatscher stoßen würde, war fast unausbleiblich. Dieser 1939 in Klobenstein/Ritten (Südtirol) geborene und seit seiner Kindheit im Raum Kitzbühel in Tirol lebende Aufschnaiter-Forscher hatte sich seit Mitte der 1990er Jahre intensiv mit seinem prominenten Landsmann beschäftigt und zahlreiche Bild- und Textdokumente gesammelt. Vor allem hatte Otto Kompatscher aber im Auftrag des Völkerkundemuseums der Universität Zürich, im Speziellen durch Dr. Martin Brauen, die in Gabelsberger-Stenographie-Zeichen verfassten Tagebücher Aufschnaiters in lateinische Schrift transkribiert und damit der Forschung einen Schatz von unermesslichem Wert zugänglich gemacht.
Da wir uns gut verstanden, beschlossen Otto Kompatscher und ich, das Projekt „Aufschnaiter-Biographie“ gemeinsam durchzuführen. Dabei ergab sich wie von selbst eine Arbeitsteilung: Otto steuerte zahlreiche Fachtexte und Primärdokumente bei, darunter das von Aufschnaiter verfasste Buchmanuskript mit 36 Kapiteln, welches dem von Martin Brauen publizierten Werk zugrunde gelegen hatte. Meine Aufgabe bestand im Erschließen, Einordnen und Ergänzen des Materials, in der Entwicklung des Buchkonzepts – und zu guter Letzt – auch im Verfassen des Textes.
Angelehnt an meine ursprüngliche Aufgabenstellung – die Neuveröffentlichung von Peter Aufschnaiters Tibetschriften – ließ ich ihn seine Lebensgeschichte so weit wie möglich in seinen eigenen Worten erzählen. Diese Zitate sind an ihrer Schriftfarbe leicht zu erkennen. Die Interpunktion und die Orthografie in Aufschnaiters Texten wurden dem heutigen Gebrauch angeglichen und zusätzliche Absätze eingefügt. Auslassungen sowie von mir angefügte Anmerkungen und Ergänzungen sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet. Die von Aufschnaiter sehr häufig benutzten Wörter „haben“ und „sein“ ersetzte ich bisweilen durch situativ passende Verben. Auch nahm ich mir die Freiheit, umfangreiche geomorphologische oder kulturhistorische Ausführungen wegzulassen, wenn sie den Blick auf die eigentlichen Reiseerlebnisse verstellten. Durch diese vorsichtigen Eingriffe gelang es, die Sicht freizumachen auf Schilderungen von poetischer Schönheit, die belegen, wie tiefgehend Menschen und Landschaft in Tibet Peter Aufschnaiter berührt hatten.
Das Manuskript seines Buches hatte Aufschnaiter am Tag vor seinem Tod mit einem rohen Felsklotz verglichen, aus dem jemand wie sein Freund Paul Bauer erst eine Figur machen müsste. Diese Vorstellung begleitete mich vier Jahre lang bei meinen Bemühungen, aus einer Unmenge von Zeugnissen eine Lebensbeschreibung zu formen, die auch der Dargestellte gutgeheißen hätte.
Der Leserin und dem Leser wünsche ich viel Freude bei der Erkundung des ereignisreichen Lebens von Peter Aufschnaiter mit seinen zahlreichen Brüchen und Wendungen. Unsere Zeitreise beginnt mit einer Zugfahrt im Spätherbst 1890 in das verarmte Tiroler Bergbaustädtchen Kitzbühel, auf der wir den späteren Skipionier Franz Reisch kennenlernen. Er sollte Peter Aufschnaiters väterlicher Freund werden und seinen Lebensweg entscheidend beeinflussen.
Nicholas Mailänder, im Herbst 2018
KAPITEL 1
EIN KIND SEINER ZEIT UND UMGEBUNG
Einer musste ja in den sauren Apfel beißen! Was blieb ihm aber anderes übrig? Schließlich hatte die Mutter ihn gebeten, nach dem kleinen Zweiggeschäft der Familie Reisch in Kitzbühel zu schauen. Sein schwerkranker Bruder Rudolf hatte es mehr schlecht als recht geführt, bis ihn die bereits während seiner Lehrzeit eingefangene Tuberkulose endgültig aufs Krankenlager zwang. Missmutig blickte Franz Reisch durch das Fenster des Erste-Klasse-Abteils der „Giselabahn“ hinaus auf das nebelfeuchte Brixental. Der hochaufgeschossene Mann in den späten Zwanzigern putzte umständlich seinen Zwicker, wodurch die Luft draußen aber auch nicht klarer wurde. Aus den tiefhängenden Wolken rann ein feiner Nieselregen. Kein Mensch war auf den abgeernteten, nassen Wiesen und Feldern zu sehen. Kurz gab eine Wolkenlücke den Blick frei auf die unteren Hänge der Hohen Salve, überzuckert vom ersten Schnee. Darunter die Häuser des Marktes Hopfgarten, zusammengedrängt um die prächtige barocke Pfarrkirche mit den hoch aufragenden Zwillingstürmen, die selbst in dieser Novemberödnis noch etwas Zuversicht verbreitete.
Franz Reisch wusste nur zu gut, dass die Menschen hier im Brixental nichts zu lachen hatten. Schließlich hatte 1875 die Eröffnung der Salzburg-Tiroler Bahn den unvermittelt mit der „großen Welt“ verbundenen Gemeinden nicht nur Gutes gebracht. Nun, 15 Jahre später, litten die fast noch mittelalterlich wirtschaftenden Bauern unter dem Preisverfall durch importierte Agrargüter, und das Kleingewerbe tat sich schwer mit den preislich günstigen und oft auch hochwertigen Industrieprodukten, die mit der Eisenbahn ins Tiroler Land kamen. Wenn er nur an die sogenannte Sensenfabrik von Johann Zimmermann in Oberndorf dachte! Da gab es außer dem wassergetriebenen Hammerwerk keine einzige Maschine. Gedengelt und geschliffen wurde noch von Hand. Und auch der unproduktive Bergbau hier im Brixental und drüben in Kitzbühel lag in den letzten Zügen.1
Der junge Kaufmann schüttelte den Kopf. Von seiner Heimatstadt Kufstein aus war er weit herumgekommen im deutschsprachigen Raum und wusste sehr wohl, wie „draußen“ gewirtschaftet wurde.
In wenigen Minuten würde er in Kitzbühel ankommen. Franz Reisch strich sich über den gepflegten Schnurrbart, hob den bewährten ledernen Reisekoffer mit den verkratzten Metallecken aus dem Gepäcknetz, drückte den flachen dunkelgrauen Hut auf seinen blonden Lockenschopf und schlüpfte in den aus schwerem britischen Tweed gefertigten Ulster-Mantel. Mit ihm stiegen drei weitere Reisende aus, Bauern und Handwerker aus dem Umland. Reisch ging durch den vornehmen klassizistischen Bahnhof und marschierte mit weit ausholenden Schritten im Nieselregen am Rande der geschotterten Hauptstraße entlang, bis eine Gasse nach rechts hineinführte zwischen die heruntergekommenen Häuser des alten Bergarbeiterstädtchens. Die wenigen Einheimischen, die dem gut gekleideten Fremden begegneten, erwiderten seinen freundlichen Gruß mit scheuer Zurückhaltung. Bald hatte Reisch den Stadtplatz passiert, dessen Pflaster große schadhafte Stellen aufwies, und das große dunkle Haus erreicht, in dem sein jüngerer Bruder Rudolf eine Lebzelterei und Konditorei betrieben hatte. Dem Kranken ging es schon sehr schlecht; er starb am 12. Dezember 1890.2
Es dauerte nicht lange, bis Franz Reisch das vom Bruder hinterlassene Geschäft wieder einigermaßen in Schwung gebracht hatte. Die Lebzelter beschäftigten sich mit dem Handel und der Verarbeitung von Honig. Sie kauften Honig und Bienenwachs bei den Bauern auf. Das Wachs, das die Bauern lieferten, schickte Franz Reisch seinem Bruder Josef nach Innsbruck zur Verarbeitung und bekam die fertigen Kerzen und Wachsstücke geliefert. Damit versorgte die Firma Reisch alle Kirchen im Umkreis, und auch die Bauern handelten für das Wachs die Kerzen ein. Hauptgeschäft war aber der aus dem Honig gefertigte Zelten, ein Lebkuchen, der in den umliegenden Dörfern besonders in der Weihnachtszeit sehr gefragt war und im Sommer auf die Almen geschickt wurde. Ein weiteres populäres Produkt der Firma Reisch war ihr in der Konditorei gebrannter Kaffee.
In den Jahren 1893 bis 1895 investierte Reisch einen guten Teil des ihm zustehenden Erbes in ausgedehnte Reisen. Der Grund dafür, dass er aus der elterlichen Firma ausbezahlt wurde, mag in seiner kränklichen Verfassung gelegen haben. Später scheint es ihm gelungen zu sein, die ihn heimsuchenden Migräneattacken durch Alpenfahrten einigermaßen in den Griff zu bekommen.3 Franz Reischs erste Auslandsreise führte über Mainz, Köln und Rotterdam nach New York und weiter über Pittsburg zur Weltausstellung in Chicago. Im folgenden Jahr ging es über Triest zunächst nach Damaskus, von dort nach Jerusalem und Ägypten und zurück über Venedig, Mailand und das Berner Oberland. Hier konnte Reisch den bereits blühenden Schweizer Fremdenverkehr in Augenschein nehmen. Die letzte große Reise führte über Norwegen nach Spitzbergen. Nach und nach eignete er sich eine gut sortierte Materialsammlung zu den Themen Tourismus, Verkehrswesen und Sport an.4
Der großgewachsene junge Kaufmann kleidete sich stets korrekt nach der in Deutschland üblichen Herrenmode der Gründerzeit mit Stehkragenhemd, Krawatte, Weste, dunklem Sakko und dunkelgrauer Hose. Einen Hut trug Reisch nur selten. Kein Wunder, dass diese urbane Erscheinung in der kleinen Bauern- und Knappenstadt anfangs skeptisch beäugt wurde. Den Haushalt des Junggesellen führte eine Wirtschafterin, die auch für ihn kochte. Die Abende verbrachte der lebenslustige Reisch in den verschiedenen Wirtshäusern der Stadt. Bald war er besonders im Gasthaus Tscholl in der Hinterstadt (heute Hotel Harisch) ein gerngesehener Gast, der mitreißend von seinen Erlebnissen erzählen konnte. Beim Tscholl trafen sich die Honoratioren – die Mitglieder des Stadtrats, die leitenden Beamten des Forstamts, des Gerichts, des Bergamts und der Bezirkshauptmannschaft, die Ärzte, Apotheker, Notare und Anwälte sowie die Geistlichkeit.
Schnell erkannte Franz Reisch, dass diese Herrschaften zwei unterschiedlichen politischen Lagern angehörten. Dass der Geist des Vormärz – trotz des gescheiterten Oktoberaufstandes – in Kitzbühel noch immer zahlreiche Anhänger hatte, war auf den damaligen Bürgermeister Joseph Traunsteiner zurückzuführen. Der war nicht nur Apotheker in Kitzbühel gewesen, sondern auch ein international anerkannter Botaniker. Traunsteiner hatte in Wien studiert und sorgte dafür, dass sich das damals wirklich noch freiheitliche Gedankengut von 1848 – dem Ideal eines demokratisch regierten großdeutschen Staates verpflichtet – in der Tiroler Kleinstadt fest verankerte. Als Zeichen dieser deutschnationalen Gesinnung soll 1848 über dem Kitzbüheler Rathaus die schwarz-rot-goldene Fahne geweht haben. Wie ein Zeitzeuge berichtete, wurde sie bis ins Jahr 1933 bei besonderen Anlässen gehisst.5
Die Kirche beobachtete die Verbreitung des bürgerlich-liberalen Gedankenguts mit erheblichem Unbehagen und versuchte nicht nur von der Kanzel aus gegenzusteuern. Auch in Kitzbühel wurde ein konsequent monarchistisch orientierter Meisterverein gegründet, um einem Abdriften der Handwerker ins „freiheitliche“ oder gar ins sozialdemokratische Lager entgegenzuwirken. Bei den von jeher eher links eingestellten Bergleuten war da so oder so Hopfen und Malz verloren. Denn die dachten und wählten aus tiefster Überzeugung sozialdemokratisch.
Franz Reisch war Peter Aufschnaiters Förderer und väterlicher Freund.
Obwohl auch Franz Reisch – wie die meisten studierten Herren beim Tscholl – aus seiner Sympathie für die „freiheitlich“-großdeutsche Sache keinen Hehl machte, war er kein Freund des Lagerdenkens, sondern suchte den Ausgleich zwischen den Parteien. Reisch war als Handelsvertreter und Reisender schon weit in der Welt herumgekommen und ein hervorragender Unterhalter. Wenn er von seinen Erlebnissen erzählte, hingen die Zuhörer an seinen Lippen. Bald engagierte sich Franz Reisch auch im örtlichen Männergesangsverein und bei den Turnern. Sein Frohsinn war ansteckend und die Kameraden hatten viel Spaß an seinen ungewöhnlichen Einfällen, mit denen er die Vereinsveranstaltungen würzte. Um es kurz zu machen: Ursprünglich hatte Franz Reisch nur so lange in Kitzbühel bleiben wollen, bis er einen qualifizierten Geschäftsführer für den örtlichen Filialbetrieb seiner Familie gefunden hatte. Aber es gefiel ihm so gut in Kitzbühel, dass der junge Kaufmann beschloss, das Städtchen zum dauerhaften Lebensmittelpunkt zu machen.
Als sich Franz Reisch im Januar 1893 zwei lange Bretter, die vorn in hochgezogenen Spitzen ausliefen, unter die Stiefel schnallte, um mit ihnen über verschneite Hänge zu Tal zu rutschen, dachten die meisten Einheimischen, der wunderliche Neubürger sei endgültig übergeschnappt. Dabei hatte Reisch nur den damaligen Bestseller Auf Schneeschuhen durch Grönland des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen gelesen, in dem sich der Autor begeistert über den Skisport äußerte. Kurz entschlossen hatte sich Reisch aus Skandinavien ein Paar Ski besorgt und begann nun, sie zu erproben. Nicht als reines Transportmittel wie die Schneereifen, sondern als spaßorientiertes Sportgerät! Bald bot Reisch das Laufen in der Ebene und auf den kleineren Hügeln zu wenig Abwechslung, sodass er immer weiter in die Bergregion vordrang. Schnell lernte er, bergauf und bergab recht steile Hänge zu überwinden, und beschloss im März des Jahres, dem 1998 Meter hohen Gipfel des Kitzbüheler Horns mit Ski einen Besuch abzustatten. Am besten, wir lassen Franz Reisch selbst berichten, wie er wieder hinunterkam: „Die Abfahrt nun war grandios zu nennen. Die bergauf eine Stunde lange Strecke Horngipfel–Trattalpe fuhr ich in rasendem Saus in drei Minuten, sodass ich noch ein gutes Stück den Hügel oberhalb der Alpe hinauffuhr. Dieser herrliche, alle Kräfte anspornende Genuss ist nun der schwierige Punkt der Skiverwendung im Hochgebirge.“ Es war die erste hochalpine Skiabfahrt in Österreich, die Franz Reisch hier beschrieb.6
Reisch fiel es nicht schwer, andere für sein neues Hobby zu begeistern. Zusammen mit einigen Kitzbüheler Bürgersöhnen gründete er die Skiriege des örtlichen Turnvereins. Ihnen war vor allem daran gelegen, ihre Fahrtechnik unter der Anleitung von Reisch zu perfektionieren. Damit war Franz Reisch auch der erste Kitzbüheler Skilehrer. Bald zeigten einige englische Gäste, die bisher nur Schlittschuh gelaufen waren und Schlittenpartien unternommen hatten, ebenfalls lebhaftes Interesse für den weißen Sport. So begann die von Reisch ausgebildete Truppe gut geschulter Skiläufer gegen Mitte der 1890er Jahre ihr Können an die englischen Gäste auf Schloss Lebenberg weiterzugeben, der ersten Winterpension in Kitzbühel.
Trotz seiner Wehmut wegen des beginnenden Massenandrangs, erkannte Reisch schnell das ungeheure Potenzial des Skisports für die Entwicklung des Tourismus in seiner neuen Heimat. War bislang das klimatisch begünstigte Südtirol in der kalten Jahreszeit von den Touristen bevorzugt worden, so bot der Wintersport die Möglichkeit, deren Interesse auf den schneereichen Norden des Landes zu lenken! Reisch machte sich daran, das sterbende Bergbaustädtchen in einen blühenden Fremdenverkehrsort zu verwandeln.
Der Jungunternehmer wusste nur zu gut, dass die Naturschönheiten, die Kitzbühel zweifellos zu bieten hatte, den Ansprüchen der gehobenen Gesellschaft nicht genügten. Um zum Treffpunkt der Reichen und Schönen zu werden, musste die Stadt auch Komfort bieten und über ein hochklassiges Image verfügen. Also exzellentes Catering, stilvolle Hotels mit ansprechenden Zimmern und Suiten und geräumigen Speisesälen. Dazu geschmackvolle Unterhaltungsmöglichkeiten, Kulturangebote und gepflegte Parkanlagen.
Ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung dieser Zielvorstellung war die Gründung des Hotelbau-Vereins durch Franz Reisch, unterstützt durch seinen Freund Josef Herold und den „freiheitlichen“ Innsbrucker Politiker und Handelskammersekretär Anton Kofler. Im Rahmen einer Vollversammlung dieses Vereins am 9. März 1902, an der rund sechzig Mitglieder aus Kitzbühel und Umgebung teilnahmen, wurde der Plan für ein neues großes Hotel vorgestellt. Der Bericht im Kitzbüheler Bezirksboten endet mit einem besonderen Lob: „Herrn Reisch gebührt für seine außerordentliche Bemühung und verständige Thätigkeit, den Bau eines Hotels ins Werk zu setzen, die größte Anerkennung, die auszudrücken wir auf diesem Wege uns berufen fühlen.“7
Entgegen den Erwartungen, war das 1903 eröffnete Hotel Kitzbühel nicht gleich ein großer Erfolg, weil es zunächst nur für den Sommer ausgestattet war – ein schwerer Fehler. 1906 erfolgte der Ausbau für den Winterbetrieb und in der Folge die Umbenennung in Grandhotel. Damit begann der Aufstieg des Hauses, der sich 1911 mit dem Umbau zum Hotel mit 150 Zimmern konsolidierte.8 Für Kitzbühel markiert das Grandhotel den Einstieg in den überregional bedeutenden Wintersport. Von 1902 hatte der Fremdenverkehrsort eine rege Bautätigkeit verzeichnet: Nicht weniger als elf neue Häuser waren zusammen mit dem imposanten Hotelbau entstanden, darunter mehrere Restaurants und nicht zuletzt auch das bis zum heutigen Tag beliebte Kaffeehaus Reisch.
Ins Jahr 1902 fiel auch die Gründung der – ebenfalls von Reisch initiierten – „Wintersportvereinigung Kitzbühel“. Bereits seit 1895 hatten in Kitzbühel regelmäßig Skirennen stattgefunden, bald auch mit ausländischer Beteiligung. Der Verein sollte nicht nur den Skisport fördern, sondern sich auch um das Rodeln, die Durchführung von Trabschlittenrennen und die Anlage eines Eislaufplatzes kümmern. Um den Wintersport zu einem tragfähigen Faktor des Tourismus zu machen, startete der umtriebige Fremdenverkehrsmanager um diese Zeit eine aufwändige PR-Kampagne.
Kein Wunder, dass Franz Reisch, der Geist und Motor hinter dieser stürmischen Entwicklung, im Jahr 1903 zum Bürgermeister von Kitzbühel gewählt wurde! Gleich vom Beginn seiner Amtszeit an wurde der Bau einer neuen Volksschule zu einem seiner wichtigsten Vorhaben. Als Kind hatte Reisch in Kufstein die stark von dem fortschrittlichen Dekan Matthias Hörfarter geprägte Volksschule besucht, in der auch Geografie und Biologie gelehrt wurden, was im Tirol der 1870er Jahre eher eine Ausnahme war. In Kitzbühel traf der in dieser modernen Schulatmosphäre aufgewachsene Bürgermeister auf den für neue Ideen aufgeschlossenen Schulmann Franz Walde. Dieser hatte schon seit Jahren vergeblich für den Ausbau des äußerst beengten Schulhauses in der Kirchgasse plädiert. Reisch jedoch, von Kufstein her ideale Schulverhältnisse gewöhnt, konnte den Gemeinderat davon überzeugen, gleich Nägel mit Köpfen zu machen und vor den Toren der Stadt im „Krautviertel“ einen großzügigen Neubau zu erstellen. Der 1905 begonnene und ein Jahr später eingeweihte Schulbau orientierte sich stilistisch an den urbanen Vorbildern der Gründerzeit: Weite Gänge, großzügige Treppen und hohe, lichtdurchflutete Klassenräume machen die Schule noch heute zu einem einladenden Lernort. Das Äußere des Gebäudes entsprach dem historischen Geschmack der Gründerzeit und integriert gelungen klassizistische Elemente mit Zitaten aus der mittelalterlichen Architektur.9
In Aufschnaiters Jugend war Kitzbühel eine verarmte Bergarbeiterstadt.
Zu den ersten Schülern, die in der neuen Lehranstalt unterrichtet wurden, zählte der damals siebenjährige Ernst Reisch, der älteste Sohn des Bürgermeisters, der am 7. April 1896 die Tochter des Gastwirtes in der Hinterstadt, Maria Tscholl, geheiratet hatte. Ein Klassenfoto aus dem Jahr 1908 zeigt den am 4. März 1899 geborenen Ernst neben seinem besten Freund, dem damals neunjährigen Peter Aufschnaiter10, dessen Vater im Gewerbegebiet unfern des Krautviertels als Tischlermeister eine Werkstatt betrieb. Vater Peter Aufschnaiter stammte aus dem Dorf Aurach und hatte seinen Lebensmittelpunkt aus beruflichen Gründen nach Kitzbühel verlegt. Hier bezog er mit seiner Frau Katharina, geborene Seiwald – der Tochter des Bärenwirts von St. Johann – im zweiten Stock des Ganzerhauses in der Vorderstadt eine enge Wohnung. Durch die in dicke Mauern gesetzten kleinen Fenster drang nur wenig Licht. Hier brachte Frau Katharina Aufschnaiter am 2. November 1899 ihren ersten und einzigen Sohn zur Welt, der am folgenden Tag auf den Namen Petrus getauft wurde.11 Später nahm die Familie noch die verwaiste Maria Stranitzer auf, die vom kleinen Peter innig geliebte Ziehschwester.
Da die Familie Reisch schräg gegenüber von den Aufschnaiters in derselben Straße wohnte, ist davon auszugehen, dass sich Ernst und Peter bereits als Buben kennengelernt und angefreundet hatten. Die beiden Väter kannten sich von der Kitzbüheler Feuerwehr her, der Reisch eine Zeitlang als Hauptmann vorgestanden hatte.12 Schon früh dürfte der natur- und sportbegeisterte Franz Reisch den bewegungsfreudigen und phantasiebegabten Buben die heimische Bergwelt gezeigt haben, im Sommer wandernd und zur Winterzeit auf seinen geliebten Skiern: Der Skipionier berichtete explizit, dass er „mit kleinen Buben über steile Lehnen bergab fuhr“.13 Ein Zeitzeuge schildert, wie sehr sich Reisch für den skilaufenden Nachwuchs einsetzte: „Wie oft sind wir mit Vater Reisch zur ersten Kitzbüheler Skisprungschanze gewandert, haben gemeinsam mit ihm Schnee geschaufelt, den Hang getreten – wenn kein anderer Zeit und Lust hatte, den eifrigen jungen Springern zu helfen, sicher war Vater Reisch da mit seiner Bubenschar und blieb stundenlang an der Schanze, Schaufel oder Rechen in der Hand, bis der letzte Sprung vollendet war.“14
Franz Reisch dürfte auch dafür gesorgt haben, dass die Buben schon frühzeitig in den Kitzbüheler Turnverein eintraten, den er vom Beginn seines Aufenthaltes in Kitzbühel an stark gefördert hatte. Diesen Verein hatte der damalige Bürgermeister Josef Pirchl im Jahr 1870 gegründet. Obwohl Franz Reisch und sein Freund Josef Herold, der jahrzehntelang das Amt des Turnwartes innehatte, eigentlich alle Bevölkerungsschichten einbinden wollten, trat der Kitzbüheler Turnverein um 1890 dem Tiroler Turngau bei und zählte von diesem Zeitpunkt an zu den völkischen Vereinen. Die politische Ausrichtung war nicht nur dezidiert antisemitisch, sondern auch stramm großdeutsch.
So endete 1899 eine gemeinsame Turnfahrt mit dem Kufsteiner Verein nach Kiefersfelden mit einem klaren Bekenntnis zur großdeutschen Einheit: „Noch ein Mal klang stark und mächtig das Bismarck-Lied als Zeichen treuer deutscher Zusammengehörigkeit durch die Hallen des Bahnhofs und mit kräftigem Heil-Ruf und deutschem Handschlag verabschiedete man sich mit der Hoffnung, bald wieder in fröhlicher Gemeinschaft etliche Stunden verbringen zu können.“15 Die im erwähnten Bismarcklied enthaltene politische Positionierung ist unzweideutig:
Nun steige der Begeistrung Flamme
Helllodernd auf in unserem Sang:
Dem Manne gilt’s von deutschem Stamme,
Dem Helden, der den Drachen zwang.
Der an des Rheines Rebenborden
Gepflanzt des Reiches mächtgen Baum,
Dem Mann, durch den zur Wahrheit worden
Der Väter sehnsuchtsvoller Traum.
[ ]
So lasst uns denn den Namen nennen
Des Meisters, der das Reich gebaut.
Wem Lieb und Treu im Herzen brennen,
dem ist’s ein freudenvoller Laut.
Hinbrause es wie Sturm und Wetter
Vom Alpenschnee bis an den Belt:
Heil dir, des Vaterlandes Retter,
Heil Bismarck, dir, du deutscher Held!16
An der Wiener Hofburg wären wohl weder diese Töne noch der flammende Bericht im Kitzbüheler Bezirks-Boten mit übermäßiger Begeisterung aufgenommen worden.
Im frisch-fromm-fröhlich-freien Jugendturnen, in dem sich Peter Aufschnaiter von klein an auszeichnete – er hatte die Note 1 im Turnunterricht quasi gepachtet – ging es klarerweise hauptsächlich um die Entwicklung von Bewegungsfreude und Gewandtheit, aber die ideologische Begleitmusik dürfte dennoch mehr oder weniger subtil ihre Wirkung getan haben.
Ihre Schulzeugnisse weisen Peter Aufschnaiter und Ernst Reisch von der ersten Klasse an als Musterschüler aus. Im ersten Schuljahr (1905/06) enthält das Zeugnis von Aufschnaiter sieben Mal die Note 1 und nur einen Zweier.17 Im folgenden Schuljahr ist auch dieser „Makel“ getilgt.18 Der ab Klasse drei gültige Fächerkanon belegt die Aufgeschlossenheit der für das Curriculum Verantwortlichen für die Erfordernisse dieser durch eine rasante wirtschaftliche Entwicklung in Österreich und Deutschland gekennzeichneten Epoche: Religion, Lesen, Schreiben, Unterrichtssprache (Sprachlehre, Rechtschreiben, Aufsatz), Rechnen in Verbindung mit geometrischer Formenlehre, Naturgeschichte und Naturlehre, Geografie und Geschichte, Zeichnen, Gesang, Turnen und – für die Mädchen – weibliche Handarbeiten.19
Wir können davon ausgehen, dass Ernst Reisch und Peter Aufschnaiter nach Erledigung ihrer Schulaufgaben das ganze Jahr über noch viel Zeit blieb, das Tal der Kitzbüheler Ache sowie die umliegenden Berge zu erkunden. Ihre Jugend dürfte sich in den großen Zügen kaum von jenen Jahren unterschieden haben, die Herbert Rosendorfer in seinem autobiographischen Text Kindheit in Kitzbühel so anschaulich beschrieben hat: „[…] tiefe, stille, schneeverborgene, heimelige Winter, […] heiße, blaue, über glitzernde Moore und hohe Nadelwälder äthersummende Sommer und […] unbeschreiblichen, in seinen Farben so erlesenen, von Heuduft durchwehten Herbst, voll flimmernder, flammenfarbener Birken im goldenen Riedgras der hohen Moore habe ich dort gelebt. […] Obwohl es sicher viel Regen und Sturm gegeben hat, zeigen sich diese Jahre wie eine Kette von goldenen, sonnenüberstrahlten Tagen, ohne Anfang und ohne Ende, ohne Angst und ohne Sorgen: meine Jugend“.20
Franz Reisch sorgte dafür, dass Peter Aufschnaiter im Jahr 1911 nach der Volksschule an das Reform-Realgymnasium Kufstein wechseln konnte.21 Mit seinem Freund Ernst zusammen bezog er Quartier in der Maderspergerstraße Nr. 4 bei der Witwe Rosina Zanier, die eng mit der Familie Reisch befreundet war. Sie lebte in einem repräsentativen Bürgerhaus im „besseren“ Viertel der Stadt, auf der schmalen Ebene zwischen der Festung und den steil aufstrebenden Waldhängen des Kaisergebirges.
Die in ihn gesetzten schulischen Erwartungen erfüllte der junge Aufschnaiter voll und ganz. Hier die Noten des Schuljahres 1915/16: Religionslehre: sehr gut, Lateinische Sprache: sehr gut, Italienische Sprache: sehr gut, Geschichte und Geografie: sehr gut, Mathematik: gut, Naturgeschichte und allgemeine Erdkunde: gut, Darstellende Geometrie: gut, Freihandzeichnen: sehr gut, Gesang: sehr gut, Stenographie: sehr gut.22
In seinem zwölften Lebensjahr nahm Peter Aufschnaiter an einem Ausflug des Männergesangsvereins Kitzbühel teil, links im Bild sein Vater.
In den ersten Jahren am Kufsteiner Reform-Realgymnasium las Peter Aufschnaiter das dreibändige Werk Transhimalaja des schwedischen Forschungsreisenden Sven Hedin.23 Diese Lektüre scheint den Lebensweg des Gymnasiasten nachhaltig beeinflusst zu haben. In den Jahren 1905 bis 1908 hatte Sven Hedin die Wüsten Persiens, das westliche Hochland Tibets und den Transhimalaya erforscht, der danach vorübergehend Hedin-Gebirge genannt wurde. Der Forscher besuchte den 9. Panchen Lama in der Klosterstadt Trashi Lhünpo in Shigatse. Als erster Europäer drang Sven Hedin in die Kailash-Region vor. Er „entdeckte“ den heiligen Manasarovar-See und den noch heiligeren Berg Kailash, der gemäß der buddhistischen und hinduistischen Mythologie als Mittelpunkt der Welt gilt. Wichtigstes Ergebnis der Expedition war jedoch die Auffindung der Quellen des Indus und des Brahmaputra. Von Indien aus kehrte Hedin mit dem Schiff über Japan nach Stockholm zurück, wo ihm ein triumphaler Empfang bereitet wurde.24 In seinem lebendig geschriebenen Bericht über diese Forschungsreise schildert Hedin nicht nur anschaulich die durchmessenen Landschaften, sondern gewährt auch Einblick in die Sitten und Gebräuche der Einheimischen, wobei der Faktor Spannung nicht zu kurz kommt. Dass der prominente Autor gewandt mit Tuschfeder und Zeichenstift umgehen konnte und auch den Fotoapparat professionell handhabte, wird dem scharfsinnigen Tiroler Gymnasiasten kaum entgangen sein. Und dass Sven Hedin die Sprachen Latein, Französisch, Deutsch, Persisch, Russisch, Englisch und Tatarisch, Türkisch, Kirgisisch, Mongolisch, Tibetisch sowie einige persische Dialekte beherrschte und auch auf Chinesisch kommunizieren konnte25, dürfte den ausgesprochen sprachtalentierten Tischlersohn nicht nur beeindruckt, sondern auch angespornt haben, es seinem bewunderten Vorbild möglichst gleichzutun.